Er ist fast 800 hastig geschriebene Seiten dick. Sein Stil ist so logorrhöisch, dass aus jedem noch so banalen Handgriff, den seine Figuren tun, ein mehrere Zeilen umfassendes Ereignis wird. Wer ihn geschrieben hat, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Er ist voller Anachronismen und kann sich oft nicht mal die Namen seiner Figuren merken. Aber er hat vielleicht mehr Konventionen des Vampirgenres etabliert als irgendein anderer Text vor Bram Stoker – Varney the Vampire; or, the Feast of Blood, der Inbegriff des Penny Dreadful.
Varney the Vampire erschien zwischen 1845 und 1847 in wöchentlichen Heften. Das war die übliche Publikationsweise für die Penny Dreadfuls der viktorianischen Ära. Es erklärt zugleich die Hast, in der sie geschrieben wurden (man brauchte jede Woche was Druckfertiges), und ihre Länge (so lange die Leute es kauften, konnte man immer noch ein Heft dranhängen). Im deutschsprachigen Raum entstanden damals die Kolportageromane auf ähnliche Weise.
Varney the Vampire wird wahlweise James Malcolm Rymer und Thomas Peckett (oder Preskett) Prest zugeschrieben – und manchmal auch beiden. Rymer und Prest arbeiteten für den Verleger Edward Lloyd, in dessen Schreibfabrik Romane im Akkord entstanden. Prests Spezialität waren Dickens-Plagiate, die unter dem Pseudonym »Bos« erschienen und Titel wie Oliver Twiss und David Copperful hatten. Rymer und Prest verfassten gemeinsam den Roman A String of Pearls, in dem der teuflische Barbier Sweeney Todd seinen ersten Auftritt hatte.
Vielleicht schrieben Rymer und Prest Varney the Vampire, vielleicht auch nicht. Möglicherweise waren auch noch weitere Angestellte des Hauses E. Lloyd beteiligt. Die Frage der Autorschaft ist bei einem Werk wie diesen letztlich unbedeutend. Es kommt allein darauf an, dass es sich um »a romance of exciting interest« handelt, wie das Cover verspricht!
Interessant ist Varney the Vampire tatsächlich. Das heißt nicht, dass es sich um einen vergessenen Klassiker handelt, der auf Wiederentdeckung wartet. Dieser Roman ist unfassbar weitschweifig und nicht selten unfreiwillig komisch. Das weiß man schon nach wenigen Seiten. Aber er hatte eben auch einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Genres, der bis heute spürbar ist.
Um einen Eindruck vom Stil des Romans zu vermitteln, hier die ersten Zeilen:
The solemn tones of an old cathedral clock have announced midnight—the air is thick and heavy—a strange, death like stillness pervades all nature. Like the ominous calm which precedes some more than usually terrific outbreak of the elements, they seem to have paused even in their ordinary fluctuations, to gather a terrific strength for the great effort. A faint peal of thunder now comes from far off. Like a signal gun for the battle of the winds to begin, it appeared to awaken them from their lethargy ...
Und so geht es weiter, Seite um Seite. Man beachte den willkürlichen Tempuswechsel und den großzügigen Gebrauch des Adjektivs terrific. Überhaupt, die Adjektive. Ein »outbreak of the elements«, der nur »terrific« ist, reicht offenbar nicht aus. Er muss mindestens »more than usually terrific« sein!
Penny-Dreadful-Autor:innen wurden nach Zeilen bezahlt. Viktorianische hack writers, die für Verleger wie Lloyd arbeiteten, waren deshalb Profis im Erfinden überflüssiger Details und im Ausschmücken von Sätzen, die an sich recht simple Vorgänge beschreiben. Der Effekt des Ganzen ist, ich kann es nicht besser beschreiben, dass Varney the Vampire sich langatmig und atemlos zugleich liest.
Da ich versuchen möchte, Varney the Vampire (zum für mich ersten Mal) komplett durchzulesen, will ich hier regelmäßig über meinen Lesefortschritt berichten. Dieser Plan steht natürlich einerseits unter dem Motto »I read it so you don’t have to«. Andererseits möchte ich aber auch niemanden davon abhalten, es mit diesem in mancher Hinsicht überwältigenden alten Schinken zu versuchen. Vielleicht sieht die eine oder der andere das hier ja sogar als Anregung?
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