Montag, 23. Januar 2023

Tales Before Tolkien: Ludwig Tieck

In seiner Anthologie Tales Before Tolkien: The Roots of Modern Fantasy (2003) unternimmt Douglas A. Anderson den ambitionierten Versuch, Tolkien in eine literarische Tradition zu stellen. Kein selbstverständliches Unterfangen, denn von Tolkien wird ja gern behauptet, er habe die moderne Fantasy im Alleingang erfunden. Bei mir rennt Anderson damit offene Türen ein, denn ich bin schon seit längerer Zeit der Auffassung, dass die moderne Fantasy mit dem deutschen romantischen Kunstmärchen beginnt. Dieses wanderte, vermittelt durch Thomas Carlyle und andere, im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nach England und entfaltete dort ein Eigenleben, wie es in der recht kurzen Epoche der deutschen Romantik allein kaum möglich gewesen wäre.

Der Beweis für diese These sind umfangreiche Veröffentlichungen wie Popular Tales and Romances of the Northern Nations (1823, übersetzt u.a. von Thomas de Quincey)¹ und German Romance (1827, herausgegeben von Carlyle). Diese und andere präsentierten Erzählungen z.B. von Hoffmann, Fouqué, Tieck, Musäus dem englischen Publikum und hatten (neben Übersetzungen von Grimms Märchen) einen profunden Einfluss auf Autoren wie John Ruskin und George MacDonald, aber auch auf Charles Dickens.

Tolkien seinerseits war zwar äußerst misstrauisch gegenüber Versuchen, ›Quellen‹ und ›Einflüsse‹ seines Werks zu identifizieren. Das hat nicht wenige Fans und Nachahmer*innen in ihrer Überzeugung bestärkt, Tolkien habe den Hobbit und den Lord of the Rings quasi aus dem Nichts erschaffen. Er selbst hat dergleichen aber nie behauptet, sondern war sich der Tatsache bewusst, dass er Teil einer Tradition war. Er nannte in diesem Zusammenhang u.a. Lord Dunsany, Andrew Lang, William Morris, MacDonald und die Brüder Grimm. Oft stand Tolkien deren Werken ausgesprochen ambivalent gegenüber. Anfängliche Bewunderung konnte bei ihm in heftige Ablehnung umschlagen. Um so schwerer wiegt, dass Tolkien sich dennoch zu ihnen als Vorläufer bekannte.

Natürlich will ich damit nicht behaupten, dass das Ganze ein monokausaler Vorgang war. Denn zum einen wurden Kunstmärchen nicht nur von Deutschen geschrieben. Hans Christian Andersen war in der englischen Literaturwelt seiner Zeit ebenso beliebt oder noch beliebter. Zum anderen müsste man präziser sagen, dass es hier in erster Linie um das geht, was heute High Fantasy genannt wird. Die Sword and Sorcery hat andere Wurzeln, nämlich im viktorianischen »Lost Civilization«-Genre. Drittens ist das Kunstmärchen nicht der alleinige Ursprung der High Fantasy. Adam Roberts z.B. argumentiert, dass dem historischen Roman Walter Scotts einige Bedeutung bei der Entstehung des Genres zukommt (allerdings eine verdrängte, würde ich hinzufügen). Vor allem aber ist es wichtig, bei der Betrachtung des Genres nicht so eurozentrisch zu bleiben, wie es bis heute meist der Fall ist. Der neben dem LotR international bedeutsamste Fantasy-Roman der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Ich würde stets und ohne zu zögern behaupten, dass diese Position Amos Tutuolas Palm-Wine Drinkard zukommt.

Einige der Geschichten, die Douglas Anderson für Tales Before Tolkien gesammelt hat, haben bei mir ein paar thinky thoughts ausgelöst. Dabei will ich mich nicht zu jedem einzelnen Beitrag äußern, sondern nur ein paar Bemerkungen zu Dingen machen, die mir aufgefallen sind.

Die Anthologie beginnt mit »Die Elfen« (»The Elves«) aus Ludwig Tiecks Phantasus (1812). Zu beachten ist, dass Anderson nicht nur solche Werke aufgenommen hat, die Tolkien nachweislich beeinflusst haben. Es geht ihm daneben auch allgemeiner um die Darstellung der Tradition, die zu Tolkien geführt hat:
Some of the stories that I have chosen can be seen specifically to have inspired Tolkien, and these connections are detailed in the headnotes to the appropriate stories. I have also selected some stories whose content seems especially Tolkienian, even though there is little or no evidence that Tolkien knew the writers. And I have also chosen other stories that Tolkien almost certainly did not know in order to show some of the diversity of fantasy as it existed before The Hobbit.
»Die Elfen« gehört zur dritten Gruppe, würde ich annehmen. Anderson hat sie ausgesucht, weil sie seinem Geschmack nach das beste (oder eines der besten) deutsche Kunstmärchen ist. In meinen Augen ist das beste deutsche Kunstmärchen überhaupt Der goldne Topf. Ich würde auch behaupten, dass allein unter den Erzählungen Tiecks »Die Elfen« nicht die beste ist. Die Atmosphäre des Erhabenen, der Waldeinsamkeit, die Tieck so gut erzeugen konnte, kommt in Geschichten wie »Der blonde Eckbert« und »Der Runenberg« besser zum Tragen.

Aber Anderson kommt es auf etwas anderes an. Er sieht »Die Elfen« als Beispiel für Tolkiens Auffassung von Faërie als »perilous realm« oder Reich der Fährnisse, das man nicht durchwandern kann, ohne sich Gefahren auszusetzen. Die Geschichte der kleinen Marie, die sich unter den Elfen aufhält und bei ihrer Rückkehr in die Menschenwelt entdeckt, dass sie sieben Jahre fort war, eignet sich dafür gut, kein Zweifel. Und dass Tieck das Elfenmotiv mit sozialem Außenseitertum verknüpft, macht die Geschichte gleich noch mal interessanter.²

Obwohl ich mich Andersons Bewertung von »Die Elfen« nicht ganz anschließen kann, finde ich seine Wahl nachvollziehbar. Zudem ist die Geschichte sowohl in den Popular Tales and Romances als auch in Carlyles German Romance vertreten, was sehr schön den Zusammenhang verdeutlicht, den ich oben zu beschreiben versucht habe. Eine andere Frage ist, ob Tolkien selbst Tiecks Darstellung der Elfen gefallen hätte. Wie ungnädig er in dieser Sache sein konnte, ist bekannt. In Bezug auf Tiecks Erzählung werden wir es leider nicht erfahren.

¹ Der Titel ist auffällig, denn die drei Bände dieser Anthologie enthalten ausschließlich Erzählungen aus Deutschland. Aber von einer »German Nation« zu reden sah man damals offenbar noch keinen Anlass, schon gar nicht im Singular. Die Anthologie enthält übrigens auch eine der ersten Vampirgeschichten, »Wake Not the Dead« von Ernst Raupach.
² Der landwirtschaftliche Reichtum von Maries Dorf beruht auf der Anwesenheit der Elfen. Trotzdem werden sie von den meisten Dorfbewohner*innen als arbeitsscheu und kriminell abgetan.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.