Mittwoch, 30. Juni 2021

Varney-Liveblog: Kapitel 1–5

»Art thou a spirit of health or goblin damned?«
Die Ausgabe, die ich lese, ist das E-Book von Project Gutenberg. Es beruht auf der Buchausgabe von Varney the Vampire, die im Herbst 1847 nach der Erstveröffentlichung im Penny-Dreadful-Format erschien. Insgesamt gab es 109 Hefte, von denen es anscheinend nicht alle in die Buchausgabe geschafft haben. Ich denke aber, mit 748 E-Book-Seiten hat die Buchausgabe auch so genug zu bieten.

Dem ersten Kapitel vorangestellt ist ein kurzes Vorwort, das behauptet, der Roman sei aus »authentischen Quellen« zusammengestellt. Was für Quellen das sein sollen, wird leider nicht weiter ausgeführt. Beteuert wird jedoch, dass die Titelfigur Varney eine historische Person und im Jahr 1713 gestorben sei. Eine Art Herausgeberfiktion also.

Interessant finde ich folgende Bemerkung:
A belief in the existence of Vampyres first took its rise in Norway and Sweden, from whence it rapidly spread to more southern regions, taking a firm hold of the imaginations of the more credulous portion of mankind.

Warum ausgerechnet Norwegen und Schweden? Tatsächlich stammten die ersten Berichte über Vampire, die im 18. Jahrhundert die europäischen Metropolen erreichten, vom Balkan – genauer gesagt, aus Serbien. Entsprechend spielen bedeutende Vampirgeschichten, die etwas früher als Varney  entstanden, auf dem Balkan: So etwa La Guzla von Prosper Mérimée oder A. K. Tolstois »Famille du Vourdalak«. Die allererste Vampirgeschichte in Prosa, Polidoris The Vampyre (sofern man nicht das Fragment Byrons, auf dem sie basiert, als die wirklich und wahrhaftig erste Vampirgeschichte betrachten will) beginnt und endet zwar in England, die dazwischen angesiedelte Schlüsselepisode spielt jedoch ebenfalls auf dem Balkan.

Hier jedoch wird die Herkunft des Vampirstoffs aus Skandinavien behauptet. Möglicherweise wird damit auf die zahlreichen lebenden Toten angespielt, die in der altnordischen Literatur (z.B. in den isländischen Sagas) vorkommen. Die Frage nach dem Warum ist damit natürlich nicht beantwortet. Ich kann es mir nur so erklären, dass damit die Anwesenheit eines Vampirs bzw. eines Vampirglaubens im England des frühen 18. Jahrhunderts plausibel gemacht werden soll. 

Eigentümlich finde ich auch die Bemerkung, der Vampirglaube habe sich im leichtgläubigeren Teil der Menschheit verbreitet. Ich hätte eher erwartet, dass die Existenz von Vampiren im Sinne einer suspension of disbelief eigens betont wird. Das Vorwort erklärt aber weiter, der Roman überlasse »the question of credibility« ganz den Leser:innen und denke gar nicht daran, selber Stellung zu nehmen. Mal sehen, ob das im Roman dann auch wirklich so ist.

Nun geht es endlich los. Varney the Vampire beginnt mit einer genretypischen Szene: Ein alterwürdiges Landhaus, nachts. Eine junge Frau (»formed in all fashions of loveliness«) liegt schlafend im Bett. Eine finstere Gestalt erscheint am Fenster und verschafft sich Einlass. Die junge Frau erwacht, doch die Kehle ist ihr wie zugeschnürt. Die Gestalt beugt sich über sie, hypnotisiert sie mit ihrem Blick. Und dann:

With a plunge he seizes her neck in his fang-like teeth—a gush of blood, and a hideous sucking noise follows. The girl has swooned, and the vampyre is at his hideous repast!

Eine Szene also, wie man sie dutzendfach, wenn nicht hundertfach, in Vampirfilmen gesehen hat. Nur: In Varney the Vampire kommt sie, die sich so übermäßig weit verbreitet hat, zum ersten Mal in ihrer typischen Form vor. Die Autor:innen, wer immer sie waren, haben die vampirische Szene par excellence erfunden.

Es ist zugleich die Szene des Romans, über die sich am meisten lustig gemacht wird. Das liegt nicht nur daran, dass sie als Eingangsszene so leicht aufzufinden ist. Es hat tatsächlich etwas Komisches, wie sehr sie durch erzählerische Verzögerungen in die Länge gezogen wird. Allein die Schilderung des kurzen Weges, den der Vampir vom Fenster bis zum Bett zurücklegt, nimmt mehrere Absätze ein. Zweimal bleibt er stehen, um ein abgrundtief böses Gesicht zu machen, und jedes Mal wird es ausführlich beschrieben. Dennoch ist der Beginn von Varney the Vampire ein exzellentes Beispiel dafür, wie der an sich obskure Roman im Vampirgenre bis heute fortwirkt.

Nicht verschweigen will ich das markante Äußere des Vampirs:

[The face] is perfectly white—perfectly bloodless. The eyes look like polished tin; the lips are drawn back, and the principal feature next to those dreadful eyes is the teeth—the fearful looking teeth—projecting like those of some wild animal, hideously, glaringly white, and fang-like.

Außerdem erfahren wir, dass der Vampir ungewöhnlich groß ist und lange, klauenartige Fingernägel hat – natürlich, möchte man sagen. Es wird gelegentlich behauptet (hier zum Beispiel), in Varney werde zum ersten Mal ein Vampir mit spitzen Fangzähnen beschrieben. Das stimmt nicht ganz. Vanderhausen, der grausige untote Ehemann in Sheridan Le Fanus »Strange Event in the Life of Schalken the Painter« hat nämlich »two long, discoloured fangs, which projected from the upper jaw, far below the lower lip«. Vanderhausen wird zwar nicht explizit als Vampir bezeichnet, aber sein Aussehen spricht für sich. Da Le Fanus Erzählung erstmals 1839 erschien, kommt sie zuerst.

Zurück zu Varney. Der jungen Frau, die übrigens Flora Bannerworth heißt, gelingt es schließlich doch noch, um Hilfe zu schreien. Ihre Brüder Henry und George sowie Mr. Marchdale, der eine Art väterlicher Freund der Familie zu sein scheint, stürmen ins Zimmer. Der Eindringling entkommt durchs Fenster. Mr. Marchdale und Henry gelingt es, ihn mit zwei Pistolenschüssen zu treffen, aber scheinbar unberührt klettert er über die Gartenmauer und verschwindet.

Flora, so wird ausdrücklich vermerkt, hat zwei kleine Wunden am Hals. Das scheint mir wiederum eine Premiere zu sein. In früheren Vampirgeschichten (nicht aber in der Folklore!) werden Bisswunden am Hals erwähnt, aber meines Wissens taucht hier zum ersten Mal die vor allem aus Filmen bekannte Vorstellung von zwei durch die Eckzähne entstandenen Punktierungen auf. Natürlich stehen die Bannerworths (zu denen auch die Mutter der Geschwister Flora, Henry und George gehört) und Mr. Marchdale zunächst vor einem Rätsel: Flora hat viel Blut verloren, aber abgesehen von ein paar kleinen Flecken auf der Bettwäsche ist davon keine Spur zu sehen.

Alle erwarten eine Erklärung von Mr. Marchdale, der offenbar weit gereist und gebildet ist. Eine Erklärung liefert er auch, aber erst später, gegenüber Henry, unter vier Augen. Er ist überzeugt, dass der Eindringling ein Vampir ist. Henry und Mr. Marchdale beschließen, dies zunächst für sich zu behalten, um Flora nicht zu erschrecken. Flora dann natürlich, als Henry sie das nächste Mal sieht: »It was a vampyre.« Und Henry: »Good God, who told you so?« Tja, Henry. Ein nächtlicher Eindringling – ein Biss in den Hals – starker Blutverlust. Wie konnte Flora da nur auf einen Vampir kommen?

Unterstützt wird die Vermutung dadurch, dass in Bannerworth Hall ein Bild hängt, das den mysteriösen Eindringling darzustellen scheint. Henry zufolge zeigt es Sir Runnagate Bannerworth, einen verruchten Vorfahren, der von eigener Hand gestorben sein soll.

Am nächsten Morgen wird Flora von Mr. Chillingworth, dem Arzt der Familie, untersucht. (Hier zeigt sich übrigens, wie eilig die Autor:innen es hatten. Denn warum eine Figur ausgerechnet Chillingworth nennen, wenn es bereits die Bannerworths gibt?) Der Arzt glaubt nicht an die Vampirhypothese und vermutet stattdessen, dass Flora von einem Insekt gestochen wurde. Außerdem trifft ein Brief von einem neuen Nachbarn namens Sir Francis Varney ein, der von Floras ›Krankheit‹ gehört hat und seine Unterstützung anbietet. Das ist das erste Mal seit dem Vorwort, dass namentlich von der Titelfigur die Rede ist.

Am Abend versuchen Henry, Mr. Marchdale und Mr. Chillingworth dann, den Fluchtweg des Eindringlings nachzuvollziehen. Zu ihrer Überraschung sehen sie jenseits der Gartenmauer in einiger Entfernung einen Toten auf der Erde liegen – jedenfalls scheint es ein Toter zu sein, da er völlig bewegungslos ist. Aber kaum fallen die ersten Strahlen des Vollmonds auf den Leichnam, beginnt er sich zu regen und flieht.

Wenn etwas die zeitgenössischen Leser:innen davon überzeugen sollte, dass es hier um Vampirismus geht, dann dieses Motiv. Heute sind wir weitgehend an die Vorstellung gewöhnt, dass Vampire unsterblich sind, sofern sie nicht auf eine bestimmte Art und Weise getötet werden. Am bekanntesten ist natürlich der Pfahl durchs Herz, aber auch Köpfen oder Verbrennen werden häufig genannt. Während des ersten Vampir-Booms zur Zeit der Romantik (und Varney ist ein Spätprodukt dieses Booms) konnten Vampire aber durchaus sterben, und taten es häufig. Allerdings erwachten sie jedes Mal, wenn sie vom Mond beschienen wurden, wieder zum Leben. Dieses Motiv spielt sowohl in Polidoris Vampyre als auch in Uriah Derick D’Arcys Black Vampyre (beide 1819) eine prominente Rolle. 

Übrigens handelt es sich dabei (ebenso wie bei den Fangzähnen und dem Biss in den Hals) um ein literarisches Motiv, das in der Vampirfolklore meines Wissens keine Vorbilder hat. Variiert wurde es insofern, als manchmal (wie in Varney) ausschließlich dem Vollmond eine revitalisierende Wirkung zugeschrieben wird, manchmal aber auch der Mondschein einer beliebigen Nacht für ausreichend erklärt wird.

Am Ende von Kapitel V beschließen Henry, Mr. Marchdale und Mr. Chillingworth, in der Familiengruft der Bannerworths nachzuschauen, ob der der Leichnam des verdächtigen Vorfahren dort ruht, oder, sollte er fort sein, vielleicht als Vampir umgeht.

Mal schauen, wie es weitergeht.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.