Ein folgenreicher Irrtum der Literaturkritik liegt in der Annahme, dass dystopische Literatur gewisse Gegenwartstendenzen aus Politik und Gesellschaft aufnähme, um daraus dann eine ›plausible‹ zukünftige Entwicklung zu deduzieren. In anderen Worten lautet die Annahme: Eine Dystopie beschreibt die Gesellschaft, in der wir in ein paar Jahren leben werden. Mit Anthony Burgess ist ein Autor, der den dystopischen Roman geprägt hat wie sonst wohl nur noch Orwell, Huxley und Bradbury, alles andere als unschuldig an diesem Irrtum.
In seinem Roman 1985, der zugleich Kritik und Remix von George Orwells Nineteen Eighty-Four ist, behauptet Burgess nämlich eben dieses: Orwell beschreibe unsere Welt, wenige Jahrzehnte in der Zukunft, als vollkommen vom Stalinismus beherrscht. Das sei aber niemals auch nur eine wahrscheinliche Entwicklung gewesen, belehrt uns Burgess, vielmehr sei Orwell 1948 (sic!), als er den Roman schrieb, auf prägende Gegenwartserfahrungen hereingefallen. Burgess kommt dabei gar nicht auf die Idee, Orwell könne bewusst einen Kommentar zu seiner Gegenwart abgegeben haben — der dann von seinen Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg stark beeinflusst wäre: Orwell kämpfte im Bürgerkrieg bekanntlich auf Seiten der unorthodox-marxistischen Partido Obrero de Unificación Marxista (POUM) und erlebte hautnah, wie moskauhörige Stalinisten die linke, republikanische Front von hinten aufrollten.* Meine These daher: Orwell wollte nicht über die Zukunft nachsinnen, sondern vor allem vor der stalinistischen Gefahr (die gerade für die Linke eine solche ist) warnen, deren Totalitarismus er am eigenen Leib erlebt hatte. Und gerade auf diese Weise, als literarische Schilderung einer stets gegenwärtigen Möglichkeit dystopischen Unheils, behält Nineteen Eighty-Four seine Authentizität und Aktualität.
Ganz anders Anthony Burgess, der in 1985 unter anderem ein — in seinen Augen — wahrscheinliches Zukunftsszenario präsentiert, welches etwa folgendermaßen aussieht: Mitte der 1980er Jahre wird Großbritannien nahezu uneingeschränkt von den Gewerkschaften beherrscht. Wer nicht in der Gewerkschaft ist, bekommt keine Arbeit. Wer die Gewerkschaft kritisiert, wird in eine Kombination aus Irrenhaus und ideologisches Umerziehungslager gesteckt. Die Frau des Protagonisten starb, weil das Krankenhaus, in dem sie behandelt wurde, an dem Tag in Flammen aufging, als die Feuerwehrgewerkschaft zum Streik aufgerufen hatte. Unter der Oberfläche dieser schönen neuen Gewerkschaftswelt — wie sollte es auch anders sein, wenn die Roten an der Macht sind — breitet sich allgemeine Unmoral aus: Die Tochter des Protagonisten ist geistig behindert, Opfer von Medikamenten eines skrupellosen Pharmakonzerns, die ihre Mutter während der Schwangerschaft eingenommen hatte.** Im Fernsehen laufen ständig Bumsfilme. Es gibt eine Widerstandsbewegung gegen die Gewerkschaften, aber deren Ziele sind alles andere als lauter.
Die andere große ›Gefahr‹, die Burgess heraufziehen sah beziehungsweise in 1985 beschwört, ist die Islamisierung Europas. In seinem Roman tritt sie nicht wie heute als al-Kaida-Phantom auf, sondern zeitgeisty in Gestalt schwerreicher, lüsterner Ölscheichs, die hinter minderjährigen europäischen Mädchen her sind und systematisch die britische Politik und Wirtschaft unterwandern. Geht’s noch abgedroschener? 1985 hat sicherlich eine gute Chance, verspätet zum Kultbuch aufzusteigen, wenn es den Prediger_innen der faschistoiden, unverhüllt rassistischen ›Islamkritik‹ in die Hände fallen sollte. Literatur, die zeitübergeifend etwas zu sagen hat, liest sich jedoch anders. Unschwer zu erkennen ist, dass die 1973er Ölkrise und die große Streikwelle im Winter 1978—79 in Burgess’ Heimatland Großbritannien (der sogenannte Winter of Discontent) den historischen Hintergrund für den Roman darstellen. Er greift Ereignisse auf, die sich nur wenige Jahrzehnte später so ausmachen, als hätten sie in einer anderen Welt stattgefunden — oder fürchtet sich heute, nach 30 Jahren neoliberaler Eiszeit, noch irgendjemand vor Ölscheichs und Gewerkschaften? Einzig das Islam-Bashing, welches heute (allerdings in transformierter Gestalt) eine Blütezeit erlebt, stellt einen Bezug zu unserer Gegenwart her. Kurzum, Burgess’ Versuch, eine zeitgeschichtlich plausible Dystopie aus Gegenwartsereignissen zu extrapolieren, zeigt mit seinem Scheitern eindrucksvoll das »Quäntchen Wahn«, das in einem solchen Unternehmen wohl stecken muss.
Neben einem belletristisch-laborliterarischem besteht 1985 übrigens auch noch aus einem essayistischen Teil, in dem Burgess Interviews mit sich selbst führt, sich über dystopische Literatur (vor allem Samjatin, Huxley, Orwell — der interessanteste Teil des gesamten Buches!) Gedanken macht, ausführlich auch auf seinen eigenen Klassiker Clockwork Orange eingeht, und ansonsten düstere Andeutungen über die Zukunft des Abendlandes murmelt. Insgesamt zeigt sich, wie tief der Autor, der solche herausragenden Romane wie Clockwork Orange und A Tremor of Intent verfasst hat, mit seinem Spätwerk gesunken ist. 1985 liest sich heute als Dokument eines kleinmütigen und vulgären Konservativismus, der zwar weiterhin besteht, sich aber längst anderen Feindbildern und Ressentiments zugewandt hat.
1985 erschien 1982 bei Heyne. Gerade noch rechtzeitig also, um nicht beim Erscheinen schon vergreist zu sein. Die Übersetzung besorgte Walter Brumm.
* Orwell verfasste darüber den autobiografischen Bericht Homage to Catalonia (Mein Katalonien). Ken Loach drehte dazu den wunderschönen Film Land and Freedom.
** Lässt sich als Anspielung auf den Contergan-Skandal verstehen.