Kürzlich habe ich nochmal His Dark Materials von Philip Pullman gelesen, diesmal auf Englisch – das hat schonmal den Vorteil, dass ich mich bei der Lektüre nicht wundern muss, warum landloper mit »Landloper« ›übersetzt‹ wurde, statt mit »Landratten« … außerdem sind die Dialoge angefüllt mit allerlei schönen Dia- und Soziolekten.
Und noch einmal lässt mich die Lektüre etwas ratlos zurück. Zugegebenermaßen weniger ratlos als nach dem ersten Lesen, da ich jetzt einen ausreichenden Überblick über die Funktionsweise von Pullmans Zweitschöpfung habe, sozusagen genug von »experimenteller Theologie« verstehe. Sogar der Verweis auf The Alamo ist mir diesmal aufgegangen, obwohl ich sonst ziemlich blind bin gegenüber Intertextualität und anderen Verweisen.
Auch mit Pullmans manchmal kindisch, fast schon lächerlich wirkenden antiklerikalen und antireligiösen Eskapaden habe ich mich inzwischen abgefunden. Persönlich angegriffen habe ich mich sowieso nie gefühlt – Pullmans Bild von der Kirche hat nicht viel mit der realen Kirche zu tun, und Pullmans »Gottesbild« hat nichts mit meinem persönlichen Gottesbild zu tun. Ich wundere mich natürlich, ob Pullman sich bewusst ist, wie viele soziale Aufgaben »die Kirche« übernimmt, also wie wichtig die Arbeit lokaler christlicher Gemeinden ist.
Und auch wenn dieser Einstieg recht negativ klingen mag, bleibt doch die Tatsache, dass ich die eintausend Seiten verschlungen und genossen habe, mitgefiebert und mir vor Spannung den Bart gerauft habe. Nach meinem Verständnis von guter Literatur sind damit die wichtigsten Kriterien für einen ›großen Wurf‹ eindeutig erfüllt!
Warum also weiß ich immer noch nicht, was ich mir aus His Dark Materials machen soll? Einerseits liegt dies wohl in der Absicht des Autoren, da er am Ende die Charaktere gleichsam durch eine Tür abtreten lässt, die er nur einen Spalt weit öffnet, durch den ein Schimmer fernen Lichts fällt, und durch den wir für einen kurzen Augenblick eine weit offene Zukunft erahnen.
Aber auf den Grund, warum ich dieses Mammut von einer Geschichte innerhalb weniger Tage gefressen habe, kann ich immer noch nicht mit dem Finger zeigen – trotzdem versuche ich es: Lyra.
Lyra lügt. Lyra kämpft wie eine Katze. Lyra ist mutig. Lyra hat Charme. Lyra ist trotzig. Lyra ist unbeirrbar. Lyra ist … Lyra eben. Die Geschichte wird getragen von Lyra – sofern Lyra sie denn zu tragen vermag.
Ich vermute, Lyra muss eine rather overwhelming personality haben, die sehr für sie einnimmt. Denn an diesem Punkt versagt Pullmans Kunst für mich – ich lese davon, dass Lee Scoresby und Iorek Byrnison und Serafina Pekkala für Lyra in den Kampf ziehen und bereit sind, für sie zu sterben – aber ich kann nicht ganz nachfühlen, warum. Ich lese davon, welchen Eindruck Lyra auf die Leute macht, die sie trifft – aber mich beeindruckt sie nicht genauso sehr. Liegt das nur an mir? Oder liegt es daran, dass Pullman es nicht so recht schafft, Lyra lebendig vor mein inneres Auge treten zu lassen?
Diesmal stieß mir bei der Lektüre besonders übel auf, wie Lyra von Will in kürzester Zeit gezähmt wird. Dieselbe Lyra, die schon Panzerbären und dem Magisterium die Stirn geboten hat, verhält sich plötzlich Will gegenüber larmoyant und unterwürfig wie ein Haustier. Hat sie etwa die ganze Zeit nur darauf gewartet, ihr burschikoses Gebaren über Bord und sich in die Arme eines männlichen Retters werfen zu können? Ich kann mir nicht helfen, das fand ich enttäuschend.
Und am Ende kann Lyra nichteinmal mehr Lügengeschichten erzählen. Was bleibt da noch von der Lyra, die alle lieben?
Immerhin, sie bleibt ein kleines Mädchen, das in die Unterwelt hinabsteigt und die Toten aus ihrer Gefangenschaft befreit – und zwar nur, weil sie ihren besten Freund verraten zu haben glaubt. Worüber ich als Leser mindestens genauso staune und lache wie Asriel. Pullmans Trick, religiöse Mythologie auf die Ebene der Fantasy herunterzuziehen, damit Gott an Altersschwäche sterben kann und lebende Menschen das Reich der Toten bereisen können, funktioniert soweit. Aber dazu muss Lyra auch teilweise zu einer mythischen Figur werden, und in Gefahr geraten, dem Leser verloren zu gehen.
Lyra also ist das Herz und die Seele der Geschichte, was Kate Bush recht schön in ihrem Titellied des Films Der Goldene Kompass ausdrückt.
Genau genommen glaube ich, dass auch Scoresby und Iorek nicht wissen, warum sie Lyra lieben. Wieso sollte ich also wissen, warum ich ihre Geschichte liebe?
1 Kommentar:
P.S.: Lyras Oxford gelesen … sie kann doch noch lügen. Fein.
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