Mittwoch, 17. Juni 2009

Großmutter

»Mama, darf ich zur Oma gehen?«
»Nein.«
»Aber ich bin schon fertig mit Ziegen melken.«
»Trotzdem nein.«
»Aber der Oma geht’s doch nicht so gut, und ich wollte ihr was von dem frischen Brot bringen, das du gebacken hast!« sagte sie mit Tränen in den Augen.
»Na gut …«
Also ging sie los.

An einer Wegkreuzung im Wald traf sie den Warg, der sie freundlich begrüßte:
»Hallo, meine Kleine. Wo willst du denn hin?«
»Zu meiner Oma. Ich bring’ ihr frische Milch und warmes Brot.«
Der Warg hoffte, sowohl Großmutter wie auch Enkelin fressen zu können; deshalb verschlang er sie nicht auf der Stelle, sondern fragte:
»Und wo wohnt deine Oma?«
»Im Dreibuchenweiler.«
»Und welchen Weg gehst du, den hibdebach oder den dribdebach?«
»Den dribdebachenen.«
»Aber der Weg hibdebach ist doch viel breiter und leichter zu gehen! Warum nimmst du dann den schmalen und steinigen dribdebach?«
Da ging sie auf der breiten Straße weiter.

Der Warg wartete, bis das Mädchen außer Sicht war und rannte dann auf dem schmalen Pfad los, der viel kürzer war, und kam lange vor ihr am Haus der Großmutter an – und klopfte.
»Wer ist da?«
»Dein Enkelkind, mit frischer Milch und warmem Brot.«
»Die Tür ist nicht zugeriegelt, mein Schütting, du brauchst bloß zu drücken.«
Dann fraß der Warg die Großmutter.
Er tat von ihrem Fleisch etwas in der Speisekammer bei Seite, füllte etwas von ihrem Blut in einen Bembel, legte ihre Knochen in den Holzkorb, und ihre Haare tat er zum Nähgarn. Dann streifte er ihr Nachthemd über, legte sich ins Bett und zog die Vorhänge vor.

Das Mädchen trödelte auf dem Weg, jagte Schatten, fing Lichter und sang Sonnenlieder. Schließlich kam sie endlich zum Haus der Großmutter und klopfte.
»Wer ist das?«
»Dein Schütting, mit frischer Milch und warmem Brot!«
»Die Tür ist nicht zugeriegelt, mein Kind, du musst nur drücken.«

»Oma, mir ist kalt!«
»Tu noch Holz auf’s Feuer. Im Holzkorb sind noch ein paar Birkenäste.«
»Oma, ich hab’ Durst!«
»In dem Bembel da ist süßer Wein. Trink dich satt.«
»Oma, ich hab’ Hunger! Hast du was leckeres da?«
»Ja, mein Kind, in der Speisekammer ist frisches Fleisch. Das kannst du dir über’m Feuer braten.«
Als das Mädchen das Fleisch ihrer Großmutter aß, buckelte die Katze und fauchte sie an: »Kannibalin!«
»Was hat die Katze da grade gesagt?«
»Aber mein Kind, Katzen können doch gar nichts sagen! Los, setz sie vor die Tür.«

»Oma, ich hab’ Bauchweh!«
»Dann zieh dich aus, komm zu mir ins warme Bett und kuschel dich an mich; das hilft.«
»Wo soll ich meine Schürze hin tun?«
»Wirf sie ins Feuer, die brauchst du nicht mehr, ich hab’ eine neue, schönere für dich.«
»Wo soll ich mein Mieder hin tun?«
»Wirf’s ins Feuer, das brauchst du nicht mehr, ich hab’ ein neues, schöneres für dich.«
»Wo soll ich meinen Rock hin tun?«
»Wirf ihn ins Feuer, den brauchst du nicht mehr, ich hab’ einen neuen, schöneren für dich.«
»Wo soll ich mein Hemd hin tun?«
»Wirf’s ins Feuer, das brauchst du nicht mehr, ich hab’ eine neues, schöneres für dich.«
»Wo soll ich meine Strümpfe hin tun?«
»Wirf sie ins Feuer, die brauchst du nicht mehr, ich hab’ neue, schönere für dich.«
»Und wo soll ich mein Leibchen hin tun?«
»Wirf’s ins Feuer, das brauchst du nicht mehr, ich hab’ eine neues, schöneres für dich.«
Nur ihre rote Haube behielt sie auf, als sie ins Bett stieg und sich an den Warg kuschelte.

Das Mädchen sah den Warg von der Seite an.
»Oma, warum hast du denn so breite Schultern?«
»Weil ich mein Bündel Holz selbst tragen muss, mein Kind.«
»Und warum hast du so viele Haare überall?«
»Damit ich’s immer schön warm hab’, mein Kind.«
»Und warum hast du so lange Fingernägel?«
»Damit ich mich besser hinter den Ohren kratzen kann, mein Kind.«
»Und warum hast du so große Ohren?«
»Weil ich doch so schlecht höre, mein Kind.«
»Und warum hast du so große Nasenlöcher?«
»Damit ich besser Tabak schnupfen kann, mein Kind.«
»Und warum hast du so große Augen?«
»Damit ich dich genauer anschauen kann, mein hübsches Kind.«
»Und warum hast du so einen großen Mund, Oma?«
»Damit ich dich vernaschen kann, mein süßes Kind.«
Dann fraß der Warg das Mädchen.
Und wenn sie daran nicht gestorben ist, lebt sie vielleicht sogar heute noch.

1 Kommentar:

Eosphoros hat gesagt…

Basiert auf:
Paul Delarue und Marie-Louise Ténèze: Le conte populaire français – Catalogue raisonné des versions de France. Paris: Maisonneuve et Larose, 2002.
Somit also auf Versionen vor Perrault und Grimm.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.