Montag, 5. Juli 2021

Varney-Liveblog: Kapitel 6–10

Ich muss gestehen, dass ich die ersten fünf Varney-Kapitel spannender als erwartet fand. Wie viele Vampirgeschichten des 19. Jahrhunderts funktionieren sie ähnlich einem Krimi, wenn auch nach dem Motto »Who bit her?« anstelle von »Who done it?«. Was mir allerdings wie schon bei früherer (kursorischer) Lektüre des Romans auffiel, ist die ungeschickte Art, wie die Figuren eingeführt werden. Besonders im ersten Kapitel rätselt man beim Lesen ständig, wer eigentlich wer ist. Augenscheinlich wussten die Autor:innen selbst kaum etwas über ihre Figuren, als sie mit dem Schreiben begannen.

Zum Glück scheint ihnen das selber aufgefallen zu sein, denn in Kapitel VI folgt eine Vorstellung der Familie Bannerworth. Wir erfahren, dass die Bannerworths der leisure class angehören, im Lauf der letzten hundert Jahre aber den größten Teil ihres ererbten Besitzes verloren haben. Zu allem Überdruss war Floras, Henrys und Georges Vater spielsüchtig und hat den letzten Rest des Familienvermögens verzockt. Ich sage »war«, denn Mr. Bannerworth ist kurz vor Beginn des Romans auf mysteriöse Weise verstorben: Man fand ihn tot im Garten, in der Hand ein Bleistift und ein Notizbuch, in das er (offenbar im Augenblick seines Todes) die unvollständige Bemerkung »Das Geld ist –« gekritzelt hatte.

Nun ist gemäß patriarchaler Sitte Henry das Familienoberhaupt und hat jede Menge Probleme am Hals. Natürlich hat die Familie ihre zunehmende Verarmung vor den Nachbar:innen verborgen gehalten. Das geschah mit Hilfe eines entfernten Verwandten, der den Geschwistern jährlich hundert Pfund zukommen ließ. Mit diesem Geld konnten Flora, Henry und George jedes Jahr eine standesgemäße Reise auf den Kontinent unternehmen. Auf der letzten dieser Reisen lernte Flora in Italien den jungen Künstler Charles Holland kennen und verlobte sich mit ihm. Aber auch der wohltätige Verwandte ist vor einer Weile gestorben, und seitdem ist endgültig Ebbe in der Kasse der Bannerworths.

Henry bleibt jetzt eigentlich nichts weiter übrig, als Bannerworth Hall zu verkaufen und den Erlös als Startguthaben für den Einstieg in einen Beruf zu verwenden. Aber er zögert, sich von dem alten Familiensitz zu trennen. Hinzu kommt, dass Flora Charles nach ihrer ersten (und einzigen) Begegnung in Italien nach Bannerworth Hall eingeladen hat, um ihre Verlobung auf etwas offiziellere Füße zu stellen. Also muss der Verkauf des Hauses ohnehin warten, bis Charles seine Aufwartung gemacht hat.

Doch der Druck auf Henry steigt: Ein Londoner Anwalt will das Haus im Namen eines ungenannten Klienten kaufen, oder, falls das nicht möglich ist, es mieten. Dafür macht er Henry ein großzügiges finanzielles Angebot, das natürlich die Rettung vor dem endgültigen gesellschaftlichen Abstieg wäre. Bei Henry lässt die Sache aber eher das merkwürdige Gefühl zurück, dass irgendjemand sich etwas zu sehr für das Anwesen seiner Familie interessiert. (Wenn dahinter mal nicht der bislang kaum in Erscheinung getretene Sir Francis Varney steckt.)

Auch über Mr. Marchdale klärt das Kapitel auf: Er ist ein alter Verehrer Mrs. Bannerworths aus der Zeit, bevor sie den zockenden Tunichtgut Mr. Bannerworth heiratete. Seit dessen Tod ist Mr. Marchdale Dauergast in Bannerworth Hall.

Einige Leser:innen von Varney the Vampire empfinden das sechste Kapitel als langweilig und störend (hier ein Beispiel). Mir hat es gefallen. Man lernt die Figuren etwas näher kennen, und es ist ja nicht ganz uninteressant, dass die Bannerworths neben Floras ungebetenem Besucher noch andere Probleme haben. Ein Vampir allein macht schließlich keinen Roman – vor allem keinen so umfangreichen wie diesen. Außerdem bringen die Autor:innen bei der Beschreibung des verarmten Adels der Bannerworths einen unterhaltsamen Sarkasmus auf, den man ihnen gar nicht zugetraut hätte.

Den beiden folgenden Kapiteln kann ich dagegen leider kein Lob aussprechen. Henry, George, Mr. Marchdale und Mr. Chillingworth suchen die Familiengruft der Bannerworths auf, um zu überprüfen, ob das Grab des Vorfahren, den sie des Vampirismus verdächtigen, leer ist. Die Gruft befindet sich in der nahegelegenen Dorfkirche, aber bis die vier Vampirjäger dort ankommen, gibt es ein handlungsverzögerndes Hin und her, dass es zum Seufzen ist. Zu allem Überdruss fügen die Autor:innen an dieser Stelle auch noch ein Lamento über den Niedergang der englischen Kirchenarchitektur ein. Ich habe ja nichts gegen Abschweifungen, aber das ist echt zu viel des Guten.

Das wenig überraschende Ergebnis der Untersuchung: Das Grab ist leer. Mr. Chillingworth bestätigt in seiner Eigenschaft als Mediziner, dass der Sarg keine organischen Überreste enthält. Der Familienarzt spielt übrigens die Rolle des Skeptikers. Weder jetzt das leere Grab, noch zuvor die Wiederbelebung im Mondlicht überzeugen ihn, dass er es wirklich mit einem Vampir (und nicht mit einem elaborierten Schwindel) zu tun hat. Die Autor:innen legen ihm in den Dialogen des öfteren aufklärungsphilosophische Gedanken in den Mund. Die Gegenposition dazu vertritt Mr. Marchdale.

Unbedingt erwähnen muss ich den Lapsus memoriae, der den Autor:innen beim Schildern der Grabesöffnung unterläuft. Der besagte Vorfahre hieß zunächst Sir Runnagate Bannerworth. Jetzt wird er plötzlich Marmaduke Bannerworth (ohne Sir) genannt. Das, oder die vier Helden haben versehentlich das falsche Grab aufgebrochen.

Kapitel IX und X wenden sich zu meiner Erleichterung Flora zu, die mit ihrer Mutter in Bannerworth Hall zurückgeblieben ist. Einige Stunden, nachdem Floras Brüder sowie Mr. Marchdale und Mr. Chillingworth in Richtung Kirche davongetrabt sind, steigt der Vampir ein zweites Mal durchs Fenster ein. Aber Flora fackelt nicht lang. Sie hat sich Henrys Pistolen geliehen und feuert sie beide auf den Eindringling ab. Getroffen stürzt der Vampir aus dem Fenster. (Es ist sehr erfrischend, dass Flora diesmal nicht als hilflose damsel in distress auftreten muss.)

In diesem Augenblick trifft Floras geliebter Charles (ein wenig verdächtig, wenn man mich fragt) zu seinem lang angekündigten Besuch ein. Wenig später stürzen auch Henry, George und Mr. Marchdale hinein, die auf dem Rückweg waren und die Pistolenschüsse gehört haben. Es gibt ein allgemeines Durcheinander, zumal Mrs. Bannerworth in Ohnmacht gefallen ist, aber interessanterweise wird sogleich deutlich, dass Charles und Mr. Marchdale sich nicht leiden können.

Nun würden mir persönlich eine Unmenge ausgesprochen banaler Gründe einfallen, warum man jemanden nicht leiden kann. Aber nach den ehernen Regeln der viktorianischen Unterhaltungsliteratur bedeutet die Abneigung, die die beiden Figuren einander entgegenbringen, dass eine von ihnen ein Schurke sein muss.

Ich überrasche mich selbst, aber ich will wissen, wie es weitergeht.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.