Es war einmal eine Sekundärwelt mit einem großen, sich in Nord-Süd-Richtung erstreckenden Kontinent. Hoch im Norden wird dieser Kontinent von einer magischen Barriere durchschnitten, die die Reiche der Menschen von den schreckenerregenden nichtmenschlichen Kreaturen trennt, die nördlich der Barriere leben. Der Nordteil der menschlich besiedelten Gebiete wird von einer uralten, verwinkelten Burg aus regiert, deren Herr ein intelligenter, mitfühlender Mensch, der aber vielleicht zu sehr auf das Ehrgefühl seiner Zeitgenoss_innen setzt. Als er in diplomatischer Mission in den Süden reist, verstrickt er sich sofort hilflos in politische Verwicklungen. Während sein älterer Sohn auf grausame Weise ermordet wird, bleibt der jüngere Sohn auf der Burg zurück. Nach einem Sturz körperlich gelähmt und seelisch verzweifelt, entdeckt er nach und nach, dass er ein übernatürliches Geheimnis in sich trägt. Zur gleichen Zeit wird auf einem anderen Kontinent ein junges Mädchen an einen eroberungslustigen Potentaten verheiratet, und Krieg liegt in der Luft...
Gut, ne? Die Inhaltsangabe bezieht sich natürlich ausschließlich auf Tad Williams’ Shadowmarch-Quartett. Etwaige Ähnlichkeiten mit einer nicht ganz unbekannten, kürzlich verfilmten Fantasyreihe sind rein zufälliger Natur. Und doch frage ich mich unwillkürlich, ob Williams vielleicht weniger der »Tolkien des 21. Jahrhunderts« ist, wie er auf Klappentexten gern genannt wird, sondern der Terry Brooks des 21. Jahrhunderts. Es lässt sich schwer abstreiten, dass Williams gern mal auf einen gerade angesagten Zug aufspringt. Die fantastische Metropole, die er in The War of the Flowers entwarf, schuldete den kurz zuvor erschienenen Hauptwerken der New-Weird-Welle das eine oder andere. Und so auch der Shadowmarch-Zyklus, der einige Grim-and-Gritty-Elemente aufnimmt (düsterer Weltenbau, viel Gewalt und politische Intrigen) und sich insbesondere von A Song of Ice and Fire inspirieren lässt. Typisch Williams ist dabei allerdings, dass er sich tatsächlich nur oberflächlicher Elemente bedient, um sie in seine eigene Erzählweise zu integieren, die bei aller Beeinflussung im Grunde immer der klassischen epischen Fantasy verpflichtet bleibt. Insofern ist meine – natürlich bewusst selektiv gehaltene – Inhaltsangabe auch kein Grund, den Zyklus von vornherein abzulehnen. Die Erzählung emanzipiert sich mit fortschreitender Seitenzahl zunehmend vom erdrückenden Vorbild.
Die Nähe zur klassischen High Fantasy zeigt sich in Shadowheart, dem vierten und abschließenden Band des Shadowmarch-Quartetts, deutlicher denn je: Zwar ist der größte Teil der Handlung mit rasanten Kämpfen angefüllt, die alle auf den einen großen Showdown hinauslaufen. Darauf folgt aber eine 120 Seiten umfassende Coda, die ruhig und melancholisch Abschied nimmt von den Charakteren, welche zuvor die Handlung temporeich vorantrieben. Die Bösen haben sich als böse erwiesen, die Guten als gut, die Überlebenden der epischen Auseinandersetzung müssen sich der mühsamen Aufgabe des Wiederaufbaus widmen und sich darüber klar werden, dass die einmal geschlagenen Wunden auch nach dem Ende des Kampfes nicht einfach verschwinden werden.
Insgesamt ist Shadowheart ein gelungener Abschlussband, der die Geschichte spannend und abwechslungsreich auf den Höhepunkt zutreiben lässt. Aber nicht nur der Plot, auch die Charakterzeichnungen weisen ungeahnte Höhen auf. Prinz Barrick etwa, der mir in den vorherigen Bänden fast nur auf die Nerven ging, entwickelt sich zu einer durchdachten und komplexen Gestalt. Prinzessin Briony besticht weiterhin als kämpferischer und intelligenter weiblicher Charakter, der Gender-Zumutungen aller Art wütend und erfolgreich zurückweist. Bekanntlich sind Heldinnen, die nicht entweder dem Klischee der höfischen Intrigantin oder dem der Kickass-Amazone entsprechen, in der gegenwärtigen epischen Fantasy noch immer eine Seltenheit. Da ist Williams wirklich etwas gelungen.
Leider gilt dies nicht für einige Nebenhandlungsstränge, die Williams nur aufzulösen vermag, in dem er völlig an den Haaren herbeigezogene Wendungen einbaut. Der Gott aus der Maschine lässt grüßen. Ärgerlicherweise tritt auch Williams’ Neigung, massenhaft Nebencharaktere mir nix, dir nix abkratzen zu lassen, damit eine zentrale Heldenfigur gerettet wird, wieder hervor. Solche Szenen enden unweigerlich damit, dass die Heldin oder der Held sich den Staub vom Ärmel klopft und weiterzieht, ohne noch einen Gedanken an die Ereignisse zu verschwenden. Man wird dadurch den Eindruck nicht los, dass Williams seine Nebencharaktere häufig ziemlich egal sind und er sie nur auf lieblose Weise ins Spiel bringt, um die Handlung voranzutreiben. Nicht gut.
Schade finde ich auch, dass die Handlung sich voll und ganz auf den Norden konzentriert. Von den Ereignissen in Hierosol erfährt man so gut wie nichts mehr. Dabei hatte Williams auch für diesen Handlungsstrang einige vielversprechende Charakter erschaffen, die nun einfach aus der Handlung verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen. Auf der anderen Seite gibt es Figuren wie den Hofnarr Puzzle, die beständig vorkommen, in diesem handlungsorientierten Zyklus aber rein gar keine Funktion erfüllen. Wahrscheinlich zeigen sich an solchen Punkten einfach die Folgen der verschiedenen Umarbeitungen, die Williams an Shadowmarch vorgenommen hat. Geplant war Shadowmarch bekanntlich, bevor es zum Romanzyklus wurde, zunächst als Fernsehserie und dann als Online-Fortsetzungsgeschichte. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Welt von Shadowmarch mit einigen Charakteren bevölkert ist, die für den Fortgang der Handlung im Endstadium des Projekts kaum mehr eine Rolle spielen. Schön ist das dennoch nicht.
Mein Resumé, den Gesamtzyklus betreffend, lautet also: Fast echt gut, aber nicht ganz, deshalb stellenweise nur ein bisschen gut. Fast immer aber spannend, außer im zweiten Band Shadowplay, was aber insbesondere in Shadowheart mehr als wett gemacht wird. Anzumerken bleibt noch, dass die britischen Trades von Orbit, in denen ich das Quartett überwiegend gelesen habe, eher schlecht lektoriert sind und manchmal sogar direkt sinnentstellende Fehler aufweisen. Cornelia Hohlfelder-von der Tanns deutsche Übersetzung ist dagegen sehr durchdacht und ausdrücklich zu würdigen, selbst wenn man mit einzelnen Entscheidungen, wie zum Beispiel der, die englischen fairies zu deutschen Elben zu machen, nicht einverstanden sein mag.
Shadowheart von Tad Williams (730 Seiten im Trade-Format) ist 2010 bei DAW (Vereinigte Staaten) und Orbit (Großbritannien) erschienen.
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