Mittwoch, 30. Juni 2010

1985

Ein folgenreicher Irrtum der Literaturkritik liegt in der Annahme, dass dystopische Literatur gewisse Gegenwartstendenzen aus Politik und Gesellschaft aufnähme, um daraus dann eine ›plausible‹ zukünftige Entwicklung zu deduzieren. In anderen Worten lautet die Annahme: Eine Dystopie beschreibt die Gesellschaft, in der wir in ein paar Jahren leben werden. Mit Anthony Burgess ist ein Autor, der den dystopischen Roman geprägt hat wie sonst wohl nur noch Orwell, Huxley und Bradbury, alles andere als unschuldig an diesem Irrtum.

In seinem Roman 1985, der zugleich Kritik und Remix von George Orwells Nineteen Eighty-Four ist, behauptet Burgess nämlich eben dieses: Orwell beschreibe unsere Welt, wenige Jahrzehnte in der Zukunft, als vollkommen vom Stalinismus beherrscht. Das sei aber niemals auch nur eine wahrscheinliche Entwicklung gewesen, belehrt uns Burgess, vielmehr sei Orwell 1948 (sic!), als er den Roman schrieb, auf prägende Gegenwartserfahrungen hereingefallen. Burgess kommt dabei gar nicht auf die Idee, Orwell könne bewusst einen Kommentar zu seiner Gegenwart abgegeben haben — der dann von seinen Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg stark beeinflusst wäre: Orwell kämpfte im Bürgerkrieg bekanntlich auf Seiten der unorthodox-marxistischen Partido Obrero de Unificación Marxista (POUM) und erlebte hautnah, wie moskauhörige Stalinisten die linke, republikanische Front von hinten aufrollten.* Meine These daher: Orwell wollte nicht über die Zukunft nachsinnen, sondern vor allem vor der stalinistischen Gefahr (die gerade für die Linke eine solche ist) warnen, deren Totalitarismus er am eigenen Leib erlebt hatte. Und gerade auf diese Weise, als literarische Schilderung einer stets gegenwärtigen Möglichkeit dystopischen Unheils, behält Nineteen Eighty-Four seine Authentizität und Aktualität.

Ganz anders Anthony Burgess, der in 1985 unter anderem ein — in seinen Augen — wahrscheinliches Zukunftsszenario präsentiert, welches etwa folgendermaßen aussieht: Mitte der 1980er Jahre wird Großbritannien nahezu uneingeschränkt von den Gewerkschaften beherrscht. Wer nicht in der Gewerkschaft ist, bekommt keine Arbeit. Wer die Gewerkschaft kritisiert, wird in eine Kombination aus Irrenhaus und ideologisches Umerziehungslager gesteckt. Die Frau des Protagonisten starb, weil das Krankenhaus, in dem sie behandelt wurde, an dem Tag in Flammen aufging, als die Feuerwehrgewerkschaft zum Streik aufgerufen hatte. Unter der Oberfläche dieser schönen neuen Gewerkschaftswelt — wie sollte es auch anders sein, wenn die Roten an der Macht sind — breitet sich allgemeine Unmoral aus: Die Tochter des Protagonisten ist geistig behindert, Opfer von Medikamenten eines skrupellosen Pharmakonzerns, die ihre Mutter während der Schwangerschaft eingenommen hatte.** Im Fernsehen laufen ständig Bumsfilme. Es gibt eine Widerstandsbewegung gegen die Gewerkschaften, aber deren Ziele sind alles andere als lauter.

Die andere große ›Gefahr‹, die Burgess heraufziehen sah beziehungsweise in 1985 beschwört, ist die Islamisierung Europas. In seinem Roman tritt sie nicht wie heute als al-Kaida-Phantom auf, sondern zeitgeisty in Gestalt schwerreicher, lüsterner Ölscheichs, die hinter minderjährigen europäischen Mädchen her sind und systematisch die britische Politik und Wirtschaft unterwandern. Geht’s noch abgedroschener? 1985 hat sicherlich eine gute Chance, verspätet zum Kultbuch aufzusteigen, wenn es den Prediger_innen der faschistoiden, unverhüllt rassistischen ›Islamkritik‹ in die Hände fallen sollte. Literatur, die zeitübergeifend etwas zu sagen hat, liest sich jedoch anders. Unschwer zu erkennen ist, dass die 1973er Ölkrise und die große Streikwelle im Winter 1978—79 in Burgess’ Heimatland Großbritannien (der sogenannte Winter of Discontent) den historischen Hintergrund für den Roman darstellen. Er greift Ereignisse auf, die sich nur wenige Jahrzehnte später so ausmachen, als hätten sie in einer anderen Welt stattgefunden — oder fürchtet sich heute, nach 30 Jahren neoliberaler Eiszeit, noch irgendjemand vor Ölscheichs und Gewerkschaften? Einzig das Islam-Bashing, welches heute (allerdings in transformierter Gestalt) eine Blütezeit erlebt, stellt einen Bezug zu unserer Gegenwart her. Kurzum, Burgess’ Versuch, eine zeitgeschichtlich plausible Dystopie aus Gegenwartsereignissen zu extrapolieren, zeigt mit seinem Scheitern eindrucksvoll das »Quäntchen Wahn«, das in einem solchen Unternehmen wohl stecken muss.

Neben einem belletristisch-laborliterarischem besteht 1985 übrigens auch noch aus einem essayistischen Teil, in dem Burgess Interviews mit sich selbst führt, sich über dystopische Literatur (vor allem Samjatin, Huxley, Orwell — der interessanteste Teil des gesamten Buches!) Gedanken macht, ausführlich auch auf seinen eigenen Klassiker Clockwork Orange eingeht, und ansonsten düstere Andeutungen über die Zukunft des Abendlandes murmelt. Insgesamt zeigt sich, wie tief der Autor, der solche herausragenden Romane wie Clockwork Orange und A Tremor of Intent verfasst hat, mit seinem Spätwerk gesunken ist. 1985 liest sich heute als Dokument eines kleinmütigen und vulgären Konservativismus, der zwar weiterhin besteht, sich aber längst anderen Feindbildern und Ressentiments zugewandt hat.

1985 erschien 1982 bei Heyne. Gerade noch rechtzeitig also, um nicht beim Erscheinen schon vergreist zu sein. Die Übersetzung besorgte Walter Brumm.

* Orwell verfasste darüber den autobiografischen Bericht Homage to Catalonia (Mein Katalonien). Ken Loach drehte dazu den wunderschönen Film Land and Freedom.
** Lässt sich als Anspielung auf den Contergan-Skandal verstehen.

Glennkill

Leonie Swanns Glennkill ist — für mich angenehm überraschend — keines jener Bücher, die auf einer putzigen Idee beruhen und ansonsten ohne jeden literarischen Wert sind. Im Gegenteil. Es ist spannend, intelligent und hat vor allem, was bei deutschen Autor_innen meist fehlt, viel Witz. Beim nächtlichen Lesen musste ich sogar so sehr lachen, dass meine Freundin neben mir im Schlaf verärgert zu brummeln begann. Schön sparsame und daher wirkungsvolle Anspielungen auf die Geschichte der phantastischen Literatur, die in Handlung und Setting eingeflochten sind, machen sich zudem sehr nett für nerdige Leser_innen aus.*

Mittlerweile gibt es bekanntlich Katzenkrimis (Akif Pirinçci, Rita Mae Brown), Schweinekrimis (Arne Blum) und mit Glennkill eben einen Schafskrimi. Gehütete Schafe, das entnehme ich jedenfalls dem Roman, kommen nicht eben weit rum (es sei denn, sie werden auf eine andere Weide getrieben). Das macht dem Buch aber gar nix, denn es ist ein Whodunit. Klassische Whodunits spielen ja in der Regel in abgelegenen Landsitzen, in Clubhäusern oder auf Kreuzfahrtschiffen und haben daher auch keine besonders große Variationsbreite, was Schauplätze angeht. In Glennkill funktioniert's jedenfalls gut, dass sich die Handlung nahezu ausschließlich auf einer steilklippigen Schafsweide bei dem irischen Dörfchen gleichen Namens abspielt. Und wie fast jeder gute Whodunit-Krimi ist Glennkill im Grunde eine Gothic Novel, mit viel Nebel, Familiengeschichten, Skeletten im Schrank und verborgenem Leid, das zu Tage kommen will.

Alles in allem eine schöne Überraschung also, dieser Roman, wenn auch keine, die ich wiederholt lesen würde. Aber das ist bei Krimis in der Regel ja auch nicht so angelegt. Übrigens ist vor wenigen Wochen erst mit Garou der Nachfolger von Glennkill erschienen, diesmal per Untertitel als ›Schaf-Thriller‹ gekennzeichnet. Anscheinend hat sich die Autorin Zeit damit gelassen, was für mich ein gutes Zeichen ist.

Glennkill. Ein Schafskrimi (376 Seiten) ist 2005 bei Goldmann erschienen.

* Keine Angst, Glennkill ist nicht Christoph Marzis Lycidas!

Amery, Böll und die Gründung der Grünen

In unregelmäßigen Abständen stößt man im Internet auf Perlen des Humors. Kürzlich bin ich dem nachgestöbert, was die englische Wikipedia über Carl Amery* schreibt, und dabei auf folgende Perle gestoßen (bekanntlich war Amery Gründungsmitglied der Grünen):
The idea [to found Die Grünen] came from Heinrich Boell, when he realized that the Left wing needed a new face and packaging, after he read Alexander Solzhenitsyn's Gulag Archipelago, which revealed the cruelty of Socialism, behind the Iron Curtain. He took the Communist Manifesto and replaced the working class with the environment, the red flag with a green one and changed the name to the Green Movement.**
Könnte fast eine Satire sein, die Amery sich über seinen Schriftstellerfreund Böll ausgedacht hat. Mögen die beiden sich im bildungskatholisch-barocken Bücherhimmel, in dem sie sich jetzt befinden, über diese befremdliche Form ihres Nachlebens amüsieren.

* Nicht viel, aber immerhin gibt es einen Artikel über Amerys mich immer wieder entzückenden ersten Alternativgeschichtsroman Das Königsprojekt.
** Abgerufen am 27. Juni 2010.

Samstag, 26. Juni 2010

Elfen und Prinzessinnen

Der hinlänglich bekannte Eskapismus, wie er in Fantasy-Zirkeln gepflegt wird, nimmt immer obskurantistischere Züge an: Jetzt diskutieren die schon über Genitalverstümmelung, Rassismus, afroamerikanische Identität und die vermeintliche Stabilität von Kultur. Nachzulesen hier und hier. N.K. Jemisin hat sich ebenfalls dazu geäußert.

Jemisins Inheritance Trilogy wirkt übrigens gerade sehr verführerisch leseappetitanregend.

Donnerstag, 17. Juni 2010

Ein Anfang

Den wundervollsten Story-Anfang aller Zeiten hat bekanntlich Thomas Mann geschrieben:
Seltsame Orte gibt es, seltsame Gehirne, seltsame Regionen des Geistes, hoch und ärmlich. An den Peripherien der Großstädte, dort, wo die Laternen spärlicher werden und die Gendarmen zu zweien gehen, muß man in den Häusern emporsteigen, bis es nicht weitergeht, bis in schräge Dachkammern, wo junge, bleiche Genies, Verbrecher des Traumes, mit verschränkten Armen vor sich hinbrüten, bis in billig und bedeutungsvoll geschmückte Ateliers, wo einsame, empörte und von innen verzehrte Künstler, hungrig und stolz, im Zigarettenqualm mit letzten und wüsten Idealen ringen. Hier ist das Ende, das Eis, die Reinheit und das Nichts. Hier gilt kein Vertrag, kein Zugeständnis, keine Nachsicht, kein Maß und kein Wert. Hier ist die Luft so dünn und keusch, daß die Miasmen des Lebens nicht mehr gedeihen. Hier herrscht der Trotz, die äußerste Konsequenz, das verzweifelt thronende Ich, die Freiheit, der Wahnsinn und der Tod.
Es handelt sich um die ersten Zeilen von »Beim Propheten«. Lesen!

Mittwoch, 16. Juni 2010

The World Cup of Fiction is on

Initiated not by the moguls of FIFA (you already may have noticed that this World Cup goes without ™), but by Jeff VanderMeer himself, who in his flaming passion for literature and fiction has called for the best, the weirdest, the most imaginative and whimsical writers of this world to be nominated by us, the equally passionate readers and bloggers, and to be set against each other in a unique tournament of quill and ink (or tournament of typewriters, if you prefer) — the amazing First World Cup of Fiction!

Given my lack of knowledge about the tradition of fiction-writing (partly due to simple ignorance, partly to my illiteracy in the respective languages) in some of the participating countries, I will thoughtfully restrain myself to nominate some players that I regard as especially promising for this competition.

Let's start with the country I'm living in right now, my beloved and beautiful Argentina. The Silver Republic has enough top-class players to field not only a team, but a deadly host of champions with the ability to shred the paper-wasting and pompous ink-blobbing of any adversary. Take alone the field of the phantastic, and Argentina runs up with ingenious authors like Jorge Luis Borges, Leopoldo Lugones, and — more recently — Alejandro Dolina. Julio Cortázar adds a striking touch of the surreal. Enter the dystopic novel with Angélica Gorodischer. Or if you're rather into genre fiction, Liliana Bodoc ventures into the realm of epic fantasy, which is a novelty for Latin America. As you can see, there's hardly any field of literature where Argentina can be beaten. Especially its team captain Borges is a master of all styles, whose more-than-impressive work ranges from the essayistic to crime fiction to the phantastic short-story. With Borges teaming up with his sidekick Adolfo Bioy Casares, the opposing team won't stand a chance.

Mexico has got the one and only Carlos Fuentes. He's an oldschooler, no doubt, but alive and kickin'. A fearless player who won't accept any bullshit from his opponents, which are many (first and foremost the Roman Catholic Church and the US of A).

Italy's Umberto Eco, the Milan Mastermind, can be seen as a fading talent. The critics who accuse him of having written his last enjoyable novel in the 1980s are legion. And indeed, at times his writing moves seem to be too predictable or lacking of depth. But let the critics try to smear his legacy, I hold his Foucault's Pendulum in highest esteem. It's no less than an all-time favourite. Eco still enjoys the support of a huge fanbase that will do its very best to back him in the match. Besides, Eco is not alone, but comes in a team with Italo Calvino, the great cosmocomical Warlock of Turin.

The Netherlands show up with the quirky-but-very-serious Harry Mulisch. If the English-speaking world hasn't discovered him yet, this World Cup is the time to check him out, because this guy in The Discovery of Heaven does what Dan Brown and the Army of his Clones will never be able to do.

Last but not least, let's nominate a Spanish champion. I'd like to introduce Ana María Matute, who with her Olvidado rey Gudú proved that you definitely still can write old-school epic fantasy without either imitating Tolkien or going grim and gritty. As far as I know, this mythic masterpiece hasn't been translated to English yet. But if you can read Spanish, you should better sooner than later immerse yourself in this wonderful piece of imagination.

It's tournament time.

Montag, 14. Juni 2010

Mehr T als easer

George R.R. Martin hat einen Teaser zur Game-of-Thrones-Fernsehserie, die 2011 kommen soll, auf seinen Keinohrhasen ... äh, sein Nicht-Blog gestellt. Mir sind Fernsehserien ja sowas von Latte, aber ich dachte, ich weise mal darauf hin.

Nun ja. Ein Ersatz für ein druckfrisches Exemplar von A Dance with Dragons ist das wohl nicht.

Ach, hm: Hier und hier kann über die Serie diskutiert werden.

Sonntag, 13. Juni 2010

Dichtes Blog

The Cimmerian macht dicht. Schade. Das war so etwas wie Fandom höherer Ordnung, auch wenn ich nicht regelmäßig dazu gekommen bin, den Veröffentlichungen zu folgen.

Donnerstag, 10. Juni 2010

www.piotr.cl

Eine bitterlustig-bescheuerte Sehenswürdigkeit ist Martín Seegers kürzlich auf dem Filmfestival von Buenos Aires (BAFICI) gezeigter Film Piotr: Una mala traducción. Meines Wissens handelt es sich um das erste längere Werk des bislang durch Kurzfilme hervorgetretenen Regisseurs und Drehbuchschreibers aus Chile.

Der Film spielt unter nakrowischen Immigrant_innen in Santiago de Chile. Der Protagonist, Piotr Herroll, hat ein Theaterstück über das bedeutendste Ereignis in der jüngeren Geschichte seines Heimatlandes Nakrowien* geschrieben: eine aristokratische Revolution, die der mediokren Massenherrschaft der nakrowischen Demokratie ein Ende gesetzt hat. Nun studiert er das Stück mit chilenischen Schauspieler_innen ein, um an Fördermittel aus einem staatlichen Kulturfonds zu kommen. Gleichzeitig hofft er, damit über seinen etwas uneindeutigen legalen Status in Chile hinwegtäuschen zu können. Es erweist sich allerdings — um nicht zuviel zu sagen — als nicht eben einfach, nakrowische Befindlichkeiten für ein chilenisches Publikum zu synchronisieren.

Angespielt wird damit auf ein ernstes Thema: die Tatsache, dass es in Chile noch immer eine bedeutende Anzahl Menschen gibt, die der blutrünstigen Rechtsdiktatur Augusto Pinochets nachtrauern. Diese ›nakrowischen‹ Zeitgenoss_innen kultivieren eine parallele Erinnerungskultur, indem sie von einer Vergangenheit träumen, in der die imaginäre Gemeinschaft der Nation noch fest und sicher zwischen Antikommunismus, nationalem Katholizismus und Elitenkult aufgespannt war. Das Begräbnis des Diktators verwandelten sie erwartungsgemäß in ein makabres Spektakel mit zackigem Parolengebrüll und Hitlergrüßen, während die Gefühle von Pinochets Opfern wohl passender ausgedrückt wurden durch die Tat von Francisco Cuadrado Prats, Enkel des 1974 vom chilenischen Geheimdienst ermordeten Armeechefs Carlos Prats: Er spuckte kurzerhand auf den Sarg des toten Gewaltherrschers.

Nach diesem Film frage ich mich, ob Sprechen (und Erinnerung) überhaupt möglich ist. Piotr wird konsequenterweise ausschließlich auf Nakrowisch mit spanischen Untertiteln gezeigt.

* Nakrowien ist nicht zu verwechseln mit der Volksrepublik Krawonien, die eine bedeutende Rolle in Carl Amerys letztem Roman Das Geheimnis der Krypta (Träger des Phantastik-Preises der Stadt Wetzlar 1991) spielt.

Nibelungen en gros

Wozu es eigentlich diese Konvention gibt, dass es sich für deutsche Fantasy-Autor_innen irgendwie gehört, sich des Nibelungenstoffs schriftstellerisch anzunehmen, ist eine berechtigte Frage. Wer im angloamerikanischen Sprachraum schreibt, ist auf ähnliche Weise der Artussage verpflichtet; und was französische und italienische Autor_innen des Genres machen, weiß ich nicht. Allen gemeinsam ist nur, dass sie über die Sagenstoffe des klassischen Altertums schreiben dürfen, z.B. über Troja oder Sparta, oder aber über den hohen Norden. Aber dass z.B. ein Anglo-Ire oder eine Afroamerikanerin einen Nibelungenroman veröffentlicht, wäre doch eher ungewöhnlich. Es gibt in der Fantasy noch viele Klischees aufzuspießen und ausgefahrene Wege zu verlassen...

Deutschsprachige Nibelungenfantasy erhält man in allen möglichen Farben, Formen und Qualitätsstufen (z.B. von Auguste Lechner oder von Wölle Hohlbein). Der wesentlich von Kai Meyer verfasste Romanzyklus Die Nibelungen wartet mit einem demgegenüber leicht unterschiedenen Konzept auf: Es geht darum, was die Heldinnen und Helden des Nibelungenliedes in der Zeit vor, zwischen oder nach ihren großen Abenteuern erleben. Die einzelnen Romane sind dabei mal eigenständig, mal bilden sie innerhalb des Zyklus eine Fortsetzungsreihe. Man hat sich beim Lesen also nicht voll und ganz an eine bestimmte Reihenfolge zu halten, sollte allerdings beachten, dass einige der Beiträge die Fortsetzung eines anderen darstellen.

Mit Die Nibelungen wurde zunächst keine Rekonstruktion des historischen Hintergrunds der Sage, der wohl im 5. Jahrhundert zu finden ist, versucht, vielmehr spielen die Romane (meistenteils) in einer ans Hochmittelalter erinnernden Welt der Ritter, Burgen und Turniere. Das ist legitim, denn das Nibelungenlied selbst geht ja auch so vor, die Geschehnisse aus der sogenannten Völkerwanderungszeit in eine höfische Welt zu verlegen. Im Falle unseres Zyklus hält sich allerdings mit Bernhard Hennen ein Autor nicht an dieses Prinzip, was sich im Gesamtbild dann ziemlich inkohärent ausmacht.

Beginnen wir mit den beiden Romanen Jana Helds, die sich der Kindheit und Jugend Brünhilds annimmt. Die Flammenfrau heißt ihr erster Beitrag. Im Vergleich zu anderen Titeln des Zyklus ist dieser Roman ziemlich stark von seinen Fantasy-Anteilen geprägt. High Fantasy, hätte man früher vielleicht gesagt. Die Charaktere sind ziemlich hölzern und werden nur in den allerletzten Szenen etwas lebendiger, die Story weist keinen erkennbaren Spannungsbogen auf. Nach beendeter Lektüre hatte ich keine Lust, noch mehr von Frau Held zu lesen und kann daher über die Fortsetzung Das Zauberband nichts sagen. ›Jana Held‹ ist übrigens laut Klappentext ein Pseudonym — keine Ahnung, wer sich dahinter verbirgt.

Einen alleinstehenden Beitrag zum Zyklus hat Jörg Kastner mit Das Runenschwert geliefert. Es handelt sich um eine solide, unprätentiöse, sehr abenteuerlastige Fantasy, die sich ganz gut liest. Vielleicht der beste Nibelungen-Roman? Auf jeden Fall der unterhaltsamste. Die Handlung bildet ein erdachtes Jugendabenteuer des späteren Überhelden Siegfried.

Der Rabengott von Kai Meyer erzählt die tragische Geschichte Hagen von Tronjes und ist handlungsmäßig vielleicht am engsten mit dem echten Sagenstoff verknüpft. Der Roman geht stark in Richtung Dark Fantasy und ist eines von Meyers besseren Werken, da es keine von Meyers typischen Schwächen (zerfahrene Handlung, ungeschickt eingeführte Charaktere) aufweist. Ähnliches lässt sich von Die Hexenkönigin sagen — von Meyer unter dem Pseudonym Alexander Nix veröffentlicht. Protagonistin ist Siegfrieds spätere Flamme Kriemhild, und auch Onkel Hagen taucht wieder auf. Plotmäßig ist der Roman aber nur lose mit dem Rabengott verknüpft, so dass beide Bücher sich auch gut unabhängig voneinander lesen lassen. Sie zählen, wie Kastners Beitrag, zu den gelungeneren Romanen im Zyklus.

Von Das Drachenlied (erster von zwei Zwergenromanen, die Meyer alias Nix beigesteuert hat) lässt sich das leider nicht behaupten. Nach einem ganz lustigen Einstieg lässt der Autor reihenweise neue Charaktere auftreten, kann mit ihnen aber anscheinend nicht sogleich etwas anfangen, weshalb sie für den Plot zunächst ziemlich überflüssig sind. Meyers Absicht ist, eine Heldengruppe zusammenzustellen, die sich aber erst im Folgeband so richtig entfalten kann. Außerdem kommt der Klimax dieses ersten Bandes zu abrupt und hätte mehr Handlungszeit und mehr auktoriale Erklärungen gebraucht. Ejaculatio praecox, sozusagen. Der Folgeband, Der Zwergenkrieg, ist dann um einiges besser. Dummerweise sollte man allerdings beide Bände in chronologischer Reihenfolge lesen, da sie zwar je einen eigenen Handlungsbogen haben, aber in Sachen Charaktere, Stimmung etc. direkt aneinander anschließen. À propos Stimmung: Im Gegensatz zu den horrorlastigen Einzelromanen über Hagen und Kriemhild haben wir hier eher typische Rübe-ab-Fantasy mit Questen, Wirtshäusern und zünftigem Zwergengekloppe vor uns.

Fehlen noch die beiden Beiträge Bernhard Hennens. Sie bauen aufeinander auf und sollten daher ebenfalls chronologisch gelesen werden. Held ist der Spielmann Volker von Alzey, der Abenteuer stets mit seinem Sidekick, dem Knecht Golo, übersteht. Beide sind ziemlich vorhersehbar charakterisiert: Volker ist der leichtsinnige Schürzenjäger, und Golo muss für den Mist, den sein Herr und Meister verbockt, den Kopf hinhalten. Gerade diese Charakterisierung will aber so gar nicht zum Ton der beiden Romane passen, der mit fortschreitender Handlung immer finster-verzweifelter wird.

Und noch etwas will ganz und gar nicht passen. Denn während die übrigen Romane, wie bereits erwähnt, in einer pseudo-hochmittelalterlichen Welt spielen (und eine solche deutet sich anfangs auch im ersten Volker-und-Golo-Roman an), tauchen bei Hennen plötzlich römische Garnisonen, Mithras-Verehrer und fränkische Reiter auf. Das wirkt in hohem Maße anachronistisch und schreit nach einer Erklärung, die der Autor aber nicht liefert. Hennen hat bekanntlich eine Anzahl historischer Romane geschrieben und hat sich hier wohl nicht ganz zurückhalten können, vermute ich. Für unbedarfte Leser_innen ist es aber ziemlich verwirrend.

Aber zurück zu den Büchern, Das Nachtvolk und Der Ketzerfürst. Sie enthalten eine ganze Reihe von Themen und Elementen, die direkt der Feder Marion Zimmer Bradleys entsprungen sein könnten: von der Auseinandersetzung zwischen Christentum und Heidentum bis hin zu einem matriarchal lebenden Volk, welches durch Sümpfe und Nebelwände von der übrigen Welt getrennt ist. Nicht sonderlich originell, wenn man mich fragt. Die Helden, Volker und Golo, kriegen im Laufe der Handlung eine Reihe von Schicksalsschlägen ab, weshalb sie zunehmend nihilistisch-depressiv drauf sind. Alles in allem stellen die beiden Romane wegen der beschriebenen Inkonsequenzen kein Lesevergnügen dar. Schade eigentlich, denn der Autor kann es definitiv besser.

Anscheinend war noch ein weiterer Roman zum Zyklus geplant, der jedoch nie erschienen ist. Übrigens habe ich die Romane nicht in der Reihenfolge ihres Erscheines aufgeführt, und mich nur dann an die innere Chronologie gehalten, wenn ein ungestörter Lesefluss es unabdingbar macht, diese einzuhalten. Wer will, kann hinten in den Büchern eine Zeitleiste aufschlagen, in der dargestellt ist, wie die Plots der einzelnen Beiträge sich in die Nibelungensage einfügen.

Der Zyklus ist ursprünglich im Econ-Verlag erschienen. Die Beiträge von Kai Meyer/Alexander Nix wurden später von Heyne und nochmals von Bastei Lübbe als Sammelband mit dem Titel Nibelungengold (unter dem richtigen Namen des Autors) wiederveröffentlicht. Die Beiträge von Bernhard Hennen sind einzeln im Piper-Verlag wiederveröffentlicht worden.

Montag, 7. Juni 2010

So ruhet in Frieden

Bücher über den Tod haben es schwer, bei mir zu landen, weil sie häufig mit den »Lügen der Tröster« (Henning Luther) gesättigt sind.* John Ajvide Lindqvists So ruhet in Frieden ist eine Ausnahme, denn es beschäftigt sich zwar auch damit, wie wir mit dem Tod klarkommen, ist aber primär ein Roman darüber, wie der Tod mit uns klarkommt.

Der 2008 erschienene Roman ist mein erster von Lindqvist, zu einem vielerseits vermuteten Qualitätsabfall gegenüber seinem verfilmten Erstling kann ich daher nichts sagen. Ist vielleicht auch ganz gut so, denn so konnte ich So ruhet in Frieden einfach lesen und mich darüber freuen. Einer der wichtigsten Charaktere des Romans ist ein Stand-up-Comedian, und soeben lese ich in der Wikipedia, dass der Autor selbst einige Jahre lang als ein solcher gearbeitet hat. Auch das wusste ich beim Lesen nicht, musste den Roman also nicht nach autobiografischen Referenzen durchforsten. Beste Ausgangsvoraussetzungen für ein unschuldiges Lesevergnügen also.

Der Spaß bei So ruhet in Frieden ist hauptsächlich der, dass die Handlung so angelegt ist, dass sie ständig — sozusagen zwischen zwei Polen oszillierend — die Fragen »Ist es Splatter oder nicht?« und »Ist es eine Zombiegeschichte oder nicht?« aufwirft. Ich hab's ja als alter Romero-Fan mit den Zombies, aber in diesem Fall stört es nicht weiter, dass es (wie sich herausstellt) letztlich keine Zombiegeschichte ist. Vielleicht deshalb, weil Lindqvist die Fragen konsequent stellt, die Leser_innen damit weiterblättern lässt und auch sonst eine durch und durch spannende Geschichte erzählt. Eine makabre Komik liegt auch in einzelnen Szenen und Episoden, die Lindqvist mit einem Können ausarbeitet, dass einem glatt die Luft wegbleiben könnte. Meine Lieblingsszene ist, nebenbei bemerkt, die, in der Aderklemmen eine zentrale atmosphärische Rolle spielen. Ich finde so was halt komisch ...

Im Grunde handelt es sich bei So ruhet in Frieden jedoch um eine tiefernste Geschichte, etwa in dem Sinne, wie ein Clown ernst und lustig zugleich ist. Dies kommt besonders schön zum Tragen in einem fiktiven, auszugsweise in den Roman eingearbeiteten Kinderbuch. Diese Erzähltechnik kommt auch gar nicht postmodern daher (um das Buhwort zu gebrauchen), sondern fügt sich naht- und bruchlos ein. Außerdem sind die Kinderbuch-Passagen einfach sehnsuchterzeugend gut. Man kriegt richtig Lust, den Autor mit Fanpost zu bombardieren, damit er aus einem fiktiven ein reales Kinderbuch macht.

Und richtig gut ist ein Roman eben nur dann, wenn man ihn ernstnehmen kann. In diesem Sinne ist Lindqvists Geschichte vom Tod der beste Roman, der mir seit langem untergekommen ist.

So ruhet in Frieden von John Ajvinde Lindqvist ist 2008 bei Bastei Lübbe erschienen und hat 448 Seiten. Die Übersetzung aus dem Schwedischen ist von Paul Berf.

* Ein ebenso faszinierendes wie widersprüchliches Beispiel stellt für mich George MacDonalds  Hinter dem Nordwind dar.

Samstag, 5. Juni 2010

Die verlorene Unschuld

»This is me at my most masochistic.«
Bill in Kill Bill
Der letzte Dan Brown ist mir in die Hände gefallen, und ich habe ihn tatsächlich gelesen.* Es ist der erste Brown, den ich in deutscher Übersetzung in Angriff genommen habe (obwohl es sich um eines der wenigen Bücher handelt, die hierzulande auf Englisch erhältlich sind, aber dann hätte ich es eben kaufen müssen). Nicht, dass sich die Lektüre wirklich gelohnt hätte – im Sinne von: Wow, tolles Buch, mehr davon, werde ich noch lange darüber nachdenken. Trotzdem war es in mancher Hinsicht aufschlussreich, Das verlorene Symbol zu lesen. Aber zunächst einige Beobachtungen zum Leseerlebnis.

Brown strickt mal wieder nach dem gewohnten, aus Angels & Demons und The Da Vinci Code bekannten Schema. Die gesamte Handlung spielt sich in einer Stadt (hier Washington) ab. Der Held ist Robert Langdon, der völlig ahnungslos in die Ereignisse hineingezogen wird. Der Handlungszeitraum ist ultrakurz, und überhaupt ist der Plot nach dem Prinzip Schnitzeljagd aufgebaut: Langdon und seine Begleiter_innen jagen von einem Ort zum nächsten, wo sie versuchen, ein Rätsel zu lösen, welches sie zu einem weiteren Ort führt, wo sie wiederum mit einem Rätsel oder einem Geheimcode konfrontiert werden usw. Am Schluss, wenn alle Rätsel gelöst und alle Codes geknackt sind, wartet ein großes Geheimnis auf die Protagonist_innen, hinter dem auch der Bösewicht des Romans her ist. Unterstützt wird die Heldengruppe dabei meist von einer undurchsichtigen Figur, deren Loyalität sich im Laufe der Handlung als zweifelhaft herausstellt. Und natürlich endet fast jedes Kapitel mit einem Cliffhanger. So weit, so bekannt.

Gegenüber den vorherigen Langdon-Romanen fällt auf, dass Brown diesmal nicht ganz so eng am Schema klebt, sondern versucht, es leicht zu modifizieren. Ihm ist wohl auch bewusst, dass selbst die treudoofsten Fans nicht ewig die gleiche Suppe aufgekocht haben wollen. Am störendsten nimmt sich aber die Charakterdarstellung aus, weil Langdon als Heldenfigur kein bisschen weiterentwickelt wurde. Nachdem er aber schon zweimal in haarsträubende Abenteuer verwickelt gewesen sein soll, nimmt man Brown die Masche »weltfremder Professor schnallt allmählich, dass seine Forschungen auch in der wirklichen Welt eine Bedeutung haben« einfach nicht mehr ab. Aber Langdon stolpert weiterhin unverdrossen von einer geheimen Kammer in die nächste, stößt laufend auf Geheimcodes und haucht erschüttert »Das kann doch nicht sein!« – nur um den Code zu entziffern, zu merken, dass es sich keineswegs um die endgültige Lösung des Rätsels, sondern lediglich um einen Hinweis auf den nächsten Code handelt, und auszurufen: »Ich glaube es einfach nicht!« Als ob Langdon nicht bereits in den beiden Vorgängerromanen umfangreiche Erfahrungen mit derartigen Situationen gesammelt hätte, und von daher eigentlich eher mit einem souveränen »Lasst mich nur machen, Jungs« die Kammern mit den Geheimcodes betreten müsste. Nö nö, so vertrottelt kann nicht mal ein Symbolologie-Professor aus Harvard sein ...

Auffällig ist auch wieder mal, dass Brown zwar versucht, seine Romane auf eine umfangreiche Recherchebasis zu stellen, aber dafür einfach nicht über die nötige Bildung verfügt. Er haut einfach immer knapp daneben. So baut er zahlreiche Formeln, Schlüsselworte und Decknamen aus dem Lateinischen, Griechischen und Hebräischen in die Handlung ein, übersetzt sie aber mit fast schon rührender Regelmäßigkeit falsch. Brown hält Jehova für einen hebräischen Namen, spricht im Bezug auf das berühmte Dürer-Monogramm von »deutschen Buchstaben« und verortet mitten in Washington D.C. eine mittelalterliche (sic!) Gartenanlage. Meine Lieblingsverballhornung aus Brownscher Feder ist folgende ganz spezielle Etymologie aus Angels & Demons: Das englische (sic!) Wort ›Satan‹ leite sich von dem islamischen (sic!!!) Wort ›Scheitan‹ ab. In Dan Browns Universum ist ›Islamisch‹ folgerichtig wohl eine Sprache ...

Was macht bei all dem Strunz und Strünzer letztlich die Faszination von Browns Werk aus? Meine persönliche These ist einfach, dass er es schafft, aus den langweiligen Vergnügungen des postfordistischen Zeitalters etwas Faszinierendes, Mysteriöses zu machen: Alles ist mit allem verbunden. Überall lauern Geheimnisse. Jeder Ort kann die sagenumwobene Wirkungsstätte einer jahrhundertealten Geheimgesellschaft sein. Und in den Robert-Langdon-Romanen sind diese faszinierenden Orte dann auch noch die Standard-Attraktionen von Rom, Paris und Washington, durch die Jahr für Jahr Millionen von Pauschalreisenden gezerrt werden. Aber von Brown ausreichend mystifiziert, lässt sich anscheind noch das stumpfsinnigste Fremdenführer-Geschwafel ertragen, während man gehetzt über den Petersplatz oder den Innenhof des Louvre stakst.

Browns Mystifizierungstechnik funktioniert aber nicht nur bei Pauschalreisen. Nehmen wir z.B. folgende Passage aus dem Verlorenen Symbol (S. 168f. der gebundenen Ausgabe, kursiv im Original):
Wo immer digitalisierter Content dargeboten wurde, war automatische Freigabe zu einer Standardpraxis geworden. Dabei erlaubte ein Server dem Benutzer, den vollständigen Text zu durchsuchen, gab ihm dann aber nur einen kleinen Teil davon frei — nur den unmittelbaren Kontext der gesuchten Schlüsselbegriffe. Indem der Anbieter den größten Teil des Textes unleserlich machte, vermied er Urheberrechtsverletzungen und sandte dem Benutzer zugleich eine Botschaft: Ich habe die Information, nach der du suchst, aber wenn du den Rest davon haben willst, musst du dafür bezahlen.
 Wie unschwer zu erkennen ist, handelt es sich bei der hier beschriebenen Technik um das Prinzip, das hinter Google Books steht. Nun ist Google Books im Alltag eine, wenn auch vielfach genutzte, Notlösung. Es ist lästig, sich durch den alle paar Seiten unterbrochenen, digitalisierten Text zu scrollen, um etwas zu finden, was vielleicht gar nicht da ist. Man hätte viel lieber das Buch vor sich liegen, um bequem darin zu blättern – am besten mit einem Stapel weiterer Bücher daneben, falls das erste die gesuchte Information nicht enthält. Google Books benutzt man deshalb, will man sorgfältig recherchieren, eigentlich nur, wenn man keine Bibliothek zur Verfügung hat. Aber wie anders sieht die Sache in den Augen Dan Browns aus! Sofort fragt man sich, wer einen da mit exklusiven, häppchenweise dargebotenen Informationen zu verführen versucht, sobald die digitalisierten Seiten verheißungsvoll auf dem Bildschirm schimmern. Ist es ein Geheimdienst, der diesen Content ins Netz gestellt hat? Eine revolutionäre Untergrundbewegung? Ein internationales Hackerkartell? Erfolgreiche Verzauberung des drögen Alltags eben, jedenfalls dann, wenn man es geschafft hat, sämtliche Gehirnzellen-Aufstände vorher niederzuschlagen.

Es gibt allerdings neben dem Wiederkäuer-Plotschema, den intellektuellen Fauxpas und der Mystifizierung des Alltags noch einen anderen roten Faden, der sich durch die Langdon-Romane zieht. Brown hat nämlich, wie immer deutlicher wird, eine Agenda: Im ersten Langdon-Abenteuer zieht er das Fazit, dass Wissenschaft und Religion sich gar nicht gegenseitig ausschließen (zumindest dann nicht, in Browns Darstellung, wenn die Wissenschaft genügend pseudowissenschaftlich und die Religion genügend New-Age-schwurbelig ist). Im zweiten Roman wird dann eine esoterische Religion vorgestellt, die sozusagen frisch aus dem Designerstudio kommt für Leute, denen Kirche zu anstrengend ist. Ironischerweise steht in ihrem Zentrum dennoch Jesus von Nazaret (gemeinsam mit Maria Magdalena natürlich), der anscheinend als Faszinosum bzw. Projektionsfläche noch lange nicht ausgedient hat. Die Botschaft des Verlorenen Symbols baut den Esoterikanteil (wenn auch ziemlich inkohärent) beträchtlich aus, hat darüber hinaus aber auch einen aktuellen Anlass, den näher zu betrachten sich lohnt.

Es geht in dem Roman ja bekanntlich um die Freimaurer (so wie in den Vorgängerromanen um die Illuminaten und die Prieuré de Sion). Diese sind laut Brown nette, etwas onkelhafte Humanisten, die der gesamten Welt die Erleuchtung bringen wollen. Und wie sie die bringen. So sehr von einem Sendungsauftrag erfüllt sein können eigentlich nur Amis, ob real oder fiktiv. Die letzten Kapitel strotzen förmlich vor Erleuchtungsgeschwafel, bei dessen Lektüre sich einem alten Schakal wie mir das Fell sträubt. Brown interpretiert die Gründung der USA als Verwirklichung der freimaurerischen Utopie, als Neues Rom in einer Neuen Welt, als Stadt auf dem Berge, der zuvor sorgfältig von den Lianen des Dschungels befreit wurde. Die Vereinigten Staaten der Freimaurer Franklin, Washington und Jefferson waren ein Paradies des holistischen Denkens, mit sorgfältig gehütetem Arkanwissen für die Eliten und homöopathisch dosierter Aufklärung für die Massen. Hat man gegenwärtig Probleme mit den USA, gibt es eine weltweite Verstimmung wegen gewisser Kriege in Afghanistan und im Irak, dann liegt das nur daran, dass das Neue Rom vom geraden Weg der maurerischen Gründerväter abgewichen ist. Die Bush-Ära war eine schändliche Verirrung, in Wahrheit aber ist es das Schicksal der Vereinigten Staaten, die Welt im milden Licht ihres utopischen Selbstverständnisses anzustrahlen und in den lauen Wassern esoterischer Phantasien zu baden.

Man könnte also sagen, dass Brown mit seinen Langdon-Romanen etwas versucht, was Philip Pullman mit His Dark Materials auf wesentlich höherem Niveau (und mit wesentlich anderem Inhalt!) durchgeführt hat: im phantastischen Gewand** eine alternative, glaubwürdige Religiosität zu präsentieren. Ob’s gelingt, zeigt wohl der Erfolg.

Kritisiert werden Browns Freimaurer übrigens nur von fanatischen Fundi-Gläubigen (weil die USA doch eigentlich eine christian nation sind) und von zickig-verbissenen Emanzen (weil sie keine Frauen in ihre Logen aufnehmen). Zu unrecht, natürlich, denn die Maurerbrüder wollen nur das Gute. Sie schütteln betrübt den Kopf über aggressive Kriegspolitik und werkeln im Verborgenen weiter am Tempel des Großen Baumeisters aller Welten. Zwei Dinge sind es allerdings, die akuten Juckreiz verursachen. Da ist zum einen die simple Frage, warum die US-Freimaurer eigentlich nicht selbst schuld sind am Kriegsimperialismus, wo sie doch Brown zufolge quasi die gesamte politische Elite des Landes, inklusvie CIA-Spitze, stellen? Und zum anderen lässt mich postkolonialen Sikarier den Dolch wetzen, mit welch beispielloser Naivität (oder Dreistheit) Brown davon ausgeht, dass die maurerischen Gründerväter ihre Utopie in ein weißes Blatt Papier namens Amerika eingezeichnet haben. War da vielleicht nicht doch der eine oder andere klitzekleine Völkermord, hm? Sich Uncle Sam als New-Age-spirituelles Unschuldslamm auszumalen funktioniert eben doch nur durch massives Dummstellen.

Das verlorene Symbol (765 Seiten) von Dan Brown ist 2009 bei Gustav Lübbe erschienen. 

* Manchmal überrasche ich mich selbst – z.B. dann, wenn ich nach dem Genuss von zwei Browns noch einen dritten in die Hand nehme. Vergleiche das Zitat zu Beginn der Rezension.
** Das nenne ich jetzt einfach mal so, obwohl Brown selbst seine Romane sicherlich für akribisch recherchiert und hochwissenschaftlich hält.

Mittwoch, 2. Juni 2010

Wie Lateinamerika ist

So. Ende der Funkstille. Rezension.

Lateinamerika ist bekanntlich Magischer Realismus. Das heißt nicht, dass wer das sagt, auch weiß, was Magischer Realismus ist. Das heißt einfach nur, dass lateinamerikanische Schriftsteller_innen immer Magischer Realismus sind, weil das Populärwissen (außerhalb Lateinamerikas) das so will. Konkret führt das dann dazu, dass ein so stocknüchterner und erzenglischer Autor wie Borges zum Magischen Realisten erklärt wird.*

Ich weiß auch nicht so recht, was Magischer Realismus ist (Wikipedia noch weniger). Aber definieren kann man auch Dinge, von denen man nicht weiß, was sie sind. Deshalb behaupte ich: Magischer Realismus funktioniert quasi genauso wie Fantasy — im deutschen, nicht im englischen Sinne des Wortes. Was Fantasy ist (im Unterschied etwa zu SF), darüber schlagen wir Nerds uns ja bekanntlich die Köpfe ein, dabei ist es eigentlich ganz einfach. Fantasy unterscheidet sich von der gewöhnlichen Phantastik dadurch, dass sie eine Sekundärwelt möglichst kohärent schildert. In der Phantastik gibt es stets den Einbruch des Unwirklichen/-heimlichen in die altbekannte Realität. In der Fantasy ist die Realität einfach anders und unbekannt für uns Leser_innen.** In einer Fantasy-Welt wird vieles so sein wie bei uns, und einiges anders. Und was den Charakteren, die die Fantasy-Welt bevölkern, vertraut und normal erscheint, wird nicht unbedingt das in ihrer Welt sein, was uns normal erscheint, und andersrum.

Im lateinamerikanischen Magischen Realismus ist es ähnlich und deshalb ist Gioconda Bellis Bewohnte Frau (La mujer habitada) ein gutes Beispiel für Magischen Realismus. Der Roman spielt in einem fiktiven zentralamerikanischen Land (Nicaragua) mit einer fiktiven Hauptstadt Faguas (Managua), einem fiktiven Diktator, dem Großen General (Somoza d.J.), einer fiktiven Guerillabewegung (der FSLN) und einer fiktiven Protagonistin Lavinia (Belli).

Lavinia gehört der Oberschicht des Landes an, kultiviert sorgfältig ihr rebellisches Image als alleinlebende junge Frau und ist eigentlich enttäuscht von Politik, weil sie erfahren hat, wie wenig Proteste manchmal etwas ändern. Zumindest letzteres ändert sich aber schnell, denn Lavinia wird über eine Beziehungskiste in die Aktivitäten der Guerilla verstrickt. Dass die Beziehungskiste sie in letzter Instanz aber aus den Untergrundaktivitäten heraushalten will, ist machistisch und Lavinia tritt deshalb der Guerilla nicht wegen der Beziehungskiste, sondern ihr zum Trotz, selber bei.

Eigentlich hat Lavinias Widerständigkeit aber tiefere Wurzeln, und deshalb ist's Fantasy... äh, Magischer Realismus. In ihrem Garten steht nämlich ein Orangenbaum, in dem eine indigene Kriegerin (ihr Name ist mir gerade entfallen) aus der Zeit der spanischen Conquista weiterlebt. Die leistete gemeinsam mit ihrem Mann erbitterten Widerstand gegen die Konquistadoren und galt deshalb bei diesen als Hexe. Sie hat ihre eigenen Probleme — eigentlich dürfen nur Männer kämpfen, und auch noch nachdem sie ihren Kampfgeist unter Beweis gestellt hat, muss sie nach beendetem Gemetzel im Feldlager noch kochen und Wäsche waschen. Statt allerdings wie Lavinia den direkten Kampf gegen das verdammte Patriarchat aufzunehmen, räsoniert sie lieber essentialistisch-differenzfeministisch über die naturgottgegebenen Unterschiede zwischen Männlein und Weiblein. Das nervt leider mehr als nur ein wenig bei der Lektüre dieses zweiten Handlungsstrangs.

Aber zurück zur Fantasy. Lavinia bekommt nämlich, als sie sich eines Morgens ein Gläschen Frischgepressten mit Orangen aus ihrem Garten gönnt, den warrior spirit der widerständigen Differenzfeministin aus dem 16. Jahrhundert übermittelt und wird dadurch so richtig angefixt, den Großen General und seine protzig-prollig-brutale Clique zu stürzen. Vorher war die kriegerische Baumbewohnerin ziemlich enttäuscht über Lavinias mäandernde Haltung gegenüber den modernen Nachfolgern der alten Konquistadoren, aber nach dem initiatorischen O-Saft vollendet Lavinia das, was ihre historische Vorgängerin nicht mehr vermocht hat. So weit, so gut — um nicht zu viel vom Plot zu verraten.

Eine Geschichte, die also vor allem whimsical ist.*** Aber sie funktioniert und die Idee mit der O-Saft-Connection (¡Hasta la victoria siempre!) ist vollkommen kohärent. Fantasy funktioniert schließlich auch häufig. Ist halt nur immer noch ein bisschen schmuddelig, während man auch im alleröffentlichsten Zugabteil damit angeben kann, in einem García Márquez oder einem Allende zu blättern. Oder in einem Belli.

Gutes Buch. Schön zu lesen.

Gioconda Bellis Bewohnte Frau ist 1988 bei Peter Hammer erschienen. Taschenbuchausgabe: dtv 1991, 375 Seiten. Die Übersetzung besorgte Lutz Kliche.

* Was Borges von anderen lateinamerikanischen Autor_innen unterscheidet, erklärt Graham Greene literaturhistorisch in The Honorary Consul. Das müsste ich eigentlich glatt noch mal lesen, um die Verfilmung mit Richard Gere zu vergessen, die auch Bob Hoskins und Michael Caine nicht retten konnten...

** Wie unbekannt, hängt natürlich vom kreativen Vermögen und vom Bankkonto des jeweiligen Schreiberlings ab.

*** Dieses englische Wörtchen drückt unübersetzt einfach am besten aus, was man beim Lesen solcher Plots empfindet, oder nicht?

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.