Freitag, 30. April 2021

Varney-Liveblog

Er ist fast 800 hastig geschriebene Seiten dick. Sein Stil ist so logorrhöisch, dass aus jedem noch so banalen Handgriff, den seine Figuren tun, ein mehrere Zeilen umfassendes Ereignis wird. Wer ihn geschrieben hat, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Er ist voller Anachronismen und kann sich oft nicht mal die Namen seiner Figuren merken. Aber er hat vielleicht mehr Konventionen des Vampirgenres etabliert als irgendein anderer Text vor Bram Stoker – Varney the Vampire; or, the Feast of Blood, der Inbegriff des Penny Dreadful.

Varney the Vampire erschien zwischen 1845 und 1847 in wöchentlichen Heften. Das war die übliche Publikationsweise für die Penny Dreadfuls der viktorianischen Ära. Es erklärt zugleich die Hast, in der sie geschrieben wurden (man brauchte jede Woche was Druckfertiges), und ihre Länge (so lange die Leute es kauften, konnte man immer noch ein Heft dranhängen). Im deutschsprachigen Raum entstanden damals die Kolportageromane auf ähnliche Weise.

Varney the Vampire wird wahlweise James Malcolm Rymer und Thomas Peckett (oder Preskett) Prest zugeschrieben – und manchmal auch beiden. Rymer und Prest arbeiteten für den Verleger Edward Lloyd, in dessen Schreibfabrik Romane im Akkord entstanden. Prests Spezialität waren Dickens-Plagiate, die unter dem Pseudonym »Bos« erschienen und Titel wie Oliver Twiss und David Copperful hatten. Rymer und Prest verfassten gemeinsam den Roman A String of Pearls, in dem der teuflische Barbier Sweeney Todd seinen ersten Auftritt hatte.

Vielleicht schrieben Rymer und Prest Varney the Vampire, vielleicht auch nicht. Möglicherweise waren auch noch weitere Angestellte des Hauses E. Lloyd beteiligt. Die Frage der Autorschaft ist bei einem Werk wie diesen letztlich unbedeutend. Es kommt allein darauf an, dass es sich um »a romance of exciting interest« handelt, wie das Cover verspricht!

Interessant ist Varney the Vampire tatsächlich. Das heißt nicht, dass es sich um einen vergessenen Klassiker handelt, der auf Wiederentdeckung wartet. Dieser Roman ist unfassbar weitschweifig und nicht selten unfreiwillig komisch. Das weiß man schon nach wenigen Seiten. Aber er hatte eben auch einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Genres, der bis heute spürbar ist.

Um einen Eindruck vom Stil des Romans zu vermitteln, hier die ersten Zeilen:
The solemn tones of an old cathedral clock have announced midnight—the air is thick and heavy—a strange, death like stillness pervades all nature. Like the ominous calm which precedes some more than usually terrific outbreak of the elements, they seem to have paused even in their ordinary fluctuations, to gather a terrific strength for the great effort. A faint peal of thunder now comes from far off. Like a signal gun for the battle of the winds to begin, it appeared to awaken them from their lethargy ...

Und so geht es weiter, Seite um Seite. Man beachte den willkürlichen Tempuswechsel und den großzügigen Gebrauch des Adjektivs terrific. Überhaupt, die Adjektive. Ein »outbreak of the elements«, der nur »terrific« ist, reicht offenbar nicht aus. Er muss mindestens »more than usually terrific« sein!

Penny-Dreadful-Autor:innen wurden nach Zeilen bezahlt. Viktorianische hack writers, die für Verleger wie Lloyd arbeiteten, waren deshalb Profis im Erfinden überflüssiger Details und im Ausschmücken von Sätzen, die an sich recht simple Vorgänge beschreiben. Der Effekt des Ganzen ist, ich kann es nicht besser beschreiben, dass Varney the Vampire sich langatmig und atemlos zugleich liest.

Da ich versuchen möchte, Varney the Vampire (zum für mich ersten Mal) komplett durchzulesen, will ich hier regelmäßig über meinen Lesefortschritt berichten. Dieser Plan steht natürlich einerseits unter dem Motto »I read it so you don’t have to«. Andererseits möchte ich aber auch niemanden davon abhalten, es mit diesem in mancher Hinsicht überwältigenden alten Schinken zu versuchen. Vielleicht sieht die eine oder der andere das hier ja sogar als Anregung?

Samstag, 17. April 2021

Dracula Reborn (2012)

Regie: Patrick McManus · Drehbuch: Patrick McManus · Musik: Greg Nicolett · Kamera: Cira Felina Bolla · Schnitt: Maui Toca · Produktion: Halcyon International Pictures.

Vladimir Sakarny (Stuart Rigby) – stinkreich und aalglatt – lässt sich von Immobilienmakler Jonathan Harker (Corey Landis) ein leerstehendes Gebäude vermitteln. Das befindet sich in einem Stadtteil von Los Angeles, der unter der Kontrolle einer Latino-Straßengang steht. Sakarny betont jedoch, das Gebäude sei genau das richtige für ihn. Als Jonathan zur Unterzeichnung des Kaufvertrags in Sakarnys luxuriösem Anwesen eintrifft, bemerkt er, dass ein Gemälde an der Wand seine Frau Lina (Victoria Summer) zu zeigen scheint. Jonathan unterdrückt jedoch seine Zweifel, denn der Abschluss des Geschäfts bedeutet finanzielle Sicherheit für ihn und Lina.

Kaum ist die Tinte trocken, wird Jonathan auf der Straße von einem gewissen Quincy Morris (Krash Miller) angesprochen. Der behauptet, Sakarny habe seine Freundin Lucy (Linda Beller) ermordet ...

Wie man sieht, hatte irgendjemand die Idee, die Handlung von Dracula in das Los Angeles der Gegenwart zu verlegen. Dabei gibt es allerdings ein Problem: Im Roman kauft Graf Dracula Häuser in und um London auf, weil er seine Wirkungsstätte von Transsylvanien in die »dichtbelebten Straßen« des damaligen Weltmittelpunkts verlegen will. Er geht schlicht und einfach da hin, wo er den besten Zugriff auf die von ihm benötigten human resources hat. Warum aber sollte Draculas alter ego in diesem Film, Sakarny, eine leerstehende Immobilie in Los Angeles kaufen, wo er doch ohnehin schon in Los Angeles ansässig ist? Das wird nirgends erklärt und bewirkt, dass die weitere Handlung keinen Sinn ergibt. Sakarny eine zur Verlegung des Plots in die Gegenwart passende Motivation zu unterstellen, wurde schlicht und einfach vergessen.

Nur unzureichend übertüncht wird dies durch die Aufnahme des aus den Verfilmungen von Dan Curtis und Francis Ford Coppola bekannten Motivs, dass Dracula/Sakarny der Reinkarnation seiner verstorbenen Frau, hier Lina (sic!) Harker, begegnet. Plausibler wird die Geschichte vom Immobilien-Deal im Gangsterviertel dadurch auch nicht.

Neben den bereits genannten Figuren treten auch Entsprechungen zu Renfield (Ian Pfister), Holmwood (Preston James Hillier), Seward (Dani Lennon), van Helsing (Keith Reay) und Hawkins (Christianna Carmine) auf. Die schauspielerischen Leistungen überzeugen allesamt nicht – was nicht zuletzt daran liegen mag, dass man die wackeren Mimen Dialogzeilen sprechen lässt, die geradezu erschütternd einfältig wirken. Hinzu kommt noch, dass die Darstellung der Latino-Gangster zum Fremdschämen klischeehaft ist.

Dracula Reborn ist ein Film aus der »So schlecht, dass es schon wieder schlecht ist«-Schule. Er verfügt über keinerlei Qualitäten, die dieses Urteil irgendwie abmildern könnten. Dass er im gleichen Jahr wie Dario Argentos Dracula 3D erschien, legt die Vermutung nahe, dass er als Mockbuster konzipiert wurde.

Der VAMPYR: Vladimir Sakarny.

Mittwoch, 14. April 2021

Wolfsbane: Eisenhut oder Arnika?

Eine auffällige Veränderung, die Universals Dracula (1931) gegenüber der Romanvorlage vornimmt, ist die, dass Professor van Helsing den Grafen nicht mit Knoblauch im Schach zu halten versucht, sondern mit »wolfsbane«. Eine Pflanze dieses Namens spielt auch in Universals späterem Film The Wolf Man (1941) eine Rolle, und zwar in Form eines ominösen Reims:

Even a man who is pure in heart, and says his prayers by night;
May become a wolf when the wolfsbane blooms and the autumn moon is bright.

Hier wird also ein Zusammenhang zwischen »wolfsbane« und Lykanthropie hergestellt. Aber welche Pflanze ist damit überhaupt gemeint?

Es gibt zwei Pflanzen, die früher »wolfsbane« genannt wurden: Eisenhut und Arnika. Das hochtoxische Eisenhut wurde (behauptet jedenfalls Wikipedia) früher verwendet, um Wölfe zu vergiften. Das deutet darauf hin, dass in The Wolf Man tatsächlich Eisenhut gemeint ist.

Was Tod Brownings Dracula betrifft, hatte ich dagegen den Verdacht, dass sich »wolfsbane« auf Arnika bezieht. Arnika gehört zu den traditionellen Zauberpflanzen. Nicht zu Unrecht, denn äußerlich angewendet wirkt Arnika entzündungshemmend. (Leider kommt es im sogenannten alternativmedizinischen Milieu immer wieder zu innerlichen Anwendungen. Davon ist strikt abzuraten, denn auch Arnika ist giftig; wenn auch nicht so sehr wie Eisenhut.)

Ebenfalls spielt Arnika im katholischen Marienkult eine Rolle. Zu Mariä Himmelfahrt ist es Brauch, einen Strauß aus verschiedenen Pflanzen mit in die Kirche zu nehmen. Eine dieser Pflanzen ist Arnika. Der Brauch steht möglicherweise mit einer Legende in Verbindung, laut der in Marias leeren Grab (nach katholischem Glauben ist sie ja leiblich in den Himmel aufgefahren) ihre Lieblingsblumen und -kräuter wuchsen.

Da ist es nicht verwunderlich, dass Arnika eine apotropäische Wirkung nachgesagt wurde. Bauern steckten Arnikabüschel an die Ecken ihrer Getreidefelder. Sie sollten die Bilwisse, die Korndämonen, davon abhalten, die Ernte zu zerstören.

Warum sollte, was gegen Bilwisse hilft, nicht auch vor Vampiren schützen? Zumal Arnika in den Karpaten offenbar reichlich wächst. Der Gedanke ist verlockend, dass das Team von Brownings Dracula in irgendeiner Weise von der Folklore beeinflusst war, die sich um die Arnikapflanze rankt.

Ein Gedanke, der sich bei näherem Hinschauen allerdings nicht bestätigt. Universal ließ 1931 bekanntlich zwei Versionen von Dracula drehen: den bekannteren Film von Browning und eine spanischsprachige Fassung, bei der George Melford Regie führte. Melfords Film hält sich in vielen Details genauer an das Drehbuch. 

Das lässt einen eindeutigen Befund zu: Van Helsing (Eduardo Arozameno) bezeichnet seine Pflanze im spanischen Film als acónito, Eisenhut. Dazu erklärt er, dass mit dieser Pflanze Wölfe zum Verstummen gebracht werden können.

Damit wäre geklärt, dass es sich bei dem »wolfsbane« im Universal-Kanon um Eisenhut handelt. Ob es wirklich gegen Vampire hilft – wer weiß.

Montag, 5. April 2021

La cripta e l’incubo (1964)

Deutscher Titel: Ein Toter hing am Glockenseil · Regie: Camillo Mastrocinque · Drehbuch: Ernesto Gastaldi, Tonino Valerii · Musik: Carlo Savina · Kamera: Julio Ortas · Schnitt: Roberto Cinquini · Produktion: MEC.

Auf dem Hause Karnstein scheint ein Fluch zu lasten. Immer wieder kommen Familienangehörige auf mysteriöse Weise ums Leben. Schlimmer noch: Jeden dieser Tode erlebt die junge Laura Karnstein (Adriana Ambesi) im Traum mit. Auch sonst liegt bei der adeligen Sippe einiges im Argen. Lauras Vater, Graf Ludwig Karnstein (Christopher Lee), hat eine Affäre mit dem Dienstmädchen Annette (Véra Valmont). Die Beziehung der beiden ist deutlich von Inzestphantasien geprägt – Annette wünscht sich, Graf Ludwigs Tochter zu sein. Und dann ist da noch die Haushälterin Rowena (Nela Conjiu), die in der Gruft unter dem Familienschloss satanistische Rituale zelebriert.

Graf Ludwig lädt den jungen Historiker Friedrich Klauss (José Campos) aufs Schloss ein. Denn einen Fluch gibt es in der Geschichte der Familie tatsächlich: Vor Jahrhunderten wurde eine Karnstein von ihren eigenen Angehörigen als Hexe hingerichtet. Kurz vor ihrem Tod am Kreuz (!) kündigte sie an, sie werde sich an allen Nachfahren ihres Hauses grausam rächen. Ludwig befürchtet, Laura könne vom Geist der toten Ahnin besessen sein. Friedrich soll nun das Familienarchiv durchforsten, um herauszufinden, ob man etwas dagegen tun kann. Er macht sich sofort an die Arbeit, findet zwischendurch aber auch immer wieder Zeit, Laura anzuschmachten.

Mitten in diese Szenerie, die an sich ja schon seltsam genug ist, platzt Ljuba (Ursula Davis) hinein, ein Mädchen in Lauras Alter. Ihre Mutter (Carla Calò) muss angeblich in einer dringenden Angelegenheit verreisen und bittet Graf Ludwig, ihre Tochter unterdessen bei sich aufzunehmen. Denn Ljuba sei von zarter Gesundheit. Und Laura glaubt, in Ljuba eine Seelenverwandte gefunden zu haben ...

Laut den Autoren Ernesto Gastaldi und Tonino Valerii (der später bei einigen bedeutenden Spaghetti-Western Regie führte) wurde das Drehbuch für La cripta in nur ein bis drei Tagen fertiggestellt. Das lag daran, dass die beiden dem Studio weisgemacht hatten, sie hätten bereits ein fertiges Script vorliegen. So wollten sie möglichst schnell grünes Licht für den Film erhalten.
 
Ich frage mich nur, was genau die beiden da gepitcht haben? »Wir verfilmen ›Carmilla‹, aber so, dass es wie La maschera del demonio aussieht« vielleicht? Denn dass die Idee mit der als Hexe verurteilten Vorfahrin, die ihre Familie heimsucht, direkt aus Mario Bavas Genre-Klassiker übernommen wurde, springt förmlich ins Auge.

Dem offensichtlichen Plagiat zum Trotz vermag La cripta es auf überraschende Weise, immer interessant zu bleiben. Gastaldi und Valerii müssen das Drehbuch in einer Art écriture automatique verfasst haben, denn der Film steckt voller ausgesprochen bizarrer Elemente. Am meisten fasziniert hat mich Rowena, die satanistische Mamsell.
 
Gewöhnlich steht Satanismus im Horrorfilm entweder für das Fortleben der archaischen, heidnischen Vergangenheit (etwa in J. Lee Thompsons Eye of the Devil), für aristokratische Dekadenz (wie bei Roger Cormans Fürst Prospero) oder für das schlechthin Böse (wie in zahlreichen Filmen der siebziger Jahre). Hier aber, in La cripta, wird die Satansjüngerin als Sympathieträgerin dargestellt – und zwar ohne jede Komik. Sie feiert ihre Riten, bei denen sie u.a. Leichenteile verwendet, wie ähnlich gezeichnete Figuren in anderen Filmen ganz harmlos aus Kristallkugeln lesen mögen.

Damit geht einher, dass der Plot nicht sonderlich kohärent ist. Wer da welche Motivation zum Handeln hat, bleibt häufig im Dunkeln. Ich frage mich zum Beispiel, warum Graf Ludwig die Vorstellung, seine Tochter könne besessen sein, solche Sorgen bereitet. Der ganze Film zeigt die Karnsteins und ihren Haushalt als völlig (und nicht unsympathisch) durchgedreht. Ob die Tochter des Hauses besessen ist oder nicht, sollte dann doch eigentlich auch nicht mehr sonderlich ins Gewicht fallen.

Andere merkwürdige Details mögen Budget-Erwägungen geschuldet sein. Warum wird die Karnstein-Hexe gekreuzigt, und nicht etwa verbrannt oder ertränkt? Sicher deshalb, weil es einfacher (also kostengünstiger) darzustellen war. Aber es scheint dem Filmteam gar nicht aufgefallen zu sein, dass damit ein unterhaltsamer Hauch von Blasphemie in die Handlung Einzug hält.

Für die Regie war eigentlich Genre-Spezialist Antonio Margheriti vorgesehen, der aber mit anderen Projekten beschäftigt war. So kam es, dass der Komödienregisseur Camillo Mastrocinque einen Horrorfilm drehte. Ungewöhnlich ist auch, dass Christopher Lee hier in einem Vampirfilm auftritt, ohne den Vampir zu spielen. Zudem wird Lee keineswegs als Star des Films herausgestellt. Stand er vielleicht nur für wenige Drehtage zur Verfügung?

Die zeitgenössische Kritik reagierte stark ablehnend auf La cripta e l’incubo. Nicht zu unrecht – denn ja, der Film ist ein Plagiat, und ja, er ist verworren erzählt. Ich finde aber, dass man ihn heute, fast 60 Jahre nach dem italienischen Gothic-Horror-Boom, aus einem Blickwinkel ansehen kann, der seine (gelinde gesagt) ungewöhnlichen Elemente würdigt.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.