Mittwoch, 2. Juni 2010

Wie Lateinamerika ist

So. Ende der Funkstille. Rezension.

Lateinamerika ist bekanntlich Magischer Realismus. Das heißt nicht, dass wer das sagt, auch weiß, was Magischer Realismus ist. Das heißt einfach nur, dass lateinamerikanische Schriftsteller_innen immer Magischer Realismus sind, weil das Populärwissen (außerhalb Lateinamerikas) das so will. Konkret führt das dann dazu, dass ein so stocknüchterner und erzenglischer Autor wie Borges zum Magischen Realisten erklärt wird.*

Ich weiß auch nicht so recht, was Magischer Realismus ist (Wikipedia noch weniger). Aber definieren kann man auch Dinge, von denen man nicht weiß, was sie sind. Deshalb behaupte ich: Magischer Realismus funktioniert quasi genauso wie Fantasy — im deutschen, nicht im englischen Sinne des Wortes. Was Fantasy ist (im Unterschied etwa zu SF), darüber schlagen wir Nerds uns ja bekanntlich die Köpfe ein, dabei ist es eigentlich ganz einfach. Fantasy unterscheidet sich von der gewöhnlichen Phantastik dadurch, dass sie eine Sekundärwelt möglichst kohärent schildert. In der Phantastik gibt es stets den Einbruch des Unwirklichen/-heimlichen in die altbekannte Realität. In der Fantasy ist die Realität einfach anders und unbekannt für uns Leser_innen.** In einer Fantasy-Welt wird vieles so sein wie bei uns, und einiges anders. Und was den Charakteren, die die Fantasy-Welt bevölkern, vertraut und normal erscheint, wird nicht unbedingt das in ihrer Welt sein, was uns normal erscheint, und andersrum.

Im lateinamerikanischen Magischen Realismus ist es ähnlich und deshalb ist Gioconda Bellis Bewohnte Frau (La mujer habitada) ein gutes Beispiel für Magischen Realismus. Der Roman spielt in einem fiktiven zentralamerikanischen Land (Nicaragua) mit einer fiktiven Hauptstadt Faguas (Managua), einem fiktiven Diktator, dem Großen General (Somoza d.J.), einer fiktiven Guerillabewegung (der FSLN) und einer fiktiven Protagonistin Lavinia (Belli).

Lavinia gehört der Oberschicht des Landes an, kultiviert sorgfältig ihr rebellisches Image als alleinlebende junge Frau und ist eigentlich enttäuscht von Politik, weil sie erfahren hat, wie wenig Proteste manchmal etwas ändern. Zumindest letzteres ändert sich aber schnell, denn Lavinia wird über eine Beziehungskiste in die Aktivitäten der Guerilla verstrickt. Dass die Beziehungskiste sie in letzter Instanz aber aus den Untergrundaktivitäten heraushalten will, ist machistisch und Lavinia tritt deshalb der Guerilla nicht wegen der Beziehungskiste, sondern ihr zum Trotz, selber bei.

Eigentlich hat Lavinias Widerständigkeit aber tiefere Wurzeln, und deshalb ist's Fantasy... äh, Magischer Realismus. In ihrem Garten steht nämlich ein Orangenbaum, in dem eine indigene Kriegerin (ihr Name ist mir gerade entfallen) aus der Zeit der spanischen Conquista weiterlebt. Die leistete gemeinsam mit ihrem Mann erbitterten Widerstand gegen die Konquistadoren und galt deshalb bei diesen als Hexe. Sie hat ihre eigenen Probleme — eigentlich dürfen nur Männer kämpfen, und auch noch nachdem sie ihren Kampfgeist unter Beweis gestellt hat, muss sie nach beendetem Gemetzel im Feldlager noch kochen und Wäsche waschen. Statt allerdings wie Lavinia den direkten Kampf gegen das verdammte Patriarchat aufzunehmen, räsoniert sie lieber essentialistisch-differenzfeministisch über die naturgottgegebenen Unterschiede zwischen Männlein und Weiblein. Das nervt leider mehr als nur ein wenig bei der Lektüre dieses zweiten Handlungsstrangs.

Aber zurück zur Fantasy. Lavinia bekommt nämlich, als sie sich eines Morgens ein Gläschen Frischgepressten mit Orangen aus ihrem Garten gönnt, den warrior spirit der widerständigen Differenzfeministin aus dem 16. Jahrhundert übermittelt und wird dadurch so richtig angefixt, den Großen General und seine protzig-prollig-brutale Clique zu stürzen. Vorher war die kriegerische Baumbewohnerin ziemlich enttäuscht über Lavinias mäandernde Haltung gegenüber den modernen Nachfolgern der alten Konquistadoren, aber nach dem initiatorischen O-Saft vollendet Lavinia das, was ihre historische Vorgängerin nicht mehr vermocht hat. So weit, so gut — um nicht zu viel vom Plot zu verraten.

Eine Geschichte, die also vor allem whimsical ist.*** Aber sie funktioniert und die Idee mit der O-Saft-Connection (¡Hasta la victoria siempre!) ist vollkommen kohärent. Fantasy funktioniert schließlich auch häufig. Ist halt nur immer noch ein bisschen schmuddelig, während man auch im alleröffentlichsten Zugabteil damit angeben kann, in einem García Márquez oder einem Allende zu blättern. Oder in einem Belli.

Gutes Buch. Schön zu lesen.

Gioconda Bellis Bewohnte Frau ist 1988 bei Peter Hammer erschienen. Taschenbuchausgabe: dtv 1991, 375 Seiten. Die Übersetzung besorgte Lutz Kliche.

* Was Borges von anderen lateinamerikanischen Autor_innen unterscheidet, erklärt Graham Greene literaturhistorisch in The Honorary Consul. Das müsste ich eigentlich glatt noch mal lesen, um die Verfilmung mit Richard Gere zu vergessen, die auch Bob Hoskins und Michael Caine nicht retten konnten...

** Wie unbekannt, hängt natürlich vom kreativen Vermögen und vom Bankkonto des jeweiligen Schreiberlings ab.

*** Dieses englische Wörtchen drückt unübersetzt einfach am besten aus, was man beim Lesen solcher Plots empfindet, oder nicht?

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.