Mittwoch, 14. März 2012

Der Friedhof in Prag

Das Figurenensemble von Umberto Ecos jüngstem Roman besteht, mit Ausnahme der fiktiven Hauptfigur Simone Simonini, vollständig aus historischen Personen. Dies ist allerdings, wie der Autor selbst sagt, cum grano salis zu verstehen, denn aus erzählerischen Gründen hat Eco mehrere historische Personen manchmal zu einer einzigen Romanfigur verschmolzen.

Zu Beginn des Romans ist Simonini ein alter, von Ressentiments zerfressener Mann, der als Urkundenfälscher in Paris lebt. Sein Hass auf alles, was er als anders wahrnimmt, wird nur übertroffen von der Völlerei, die seine einzige Befriedigung zu sein scheint – oder sein könnte, wenn er nicht an Gedächtnislücken litte und seine Wohnung mit einem geheimnisvollen Doppelgänger teilte, einem Abbé, der sich der Entdeckung durch Simonini immer wieder entzieht. In einem Café begegnet Simonini einem jungen jüdischen Arzt namens Froïde, der ihm empfiehlt, seine Erinnerungen, Träume und Ängste schriftlich aufzuzeichnen, um der Ursache der Bewusstseinsspaltung auf die Spur zu kommen. Simonini kommt diesem Rat nach, und seine Aufzeichnungen, ergänzt durch die Tagebucheinträge des Doppelgängers Dalla Piccola, enthalten den Großteil der Handlung des Buches. Nur gelegentlich werden sie unterbrochen von der Stimme des (stets durch Kapitälchen ausgezeichneten) auktorialen Erzählers, der ordnend und mit Erläuterungen in die von beiden Stimmen gesponnene Geschichte der modernen Paranoia eingreift. Der intradiegetischen Absicht der Figur Simonini ganz entgegengesetzt, entsteht so das Psychogramm eines autoritären Charakters im historischen Kontext, welches zugleich die Geschichte der antisemitischen Verschwörungstheorie und ihrer Folgen ist.

Simone Simonini wird als Enkel jenes Hauptmanns Simonini vorgestellt, welcher einen Brief an Napoleon schrieb, in dem er den Kaiser der Franzosen vor angeblichen jüdischen Machenschaften warnte.* Simonini der Ältere ist ein schwadronierender und geifernder Reaktionär, der seinen Enkel durch Jesuitenpatres im antimodernen Geist erziehen lässt. Simonini hasst seine klerikalen Lehrmeister, aber statt gegen sie aufzubegehren, ist er lediglich neidisch auf ihre Autorität und ihre Fähigkeit zur Manipulation. Nachdem er eine Gruppe revolutionär gesinnter Altersgenossen bei der Polizei denunziert hat, wird er – unfähig, eine bürgerliche Existenz aufzubauen – zum professionellen Fälscher, der im Auftrag verschiedener Geheimdienste eine beispiellose Karriere macht. Aufgrund dieser Tätigkeit erlebt er zahlreiche wichtige historische Ereignisse des 19. Jahrhunderts mit. Er wechselt oft die Seiten und versteht selten die wirklichen Absichten seiner Auftraggeber, interessiert sich auch nicht für sie. Wichtiger ist ihm, erfolgreich nach oben buckeln und nach unten treten zu können. Er fürchtet sich vor der Macht und nutzt Schwäche gnadenlos aus. Obwohl er in den verschiedensten politischen Zwistigkeiten eine entscheidende Rolle spielt, wird stets deutlich, dass Simonini im Grunde ein zutiefst unpolitischer Mensch ist. Er versteht die Politik nicht, weshalb sie ihm Angst macht, und er lässt sich auf die Ereignisse nur ein, wenn er sich einen Vorteil davon verspricht. Meist hält er es dabei mit der alten Ordnung, nicht weil er sie aus Überzeugung für die bessere hält, sondern weil Veränderungen ihn beklommen machen.

Simoninis Spezialität ist dabei, ganz wie zu Beginn seiner Laufbahn, die Denunziation. Er übt sie allerdings nicht mehr als Spitzel aus, sondern indem er auf fast schon industrielle Weise gefälschte Dokumente produziert, welche den Feind_innen seiner jeweiligen Auftraggeber reißerisch die schlimmsten Absichten und die wüstesten Sitten unterstellen. Im Hintergrund stehen dabei, so sehr das zeitweilige Feindbild auch wechseln mag, stets die Juden, die er von Kindheit an, darin seinem autoritären Großvater begierig nacheifernd, auf fanatische und zerstörerische Weise hasst und fürchtet. In dieser Hinsicht ist Simonini konsequent bis zum letzten. In den Protokollen der Weisen von Zion, zu derem fiktiven Verfasser der Roman ihn ernennt, dichtet er den Juden all das an, was er selber betreibt und seinen Charakter auszeichnet: Fälschung, Manipulation, Verrat, Bereicherung, Macht- und Geldgier, Rachsucht, Mord. Kurz, er projiziert all das, was ihn selber ausmacht, auf andere, und er hasst den imaginären Feind dafür um so mehr.

Im Hintergrund des in Der Friedhof in Prag gezeichneten Zeit- und Charakterbilds steht nicht allein die Psychoanalyse, sondern auch die klassischen Antisemitismustheorien von Sartre und Horkheimer/Adorno.** Durch die implizite Bezugnahme auf solche Theorien gelingt es Eco, den Antisemitismus in seiner ganzen Tragweite darzustellen, obwohl die Handlung des Romans im Jahre 1898 endet und die Nazis selbst also noch gar nicht darin vorkommen. Der Nazismus als Konsequenz des Antisemitismus ist jedoch durchaus präsent, sein zentrales Vorhaben, die Auslöschung der Judenheit, lässt Eco seine Charaktere bereits vorformulieren. Was immer man davon halten mag, dass Eco die Wirkungsgeschichte der Protokolle aus der Romanhandlung ausspart: Sein theoretischer Reflektionsrahmen ist mancher gegenwärtigen Debatte über Faschismus und Antisemitismus weit voraus.***

Es lohnt sich meines Erachtens, auf zwei zentrale Kritikpunkte einzugehen, die gegenüber Ecos Roman verschiedentlich geäußert wurden. Der erste betrifft die Frage, ob Simonini, immerhin der (schurkische) Held dieser Geschichte, bei der Leserin/beim Leser nicht Mitgefühl erregen könne, so dass die Wirkung des Romans entgegen allen guten Absichten darin bestünde, dass Verständnis für den Antisemitismus und seine Vertreter_innen geweckt würde. Diese legitime Befürchtung äußerte z.B. der Oberrabbiner von Rom (siehe auch hier). Für wichtig halte ich dabei den Hinweis, dass Simonini kein tragischer, sondern ein komischer Charakter ist. Es soll beim Lesen über ihn gelacht werden, nicht mit ihm. Das räumt aber das Problem nicht aus, ob nicht einerseits bei Simoninis Triumphen nicht doch mit ihm gelacht werden kann, und ob andererseits das Lachen über den Faschismus (in diesem Fall müsste es natürlich eher Protofaschismus heißen) nicht generell die Gefahr der Verharmlosung in sich birgt – eine offene Frage, seit sie von Chaplins Der große Diktator und Lubitschs Sein oder Nichtsein aufgeworfen wurde.

Der zweite Kritikpunkt betrifft die von Umberto Eco gewählte Gattung. Der Friedhof in Prag nimmt literarisch vor allem auf den Abenteuer- und Kolportageroman des 19. Jahrhunderts Bezug. In seiner Episodenhaftigkeit, den ständig neu auftretenden Verwirrrungen und anschließenden Entwirrungen ist er eine bewusste Imitation dieser Literaturform – nicht zufällig ist eine der im Roman auftretenden historischen Persönlichkeiten Alexandre Dumas der Ältere. Ebensowenig ein Zufall ist aber Ecos Entscheidung, einen klassischen Abenteuerroman kritisch neu zu erzählen. Sie geht vielmehr auf Ecos These zurück, wie er sie in den 1994 in Buchform erschienenen Harvard-Vorlesungen im Im Wald der Fiktionen erstmals ausführt, derzufolge die Protokolle und ihre Textvorläuferinnen maßgeblich von Spannungsromanen wie Dumas’ Joseph Balsamo und Eugène Sues Der ewige Jude beeinflusst sind, wenn sie nicht sogar offene Anleihen enthalten. Ecos erzählerisches Vorgehen lässt sich also so zusammenfassen, dass er eine politisch-hetzerische Rezeptionsweise der Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts in politisch-aufklärerischer Absicht beschreibt, indem er sie in Form von Unterhaltungsliteratur nacherzählt. Dieses Vorgehen steht im Einklang mit Ecos Postulat, dass eine Metasprache zum Zwecke der kritischen Interpretation zwar notwendig sei, sich aber nicht allzu sehr vom interpretierten Gegenstand unterscheiden müsse.**** Hat man das durchschaut und weiß es zu würdigen, dann zielt der Vorwurf, Eco versuche eine Verschwörungstheorie zu entlarven, indem er sie durch eine verschwörerische Romanhandlung erkläre, ins Leere. Auch steht die Form der Darstellung, die die eigentliche Romanhandlung als eine Art historisches Psychogramm (mit Freud als Paten) erscheinen lässt, jedem Versuch entgegen, die Handlung für bare Münze zu nehmen. In meinen Augen ist Ecos Experiment gelungen.

Der Friedhof in Prag ist scharfsinnig und überaus lesenswert. Nach der enttäuschenden Essaysammlung Im Krebsgang voran, die als Ecos letzte große Buchveröffentlichung vor diesem Roman 2007 auf Deutsch erschien, freue ich mich darüber um so mehr. Vielleicht (da bin ich mir aber selbst nicht ganz sicher) ist es sogar Ecos bester Roman seit Das Foucaultsche Pendel. Im direkten Vergleich beider Romane, die ja durch ihre Thematik verbunden sind, liest Der Friedhof in Prag sich übrigens weitaus zugänglicher. Zwar erstreckt sich die Handlung über historische Entwicklungen wie das italienische Risorgimento und die Pariser Commune, über die ich nur rudimentäres Wissen habe, aber das tut der Lesbarkeit des Romans keinen Abbruch. Die Handlung ist zudem, gemessen an Ecos erzählerischen Vorlieben, außergewöhnlich geradlinig. Einziger Wermutstropfen: Das letzte Drittel des Romans ist arg zerfasert, weil Eco unbedingt noch den Taxil-Schwindel und die Dreyfus-Affäre mit hineinbringen musste, um die Allgegenwart des Verschwörungswahns im 19. Jahrhundert zu illustrieren.

Der Friedhof in Prag von Umberto Eco (519 Seiten) erschien 2011 bei Hanser. Die Übersetzung aus dem Italienischen besorgte Burkhart Kroeber.

* Ob Hauptmann Simonini eine historische Person war, ist unklar. Der in seinem Namen verfasste Brief könnte einer Theorie zufolge auch eine Fälschung der französischen Geheimpolizei sein, die Napoleon gegen die Juden aufbringen wollte. Eco scheint den Briefschreiber für historisch zu halten (vgl. S. 513). Es wäre aber natürlich fast noch passender, wenn bereits das geschichtliche Urbild Simoninis eine Kunstfigur gewesen wäre.
** Der einzige Rezensent, der das bemerkt zu haben scheint, ist Jens Renner in der analyse & kritik (Nr. 566, 18. November 2011): »Tödliche Fälschung«.
*** Der Roman verschweigt übrigens nicht, dass es bereits im 19. Jahrhundert Antisemitismus auch von links gab.
**** Eco legt dies in dem Band Streit der Interpretationen (Philo-Verlag, Hamburg 2005) dar.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.