Im Untergrund von Mexicali, einer Stadt im Grenzgebiet zwischen dem mexikanischen Baja California und dem US-amerikanischen Kalifornien, liegt die Chinesca, eine unterirdische, von eingewanderten Chines_innen besiedelte Metropole, die von dem greisen Schmugglerkönig Pi Ying beherrscht wird. Es ist die Prohibitionszeit, und Pi Ying steuert mit harter Hand den Schmuggel von Alkohol in die Vereinigten Staaten. In der Kavernenstadt gibt es gerüchtehalber aber außer riesigen Mengen Alkohol noch ganz andere Geheimnisse, weshalb zwielichtige Glücksritter und Jäger exotischer Großtiere alles daran setzen, einen Zugang zur Chinesca zu finden.
Das ist, in aller Kürze und vergleichsweise spoilerfrei dargestellt, worum es in Das Auge des Drachen geht. Es ist eine straighte, schnell erzählte Abenteuergeschichte mit Fantasy-Elementen. Die Vielzahl der Handlungsorte, Viewpoints und Charaktere sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese allesamt nur die Funktion haben, den Plot möglichst spannend zu gestalten. Weit davon entfernt, eigenständige Handlungsstränge zu sein, bewegen sich sämtliche Viewpoints mit Höchstgeschwindigkeit auf den einen großen Showdown in der Chinesca zu.
Das ist so flott erzählt und liest sich so schnell, dass ich den Roman einige Male beiseite gelegt habe, um ihn nicht zu schnell durchzulesen und eventuell enttäuscht zu sein. War ich dann letztlich aber nicht. Mehr Substanz als eine abenteuerliche Handlung hat Das Auge des Drachen zwar zu keiner Zeit, aber da sich das bereits beim Anlesen des Buches bemerkbar macht, weiß man von Anfang an, worauf man sich einlässt, und das kann durchaus unterhaltsam sein. Wer gern Arturo Pérez-Reverte oder Bjarne Reuter liest und sich vorstellen kann, auch weniger Anspruchsvolles zu genießen, ist mit Das Auge des Drachen als Zwischendurchlektüre gut bedient.
Vom klassischen Abenteuerroman hat Fernández für seinen ersten ins Deutsche übersetzten Roman die koloniale Atmosphäre übernommen: Die Charaktere sind größtenteils stereotypes Personal wie Großwildjäger mit einheimischen Dienern, überhebliche Yankee-Abenteurer und machtbesessene Deutsche; vom skrupellosen chinesischen Verbrecher-Greis ganz zu schweigen. Verherrlicht wird der Kolonialismus aber nicht, die entsprechenden Figuren sind keine Sympathieträger. Der Zoo-Unternehmer Carl Hagenbeck etwa, der in seinen Zoos die berüchtigten Völkerschauen veranstaltete und im Roman in einer Nebenrolle auftritt, wird als gieriges und rassistisches Arschloch dargestellt. Explizit hinterfragt und gebrochen wird der koloniale Hintergrund jedoch nicht – dazu hätte es ein ganz anderes Buch gebraucht.
Nicht in die Irre führen lassen sollte man sich von dem Vergleich »Spielberg meets Tarantino«, den der Klappentext anstellt. Es geht bei Fernández um große Viecher und um Gangster, die sich gegenseitig auszutricksen versuchen. Daher wurde der Vergleich herbeiassoziiert, aber mehr Ähnlichkeit ist nicht. Im Grunde erweitert Das Auge des Drachen bei Suhrkamp das Segment, das bislang mit Isabel Allendes YA-Fantasies um Águila und Jaguar abgedeckt wurde, um einen Beitrag für Erwachsene. Mit Allendes Jugendbüchern (die an sich auch nicht gerade die Wucht sind) oder gar mit der ebenfalls im Frankfurter Verlagshaus erschienenen Liliana Bodoc kann Fernández sich jedoch nicht messen. Er präsentiert sich eher als eine Art lateinamerikanischer Dan Brown. Lässt man die genrebedingten Unterschiede zwischen Fernández’ Abenteuer-Fantasy-Garn und Browns Sakralverschwörungsgesülze mit wohlfeiler Heilsbotschaft beiseite, stellt man fest, dass beide in einem Maße, wie es heute nur wenige Autor_innen verfolgen, voll und ganz auf Plots mit Tempo und Cliffhangern setzen. Allerdings hat Fernández – was ihn ganz erheblich von Brown unterscheidet – zur Recherche für seinen Roman einige Geschichtsbücher gelesen. Das rechne ich ihm hoch an.
Das Auge des Drachen von Bernardo Fernández (272 Seiten) erschien 2011 bei Suhrkamp. Die Übersetzungen aus dem Spanischen besorgte Petra Strien.
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