Montag, 23. Januar 2023

Tales Before Tolkien: Ludwig Tieck

In seiner Anthologie Tales Before Tolkien: The Roots of Modern Fantasy (2003) unternimmt Douglas A. Anderson den ambitionierten Versuch, Tolkien in eine literarische Tradition zu stellen. Kein selbstverständliches Unterfangen, denn von Tolkien wird ja gern behauptet, er habe die moderne Fantasy im Alleingang erfunden. Bei mir rennt Anderson damit offene Türen ein, denn ich bin schon seit längerer Zeit der Auffassung, dass die moderne Fantasy mit dem deutschen romantischen Kunstmärchen beginnt. Dieses wanderte, vermittelt durch Thomas Carlyle und andere, im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nach England und entfaltete dort ein Eigenleben, wie es in der recht kurzen Epoche der deutschen Romantik allein kaum möglich gewesen wäre.

Der Beweis für diese These sind umfangreiche Veröffentlichungen wie Popular Tales and Romances of the Northern Nations (1823, übersetzt u.a. von Thomas de Quincey)¹ und German Romance (1827, herausgegeben von Carlyle). Diese und andere präsentierten Erzählungen z.B. von Hoffmann, Fouqué, Tieck, Musäus dem englischen Publikum und hatten (neben Übersetzungen von Grimms Märchen) einen profunden Einfluss auf Autoren wie John Ruskin und George MacDonald, aber auch auf Charles Dickens.

Tolkien seinerseits war zwar äußerst misstrauisch gegenüber Versuchen, ›Quellen‹ und ›Einflüsse‹ seines Werks zu identifizieren. Das hat nicht wenige Fans und Nachahmer*innen in ihrer Überzeugung bestärkt, Tolkien habe den Hobbit und den Lord of the Rings quasi aus dem Nichts erschaffen. Er selbst hat dergleichen aber nie behauptet, sondern war sich der Tatsache bewusst, dass er Teil einer Tradition war. Er nannte in diesem Zusammenhang u.a. Lord Dunsany, Andrew Lang, William Morris, MacDonald und die Brüder Grimm. Oft stand Tolkien deren Werken ausgesprochen ambivalent gegenüber. Anfängliche Bewunderung konnte bei ihm in heftige Ablehnung umschlagen. Um so schwerer wiegt, dass Tolkien sich dennoch zu ihnen als Vorläufer bekannte.

Natürlich will ich damit nicht behaupten, dass das Ganze ein monokausaler Vorgang war. Denn zum einen wurden Kunstmärchen nicht nur von Deutschen geschrieben. Hans Christian Andersen war in der englischen Literaturwelt seiner Zeit ebenso beliebt oder noch beliebter. Zum anderen müsste man präziser sagen, dass es hier in erster Linie um das geht, was heute High Fantasy genannt wird. Die Sword and Sorcery hat andere Wurzeln, nämlich im viktorianischen »Lost Civilization«-Genre. Drittens ist das Kunstmärchen nicht der alleinige Ursprung der High Fantasy. Adam Roberts z.B. argumentiert, dass dem historischen Roman Walter Scotts einige Bedeutung bei der Entstehung des Genres zukommt (allerdings eine verdrängte, würde ich hinzufügen). Vor allem aber ist es wichtig, bei der Betrachtung des Genres nicht so eurozentrisch zu bleiben, wie es bis heute meist der Fall ist. Der neben dem LotR international bedeutsamste Fantasy-Roman der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Ich würde stets und ohne zu zögern behaupten, dass diese Position Amos Tutuolas Palm-Wine Drinkard zukommt.

Einige der Geschichten, die Douglas Anderson für Tales Before Tolkien gesammelt hat, haben bei mir ein paar thinky thoughts ausgelöst. Dabei will ich mich nicht zu jedem einzelnen Beitrag äußern, sondern nur ein paar Bemerkungen zu Dingen machen, die mir aufgefallen sind.

Die Anthologie beginnt mit »Die Elfen« (»The Elves«) aus Ludwig Tiecks Phantasus (1812). Zu beachten ist, dass Anderson nicht nur solche Werke aufgenommen hat, die Tolkien nachweislich beeinflusst haben. Es geht ihm daneben auch allgemeiner um die Darstellung der Tradition, die zu Tolkien geführt hat:
Some of the stories that I have chosen can be seen specifically to have inspired Tolkien, and these connections are detailed in the headnotes to the appropriate stories. I have also selected some stories whose content seems especially Tolkienian, even though there is little or no evidence that Tolkien knew the writers. And I have also chosen other stories that Tolkien almost certainly did not know in order to show some of the diversity of fantasy as it existed before The Hobbit.
»Die Elfen« gehört zur dritten Gruppe, würde ich annehmen. Anderson hat sie ausgesucht, weil sie seinem Geschmack nach das beste (oder eines der besten) deutsche Kunstmärchen ist. In meinen Augen ist das beste deutsche Kunstmärchen überhaupt Der goldne Topf. Ich würde auch behaupten, dass allein unter den Erzählungen Tiecks »Die Elfen« nicht die beste ist. Die Atmosphäre des Erhabenen, der Waldeinsamkeit, die Tieck so gut erzeugen konnte, kommt in Geschichten wie »Der blonde Eckbert« und »Der Runenberg« besser zum Tragen.

Aber Anderson kommt es auf etwas anderes an. Er sieht »Die Elfen« als Beispiel für Tolkiens Auffassung von Faërie als »perilous realm« oder Reich der Fährnisse, das man nicht durchwandern kann, ohne sich Gefahren auszusetzen. Die Geschichte der kleinen Marie, die sich unter den Elfen aufhält und bei ihrer Rückkehr in die Menschenwelt entdeckt, dass sie sieben Jahre fort war, eignet sich dafür gut, kein Zweifel. Und dass Tieck das Elfenmotiv mit sozialem Außenseitertum verknüpft, macht die Geschichte gleich noch mal interessanter.²

Obwohl ich mich Andersons Bewertung von »Die Elfen« nicht ganz anschließen kann, finde ich seine Wahl nachvollziehbar. Zudem ist die Geschichte sowohl in den Popular Tales and Romances als auch in Carlyles German Romance vertreten, was sehr schön den Zusammenhang verdeutlicht, den ich oben zu beschreiben versucht habe. Eine andere Frage ist, ob Tolkien selbst Tiecks Darstellung der Elfen gefallen hätte. Wie ungnädig er in dieser Sache sein konnte, ist bekannt. In Bezug auf Tiecks Erzählung werden wir es leider nicht erfahren.

¹ Der Titel ist auffällig, denn die drei Bände dieser Anthologie enthalten ausschließlich Erzählungen aus Deutschland. Aber von einer »German Nation« zu reden sah man damals offenbar noch keinen Anlass, schon gar nicht im Singular. Die Anthologie enthält übrigens auch eine der ersten Vampirgeschichten, »Wake Not the Dead« von Ernst Raupach.
² Der landwirtschaftliche Reichtum von Maries Dorf beruht auf der Anwesenheit der Elfen. Trotzdem werden sie von den meisten Dorfbewohner*innen als arbeitsscheu und kriminell abgetan.

Montag, 5. Juli 2021

Varney-Liveblog: Kapitel 6–10

Ich muss gestehen, dass ich die ersten fünf Varney-Kapitel spannender als erwartet fand. Wie viele Vampirgeschichten des 19. Jahrhunderts funktionieren sie ähnlich einem Krimi, wenn auch nach dem Motto »Who bit her?« anstelle von »Who done it?«. Was mir allerdings wie schon bei früherer (kursorischer) Lektüre des Romans auffiel, ist die ungeschickte Art, wie die Figuren eingeführt werden. Besonders im ersten Kapitel rätselt man beim Lesen ständig, wer eigentlich wer ist. Augenscheinlich wussten die Autor:innen selbst kaum etwas über ihre Figuren, als sie mit dem Schreiben begannen.

Zum Glück scheint ihnen das selber aufgefallen zu sein, denn in Kapitel VI folgt eine Vorstellung der Familie Bannerworth. Wir erfahren, dass die Bannerworths der leisure class angehören, im Lauf der letzten hundert Jahre aber den größten Teil ihres ererbten Besitzes verloren haben. Zu allem Überdruss war Floras, Henrys und Georges Vater spielsüchtig und hat den letzten Rest des Familienvermögens verzockt. Ich sage »war«, denn Mr. Bannerworth ist kurz vor Beginn des Romans auf mysteriöse Weise verstorben: Man fand ihn tot im Garten, in der Hand ein Bleistift und ein Notizbuch, in das er (offenbar im Augenblick seines Todes) die unvollständige Bemerkung »Das Geld ist –« gekritzelt hatte.

Nun ist gemäß patriarchaler Sitte Henry das Familienoberhaupt und hat jede Menge Probleme am Hals. Natürlich hat die Familie ihre zunehmende Verarmung vor den Nachbar:innen verborgen gehalten. Das geschah mit Hilfe eines entfernten Verwandten, der den Geschwistern jährlich hundert Pfund zukommen ließ. Mit diesem Geld konnten Flora, Henry und George jedes Jahr eine standesgemäße Reise auf den Kontinent unternehmen. Auf der letzten dieser Reisen lernte Flora in Italien den jungen Künstler Charles Holland kennen und verlobte sich mit ihm. Aber auch der wohltätige Verwandte ist vor einer Weile gestorben, und seitdem ist endgültig Ebbe in der Kasse der Bannerworths.

Henry bleibt jetzt eigentlich nichts weiter übrig, als Bannerworth Hall zu verkaufen und den Erlös als Startguthaben für den Einstieg in einen Beruf zu verwenden. Aber er zögert, sich von dem alten Familiensitz zu trennen. Hinzu kommt, dass Flora Charles nach ihrer ersten (und einzigen) Begegnung in Italien nach Bannerworth Hall eingeladen hat, um ihre Verlobung auf etwas offiziellere Füße zu stellen. Also muss der Verkauf des Hauses ohnehin warten, bis Charles seine Aufwartung gemacht hat.

Doch der Druck auf Henry steigt: Ein Londoner Anwalt will das Haus im Namen eines ungenannten Klienten kaufen, oder, falls das nicht möglich ist, es mieten. Dafür macht er Henry ein großzügiges finanzielles Angebot, das natürlich die Rettung vor dem endgültigen gesellschaftlichen Abstieg wäre. Bei Henry lässt die Sache aber eher das merkwürdige Gefühl zurück, dass irgendjemand sich etwas zu sehr für das Anwesen seiner Familie interessiert. (Wenn dahinter mal nicht der bislang kaum in Erscheinung getretene Sir Francis Varney steckt.)

Auch über Mr. Marchdale klärt das Kapitel auf: Er ist ein alter Verehrer Mrs. Bannerworths aus der Zeit, bevor sie den zockenden Tunichtgut Mr. Bannerworth heiratete. Seit dessen Tod ist Mr. Marchdale Dauergast in Bannerworth Hall.

Einige Leser:innen von Varney the Vampire empfinden das sechste Kapitel als langweilig und störend (hier ein Beispiel). Mir hat es gefallen. Man lernt die Figuren etwas näher kennen, und es ist ja nicht ganz uninteressant, dass die Bannerworths neben Floras ungebetenem Besucher noch andere Probleme haben. Ein Vampir allein macht schließlich keinen Roman – vor allem keinen so umfangreichen wie diesen. Außerdem bringen die Autor:innen bei der Beschreibung des verarmten Adels der Bannerworths einen unterhaltsamen Sarkasmus auf, den man ihnen gar nicht zugetraut hätte.

Den beiden folgenden Kapiteln kann ich dagegen leider kein Lob aussprechen. Henry, George, Mr. Marchdale und Mr. Chillingworth suchen die Familiengruft der Bannerworths auf, um zu überprüfen, ob das Grab des Vorfahren, den sie des Vampirismus verdächtigen, leer ist. Die Gruft befindet sich in der nahegelegenen Dorfkirche, aber bis die vier Vampirjäger dort ankommen, gibt es ein handlungsverzögerndes Hin und her, dass es zum Seufzen ist. Zu allem Überdruss fügen die Autor:innen an dieser Stelle auch noch ein Lamento über den Niedergang der englischen Kirchenarchitektur ein. Ich habe ja nichts gegen Abschweifungen, aber das ist echt zu viel des Guten.

Das wenig überraschende Ergebnis der Untersuchung: Das Grab ist leer. Mr. Chillingworth bestätigt in seiner Eigenschaft als Mediziner, dass der Sarg keine organischen Überreste enthält. Der Familienarzt spielt übrigens die Rolle des Skeptikers. Weder jetzt das leere Grab, noch zuvor die Wiederbelebung im Mondlicht überzeugen ihn, dass er es wirklich mit einem Vampir (und nicht mit einem elaborierten Schwindel) zu tun hat. Die Autor:innen legen ihm in den Dialogen des öfteren aufklärungsphilosophische Gedanken in den Mund. Die Gegenposition dazu vertritt Mr. Marchdale.

Unbedingt erwähnen muss ich den Lapsus memoriae, der den Autor:innen beim Schildern der Grabesöffnung unterläuft. Der besagte Vorfahre hieß zunächst Sir Runnagate Bannerworth. Jetzt wird er plötzlich Marmaduke Bannerworth (ohne Sir) genannt. Das, oder die vier Helden haben versehentlich das falsche Grab aufgebrochen.

Kapitel IX und X wenden sich zu meiner Erleichterung Flora zu, die mit ihrer Mutter in Bannerworth Hall zurückgeblieben ist. Einige Stunden, nachdem Floras Brüder sowie Mr. Marchdale und Mr. Chillingworth in Richtung Kirche davongetrabt sind, steigt der Vampir ein zweites Mal durchs Fenster ein. Aber Flora fackelt nicht lang. Sie hat sich Henrys Pistolen geliehen und feuert sie beide auf den Eindringling ab. Getroffen stürzt der Vampir aus dem Fenster. (Es ist sehr erfrischend, dass Flora diesmal nicht als hilflose damsel in distress auftreten muss.)

In diesem Augenblick trifft Floras geliebter Charles (ein wenig verdächtig, wenn man mich fragt) zu seinem lang angekündigten Besuch ein. Wenig später stürzen auch Henry, George und Mr. Marchdale hinein, die auf dem Rückweg waren und die Pistolenschüsse gehört haben. Es gibt ein allgemeines Durcheinander, zumal Mrs. Bannerworth in Ohnmacht gefallen ist, aber interessanterweise wird sogleich deutlich, dass Charles und Mr. Marchdale sich nicht leiden können.

Nun würden mir persönlich eine Unmenge ausgesprochen banaler Gründe einfallen, warum man jemanden nicht leiden kann. Aber nach den ehernen Regeln der viktorianischen Unterhaltungsliteratur bedeutet die Abneigung, die die beiden Figuren einander entgegenbringen, dass eine von ihnen ein Schurke sein muss.

Ich überrasche mich selbst, aber ich will wissen, wie es weitergeht.

Mittwoch, 30. Juni 2021

Varney-Liveblog: Kapitel 1–5

»Art thou a spirit of health or goblin damned?«
Die Ausgabe, die ich lese, ist das E-Book von Project Gutenberg. Es beruht auf der Buchausgabe von Varney the Vampire, die im Herbst 1847 nach der Erstveröffentlichung im Penny-Dreadful-Format erschien. Insgesamt gab es 109 Hefte, von denen es anscheinend nicht alle in die Buchausgabe geschafft haben. Ich denke aber, mit 748 E-Book-Seiten hat die Buchausgabe auch so genug zu bieten.

Dem ersten Kapitel vorangestellt ist ein kurzes Vorwort, das behauptet, der Roman sei aus »authentischen Quellen« zusammengestellt. Was für Quellen das sein sollen, wird leider nicht weiter ausgeführt. Beteuert wird jedoch, dass die Titelfigur Varney eine historische Person und im Jahr 1713 gestorben sei. Eine Art Herausgeberfiktion also.

Interessant finde ich folgende Bemerkung:
A belief in the existence of Vampyres first took its rise in Norway and Sweden, from whence it rapidly spread to more southern regions, taking a firm hold of the imaginations of the more credulous portion of mankind.

Warum ausgerechnet Norwegen und Schweden? Tatsächlich stammten die ersten Berichte über Vampire, die im 18. Jahrhundert die europäischen Metropolen erreichten, vom Balkan – genauer gesagt, aus Serbien. Entsprechend spielen bedeutende Vampirgeschichten, die etwas früher als Varney  entstanden, auf dem Balkan: So etwa La Guzla von Prosper Mérimée oder A. K. Tolstois »Famille du Vourdalak«. Die allererste Vampirgeschichte in Prosa, Polidoris The Vampyre (sofern man nicht das Fragment Byrons, auf dem sie basiert, als die wirklich und wahrhaftig erste Vampirgeschichte betrachten will) beginnt und endet zwar in England, die dazwischen angesiedelte Schlüsselepisode spielt jedoch ebenfalls auf dem Balkan.

Hier jedoch wird die Herkunft des Vampirstoffs aus Skandinavien behauptet. Möglicherweise wird damit auf die zahlreichen lebenden Toten angespielt, die in der altnordischen Literatur (z.B. in den isländischen Sagas) vorkommen. Die Frage nach dem Warum ist damit natürlich nicht beantwortet. Ich kann es mir nur so erklären, dass damit die Anwesenheit eines Vampirs bzw. eines Vampirglaubens im England des frühen 18. Jahrhunderts plausibel gemacht werden soll. 

Eigentümlich finde ich auch die Bemerkung, der Vampirglaube habe sich im leichtgläubigeren Teil der Menschheit verbreitet. Ich hätte eher erwartet, dass die Existenz von Vampiren im Sinne einer suspension of disbelief eigens betont wird. Das Vorwort erklärt aber weiter, der Roman überlasse »the question of credibility« ganz den Leser:innen und denke gar nicht daran, selber Stellung zu nehmen. Mal sehen, ob das im Roman dann auch wirklich so ist.

Nun geht es endlich los. Varney the Vampire beginnt mit einer genretypischen Szene: Ein alterwürdiges Landhaus, nachts. Eine junge Frau (»formed in all fashions of loveliness«) liegt schlafend im Bett. Eine finstere Gestalt erscheint am Fenster und verschafft sich Einlass. Die junge Frau erwacht, doch die Kehle ist ihr wie zugeschnürt. Die Gestalt beugt sich über sie, hypnotisiert sie mit ihrem Blick. Und dann:

With a plunge he seizes her neck in his fang-like teeth—a gush of blood, and a hideous sucking noise follows. The girl has swooned, and the vampyre is at his hideous repast!

Eine Szene also, wie man sie dutzendfach, wenn nicht hundertfach, in Vampirfilmen gesehen hat. Nur: In Varney the Vampire kommt sie, die sich so übermäßig weit verbreitet hat, zum ersten Mal in ihrer typischen Form vor. Die Autor:innen, wer immer sie waren, haben die vampirische Szene par excellence erfunden.

Es ist zugleich die Szene des Romans, über die sich am meisten lustig gemacht wird. Das liegt nicht nur daran, dass sie als Eingangsszene so leicht aufzufinden ist. Es hat tatsächlich etwas Komisches, wie sehr sie durch erzählerische Verzögerungen in die Länge gezogen wird. Allein die Schilderung des kurzen Weges, den der Vampir vom Fenster bis zum Bett zurücklegt, nimmt mehrere Absätze ein. Zweimal bleibt er stehen, um ein abgrundtief böses Gesicht zu machen, und jedes Mal wird es ausführlich beschrieben. Dennoch ist der Beginn von Varney the Vampire ein exzellentes Beispiel dafür, wie der an sich obskure Roman im Vampirgenre bis heute fortwirkt.

Nicht verschweigen will ich das markante Äußere des Vampirs:

[The face] is perfectly white—perfectly bloodless. The eyes look like polished tin; the lips are drawn back, and the principal feature next to those dreadful eyes is the teeth—the fearful looking teeth—projecting like those of some wild animal, hideously, glaringly white, and fang-like.

Außerdem erfahren wir, dass der Vampir ungewöhnlich groß ist und lange, klauenartige Fingernägel hat – natürlich, möchte man sagen. Es wird gelegentlich behauptet (hier zum Beispiel), in Varney werde zum ersten Mal ein Vampir mit spitzen Fangzähnen beschrieben. Das stimmt nicht ganz. Vanderhausen, der grausige untote Ehemann in Sheridan Le Fanus »Strange Event in the Life of Schalken the Painter« hat nämlich »two long, discoloured fangs, which projected from the upper jaw, far below the lower lip«. Vanderhausen wird zwar nicht explizit als Vampir bezeichnet, aber sein Aussehen spricht für sich. Da Le Fanus Erzählung erstmals 1839 erschien, kommt sie zuerst.

Zurück zu Varney. Der jungen Frau, die übrigens Flora Bannerworth heißt, gelingt es schließlich doch noch, um Hilfe zu schreien. Ihre Brüder Henry und George sowie Mr. Marchdale, der eine Art väterlicher Freund der Familie zu sein scheint, stürmen ins Zimmer. Der Eindringling entkommt durchs Fenster. Mr. Marchdale und Henry gelingt es, ihn mit zwei Pistolenschüssen zu treffen, aber scheinbar unberührt klettert er über die Gartenmauer und verschwindet.

Flora, so wird ausdrücklich vermerkt, hat zwei kleine Wunden am Hals. Das scheint mir wiederum eine Premiere zu sein. In früheren Vampirgeschichten (nicht aber in der Folklore!) werden Bisswunden am Hals erwähnt, aber meines Wissens taucht hier zum ersten Mal die vor allem aus Filmen bekannte Vorstellung von zwei durch die Eckzähne entstandenen Punktierungen auf. Natürlich stehen die Bannerworths (zu denen auch die Mutter der Geschwister Flora, Henry und George gehört) und Mr. Marchdale zunächst vor einem Rätsel: Flora hat viel Blut verloren, aber abgesehen von ein paar kleinen Flecken auf der Bettwäsche ist davon keine Spur zu sehen.

Alle erwarten eine Erklärung von Mr. Marchdale, der offenbar weit gereist und gebildet ist. Eine Erklärung liefert er auch, aber erst später, gegenüber Henry, unter vier Augen. Er ist überzeugt, dass der Eindringling ein Vampir ist. Henry und Mr. Marchdale beschließen, dies zunächst für sich zu behalten, um Flora nicht zu erschrecken. Flora dann natürlich, als Henry sie das nächste Mal sieht: »It was a vampyre.« Und Henry: »Good God, who told you so?« Tja, Henry. Ein nächtlicher Eindringling – ein Biss in den Hals – starker Blutverlust. Wie konnte Flora da nur auf einen Vampir kommen?

Unterstützt wird die Vermutung dadurch, dass in Bannerworth Hall ein Bild hängt, das den mysteriösen Eindringling darzustellen scheint. Henry zufolge zeigt es Sir Runnagate Bannerworth, einen verruchten Vorfahren, der von eigener Hand gestorben sein soll.

Am nächsten Morgen wird Flora von Mr. Chillingworth, dem Arzt der Familie, untersucht. (Hier zeigt sich übrigens, wie eilig die Autor:innen es hatten. Denn warum eine Figur ausgerechnet Chillingworth nennen, wenn es bereits die Bannerworths gibt?) Der Arzt glaubt nicht an die Vampirhypothese und vermutet stattdessen, dass Flora von einem Insekt gestochen wurde. Außerdem trifft ein Brief von einem neuen Nachbarn namens Sir Francis Varney ein, der von Floras ›Krankheit‹ gehört hat und seine Unterstützung anbietet. Das ist das erste Mal seit dem Vorwort, dass namentlich von der Titelfigur die Rede ist.

Am Abend versuchen Henry, Mr. Marchdale und Mr. Chillingworth dann, den Fluchtweg des Eindringlings nachzuvollziehen. Zu ihrer Überraschung sehen sie jenseits der Gartenmauer in einiger Entfernung einen Toten auf der Erde liegen – jedenfalls scheint es ein Toter zu sein, da er völlig bewegungslos ist. Aber kaum fallen die ersten Strahlen des Vollmonds auf den Leichnam, beginnt er sich zu regen und flieht.

Wenn etwas die zeitgenössischen Leser:innen davon überzeugen sollte, dass es hier um Vampirismus geht, dann dieses Motiv. Heute sind wir weitgehend an die Vorstellung gewöhnt, dass Vampire unsterblich sind, sofern sie nicht auf eine bestimmte Art und Weise getötet werden. Am bekanntesten ist natürlich der Pfahl durchs Herz, aber auch Köpfen oder Verbrennen werden häufig genannt. Während des ersten Vampir-Booms zur Zeit der Romantik (und Varney ist ein Spätprodukt dieses Booms) konnten Vampire aber durchaus sterben, und taten es häufig. Allerdings erwachten sie jedes Mal, wenn sie vom Mond beschienen wurden, wieder zum Leben. Dieses Motiv spielt sowohl in Polidoris Vampyre als auch in Uriah Derick D’Arcys Black Vampyre (beide 1819) eine prominente Rolle. 

Übrigens handelt es sich dabei (ebenso wie bei den Fangzähnen und dem Biss in den Hals) um ein literarisches Motiv, das in der Vampirfolklore meines Wissens keine Vorbilder hat. Variiert wurde es insofern, als manchmal (wie in Varney) ausschließlich dem Vollmond eine revitalisierende Wirkung zugeschrieben wird, manchmal aber auch der Mondschein einer beliebigen Nacht für ausreichend erklärt wird.

Am Ende von Kapitel V beschließen Henry, Mr. Marchdale und Mr. Chillingworth, in der Familiengruft der Bannerworths nachzuschauen, ob der der Leichnam des verdächtigen Vorfahren dort ruht, oder, sollte er fort sein, vielleicht als Vampir umgeht.

Mal schauen, wie es weitergeht.

Dienstag, 18. Mai 2021

Graf Dracula (beißt jetzt) in Oberbayern (1979)

Regie: Carl Schenkel · Drehbuch: Grünbach & Rosenthal · Musik: Gerhard Heinz · Kamera: Heinz Hölscher · Schnitt: Jutta Hering · Produktion: Barthonia Film.

Der Münchner Erotikfotograf Stani (Gianni Garko) kehrt in sein Heimatdorf zurück. Im alten Stammschloss seiner Familie will er eine Disco und ein Hotel eröffnen. Als Publikumsmagnet bringt er vier Fotomodelle aus München mit: Mausi (Bea Fiedler), Lilo (Linda Grondier), Laurie (Laurence Kaesermann) und Georgia (Georgina Steer), die fortan in Stanis Disco strippen.

Stanis Mutter, die Gräfin (Herta Worell), ist von den Geschäftsideen ihres Sohnemanns nicht sehr angetan. Sie befürchtet, seine Pläne für das Schloss könnten »die Toten wecken«. Und in der Tat: Tief unten in den Gewölben des Schlosses regen sich Stanis untote Urgroßeltern, Graf Stanislaus (ebenfalls Gianni Garko) und Gräfin Olivia (Betty Vergès), sobald die Disco-Beats an ihre Ohren dringen.

Stanislaus und Olivia hatten eigentlich versprochen, ihre Gruft nicht mehr zu verlassen. Im Gegenzug wurden sie von Schlossverwalter Boris (Ralf Wolter) mit geklauten Blutkonserven versorgt. Aber Boris wird bei seinem letzten Beutezug auf frischer Tat ertappt, und dem gräflichen Paar knurrt der Magen.

Graf Stanislaus stellt fest, dass die Disco-Mädels die ekstatischen Gefühle, die sein Biss auslöst, sehr zu schätzen wissen. Ungehemmt knabbert er sich durch die Partyszene, die durch Stanis Aktivitäten ins beschauliche Oberbayern gelockt wurde. (Gattin Olivia tut sich etwas schwerer damit, sich in den siebziger Jahren zurechtzufinden.)

In der nahegelegenen Dorfschule unterrichtet Ellen van Helsing (Ellen Umlauf), Tochter eines prominenten Vampirjägers. Stanis Disco ist ihr ein Dorn im Auge, denn sie befürchtet, dass sie die Moral der Jugend verdirbt. Aber nie hätte sie gedacht, dass sie noch einmal den alten Familienberuf werde ausüben müssen ...

Das Subgenre der westdeutschen Vampirklamotte mit Softsex-Anteil, das mit Beiß mich Liebling! (1970) und Gebissen wird nur nachts (1971) seinen Anfang nahm, war ganz für sich schon eine etwas merkwürdige Angelegenheit. Ende der siebziger Jahre meinte irgendwer offenbar, dem noch einen draufsetzen und es mit dem Lederhosen-Sexfilm kombinieren zu müssen. Und die (Doppel-)Hauptrolle mit Italowestern-Veteran Gianni Garko zu besetzen.

Das eigentlich Bizarre ist aber, dass Regisseur Schenkel zwischendurch immer mal wieder die Lust verließ, stets nur Intimbehaarung und Discokugeln ins Bild zu nehmen. Sein Film verirrt sich hier und da in Szenen, die an echten Horror erinnern – zum Beispiel eine, die als Hommage an Hitchcocks Duschszene gesehen werden muss. Angst vor der Inkongruenz kann man Schenkel nicht vorwerfen, obwohl sich nach wenigen Minuten unweigerlich alles wieder in Klamauk auflöst.

Am Ende wird es Olivia und Stanislaus zu viel, ständig als Touri-Attraktion herhalten zu müssen, und sie flüchten entnervt in die Urheimat Transsilvanien. Folgerichtig war dieser Ausflug nach Oberbayern das letzte Mal, dass sich ein Filmstudio an diese Stilblüte von einem Subgenre heranwagte.

Die VAMPYRS: Graf Stanislaus und Gräfin Olivia.

Freitag, 30. April 2021

Varney-Liveblog

Er ist fast 800 hastig geschriebene Seiten dick. Sein Stil ist so logorrhöisch, dass aus jedem noch so banalen Handgriff, den seine Figuren tun, ein mehrere Zeilen umfassendes Ereignis wird. Wer ihn geschrieben hat, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Er ist voller Anachronismen und kann sich oft nicht mal die Namen seiner Figuren merken. Aber er hat vielleicht mehr Konventionen des Vampirgenres etabliert als irgendein anderer Text vor Bram Stoker – Varney the Vampire; or, the Feast of Blood, der Inbegriff des Penny Dreadful.

Varney the Vampire erschien zwischen 1845 und 1847 in wöchentlichen Heften. Das war die übliche Publikationsweise für die Penny Dreadfuls der viktorianischen Ära. Es erklärt zugleich die Hast, in der sie geschrieben wurden (man brauchte jede Woche was Druckfertiges), und ihre Länge (so lange die Leute es kauften, konnte man immer noch ein Heft dranhängen). Im deutschsprachigen Raum entstanden damals die Kolportageromane auf ähnliche Weise.

Varney the Vampire wird wahlweise James Malcolm Rymer und Thomas Peckett (oder Preskett) Prest zugeschrieben – und manchmal auch beiden. Rymer und Prest arbeiteten für den Verleger Edward Lloyd, in dessen Schreibfabrik Romane im Akkord entstanden. Prests Spezialität waren Dickens-Plagiate, die unter dem Pseudonym »Bos« erschienen und Titel wie Oliver Twiss und David Copperful hatten. Rymer und Prest verfassten gemeinsam den Roman A String of Pearls, in dem der teuflische Barbier Sweeney Todd seinen ersten Auftritt hatte.

Vielleicht schrieben Rymer und Prest Varney the Vampire, vielleicht auch nicht. Möglicherweise waren auch noch weitere Angestellte des Hauses E. Lloyd beteiligt. Die Frage der Autorschaft ist bei einem Werk wie diesen letztlich unbedeutend. Es kommt allein darauf an, dass es sich um »a romance of exciting interest« handelt, wie das Cover verspricht!

Interessant ist Varney the Vampire tatsächlich. Das heißt nicht, dass es sich um einen vergessenen Klassiker handelt, der auf Wiederentdeckung wartet. Dieser Roman ist unfassbar weitschweifig und nicht selten unfreiwillig komisch. Das weiß man schon nach wenigen Seiten. Aber er hatte eben auch einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Genres, der bis heute spürbar ist.

Um einen Eindruck vom Stil des Romans zu vermitteln, hier die ersten Zeilen:
The solemn tones of an old cathedral clock have announced midnight—the air is thick and heavy—a strange, death like stillness pervades all nature. Like the ominous calm which precedes some more than usually terrific outbreak of the elements, they seem to have paused even in their ordinary fluctuations, to gather a terrific strength for the great effort. A faint peal of thunder now comes from far off. Like a signal gun for the battle of the winds to begin, it appeared to awaken them from their lethargy ...

Und so geht es weiter, Seite um Seite. Man beachte den willkürlichen Tempuswechsel und den großzügigen Gebrauch des Adjektivs terrific. Überhaupt, die Adjektive. Ein »outbreak of the elements«, der nur »terrific« ist, reicht offenbar nicht aus. Er muss mindestens »more than usually terrific« sein!

Penny-Dreadful-Autor:innen wurden nach Zeilen bezahlt. Viktorianische hack writers, die für Verleger wie Lloyd arbeiteten, waren deshalb Profis im Erfinden überflüssiger Details und im Ausschmücken von Sätzen, die an sich recht simple Vorgänge beschreiben. Der Effekt des Ganzen ist, ich kann es nicht besser beschreiben, dass Varney the Vampire sich langatmig und atemlos zugleich liest.

Da ich versuchen möchte, Varney the Vampire (zum für mich ersten Mal) komplett durchzulesen, will ich hier regelmäßig über meinen Lesefortschritt berichten. Dieser Plan steht natürlich einerseits unter dem Motto »I read it so you don’t have to«. Andererseits möchte ich aber auch niemanden davon abhalten, es mit diesem in mancher Hinsicht überwältigenden alten Schinken zu versuchen. Vielleicht sieht die eine oder der andere das hier ja sogar als Anregung?

Samstag, 17. April 2021

Dracula Reborn (2012)

Regie: Patrick McManus · Drehbuch: Patrick McManus · Musik: Greg Nicolett · Kamera: Cira Felina Bolla · Schnitt: Maui Toca · Produktion: Halcyon International Pictures.

Vladimir Sakarny (Stuart Rigby) – stinkreich und aalglatt – lässt sich von Immobilienmakler Jonathan Harker (Corey Landis) ein leerstehendes Gebäude vermitteln. Das befindet sich in einem Stadtteil von Los Angeles, der unter der Kontrolle einer Latino-Straßengang steht. Sakarny betont jedoch, das Gebäude sei genau das richtige für ihn. Als Jonathan zur Unterzeichnung des Kaufvertrags in Sakarnys luxuriösem Anwesen eintrifft, bemerkt er, dass ein Gemälde an der Wand seine Frau Lina (Victoria Summer) zu zeigen scheint. Jonathan unterdrückt jedoch seine Zweifel, denn der Abschluss des Geschäfts bedeutet finanzielle Sicherheit für ihn und Lina.

Kaum ist die Tinte trocken, wird Jonathan auf der Straße von einem gewissen Quincy Morris (Krash Miller) angesprochen. Der behauptet, Sakarny habe seine Freundin Lucy (Linda Beller) ermordet ...

Wie man sieht, hatte irgendjemand die Idee, die Handlung von Dracula in das Los Angeles der Gegenwart zu verlegen. Dabei gibt es allerdings ein Problem: Im Roman kauft Graf Dracula Häuser in und um London auf, weil er seine Wirkungsstätte von Transsylvanien in die »dichtbelebten Straßen« des damaligen Weltmittelpunkts verlegen will. Er geht schlicht und einfach da hin, wo er den besten Zugriff auf die von ihm benötigten human resources hat. Warum aber sollte Draculas alter ego in diesem Film, Sakarny, eine leerstehende Immobilie in Los Angeles kaufen, wo er doch ohnehin schon in Los Angeles ansässig ist? Das wird nirgends erklärt und bewirkt, dass die weitere Handlung keinen Sinn ergibt. Sakarny eine zur Verlegung des Plots in die Gegenwart passende Motivation zu unterstellen, wurde schlicht und einfach vergessen.

Nur unzureichend übertüncht wird dies durch die Aufnahme des aus den Verfilmungen von Dan Curtis und Francis Ford Coppola bekannten Motivs, dass Dracula/Sakarny der Reinkarnation seiner verstorbenen Frau, hier Lina (sic!) Harker, begegnet. Plausibler wird die Geschichte vom Immobilien-Deal im Gangsterviertel dadurch auch nicht.

Neben den bereits genannten Figuren treten auch Entsprechungen zu Renfield (Ian Pfister), Holmwood (Preston James Hillier), Seward (Dani Lennon), van Helsing (Keith Reay) und Hawkins (Christianna Carmine) auf. Die schauspielerischen Leistungen überzeugen allesamt nicht – was nicht zuletzt daran liegen mag, dass man die wackeren Mimen Dialogzeilen sprechen lässt, die geradezu erschütternd einfältig wirken. Hinzu kommt noch, dass die Darstellung der Latino-Gangster zum Fremdschämen klischeehaft ist.

Dracula Reborn ist ein Film aus der »So schlecht, dass es schon wieder schlecht ist«-Schule. Er verfügt über keinerlei Qualitäten, die dieses Urteil irgendwie abmildern könnten. Dass er im gleichen Jahr wie Dario Argentos Dracula 3D erschien, legt die Vermutung nahe, dass er als Mockbuster konzipiert wurde.

Der VAMPYR: Vladimir Sakarny.

Mittwoch, 14. April 2021

Wolfsbane: Eisenhut oder Arnika?

Eine auffällige Veränderung, die Universals Dracula (1931) gegenüber der Romanvorlage vornimmt, ist die, dass Professor van Helsing den Grafen nicht mit Knoblauch im Schach zu halten versucht, sondern mit »wolfsbane«. Eine Pflanze dieses Namens spielt auch in Universals späterem Film The Wolf Man (1941) eine Rolle, und zwar in Form eines ominösen Reims:

Even a man who is pure in heart, and says his prayers by night;
May become a wolf when the wolfsbane blooms and the autumn moon is bright.

Hier wird also ein Zusammenhang zwischen »wolfsbane« und Lykanthropie hergestellt. Aber welche Pflanze ist damit überhaupt gemeint?

Es gibt zwei Pflanzen, die früher »wolfsbane« genannt wurden: Eisenhut und Arnika. Das hochtoxische Eisenhut wurde (behauptet jedenfalls Wikipedia) früher verwendet, um Wölfe zu vergiften. Das deutet darauf hin, dass in The Wolf Man tatsächlich Eisenhut gemeint ist.

Was Tod Brownings Dracula betrifft, hatte ich dagegen den Verdacht, dass sich »wolfsbane« auf Arnika bezieht. Arnika gehört zu den traditionellen Zauberpflanzen. Nicht zu Unrecht, denn äußerlich angewendet wirkt Arnika entzündungshemmend. (Leider kommt es im sogenannten alternativmedizinischen Milieu immer wieder zu innerlichen Anwendungen. Davon ist strikt abzuraten, denn auch Arnika ist giftig; wenn auch nicht so sehr wie Eisenhut.)

Ebenfalls spielt Arnika im katholischen Marienkult eine Rolle. Zu Mariä Himmelfahrt ist es Brauch, einen Strauß aus verschiedenen Pflanzen mit in die Kirche zu nehmen. Eine dieser Pflanzen ist Arnika. Der Brauch steht möglicherweise mit einer Legende in Verbindung, laut der in Marias leeren Grab (nach katholischem Glauben ist sie ja leiblich in den Himmel aufgefahren) ihre Lieblingsblumen und -kräuter wuchsen.

Da ist es nicht verwunderlich, dass Arnika eine apotropäische Wirkung nachgesagt wurde. Bauern steckten Arnikabüschel an die Ecken ihrer Getreidefelder. Sie sollten die Bilwisse, die Korndämonen, davon abhalten, die Ernte zu zerstören.

Warum sollte, was gegen Bilwisse hilft, nicht auch vor Vampiren schützen? Zumal Arnika in den Karpaten offenbar reichlich wächst. Der Gedanke ist verlockend, dass das Team von Brownings Dracula in irgendeiner Weise von der Folklore beeinflusst war, die sich um die Arnikapflanze rankt.

Ein Gedanke, der sich bei näherem Hinschauen allerdings nicht bestätigt. Universal ließ 1931 bekanntlich zwei Versionen von Dracula drehen: den bekannteren Film von Browning und eine spanischsprachige Fassung, bei der George Melford Regie führte. Melfords Film hält sich in vielen Details genauer an das Drehbuch. 

Das lässt einen eindeutigen Befund zu: Van Helsing (Eduardo Arozameno) bezeichnet seine Pflanze im spanischen Film als acónito, Eisenhut. Dazu erklärt er, dass mit dieser Pflanze Wölfe zum Verstummen gebracht werden können.

Damit wäre geklärt, dass es sich bei dem »wolfsbane« im Universal-Kanon um Eisenhut handelt. Ob es wirklich gegen Vampire hilft – wer weiß.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.