Mittwoch, 19. August 2020

Wei Zidong

Die zweite klassische Wuxia-Geschichte, die ich vorstellen möchte, stammt aus der Geschichtensammlung Chuanqi des Pei Xing. Geschichten von wandernden Held*innen mit staunenswerten Fähigkeiten gibt es in der chinesischen Literatur schon seit frühester Zeit. Sie hatten zunächst meist die Form von Anekdoten, die in historiographische Werke aufgenommen wurden. Erst in der kulturellen Blüte der Tang-Dynastie (618–907) kam eine erzählende Prosaform auf, die es erlaubte, solche Geschichten unter dem Lesepublikum auch selbständig zirkulieren zu lassen. Der Name dieser Form ist identisch mit dem von Pei Xings Sammlung: chuanqi, »Erzählungen von wundersamen Ereignissen«. Im Westen wird diese Form oft schlicht als Tang-Novelle bezeichnet – ihr Name entspricht ja auch Goethes berühmter Definition der Novelle als Erzählung von einer unerhörten Begebenheit.

Pei Xings Sammlung ist zum größten Teil nicht erhalten. Unter seinen überlieferten Geschichten sind aber einige der berühmtesten Wuxia-Erzählungen überhaupt, wie »Nie Yinniang« und »Der Kunlun-Sklave«. Weniger bekannt ist die Geschichte von Wei Zidong, die ich hier wiedergebe.

Wuxia ist übrigens nicht das einzige Thema der chuanqi-Gattung. Weitere beliebte Sujets waren Liebesgeschichten, historische Ereignisse und Begegnungen mit Wesen aus der buddhistischen oder daoistischen Mythologie. Letzteres ist auch in »Wei Zidong« als Einfluss vorhanden.

Hier geht es direkt zur Geschichte:

»Wei Zidong« aus dem Chuanqi des Pei Xing (Tang-Dynastie).

Glossar:
  • Herrschaftsära: Chinesische Kaiser teilten die Jahre ihrer Herrschaft in verschiedene Perioden auf, die jeweils unter einem Regierungsmotto standen. Die Ära Zhenyuan des Kaisers Dezong dauerte von 785 bis 805, die Ära Kaiyuan des Kaisers Xuanzong von 713 bis 741.
  • Yaksha: Natur- bzw. Wildnisgeister aus der buddhistischen Mythologie.
  • Khakkara: Stab eines buddhistischen Mönchs. Daran sind Ringe aus Zinn befestigt, die ein klirrendes Geräusch machen.
  • Zhou Chu: siehe unten.
  • Bu: Längeneinheit, entspricht ca. 1,6 m.
  • Fünfte Nachtwache: zwischen drei und fünf Uhr morgens.
  • Zhang: Längeneinheit, entspricht ca. 3,3 m.

Wie schon in »General Pan, der alte Detektiv und das Mädchen« fällt in dieser Geschichte das Bemühen um historische Einordnung auf. Ereignisse werden datiert, und zum Schluss wird zur Validierung des Erzählten darauf hingewiesen, dass die Schädel der beiden erlegten Ungeheuer noch erhalten sind.

Deutlich ist, dass es sich eigentlich um zwei Geschichten um den Protagonisten Wei Zidong handelt, die sich zudem auffällig unterscheiden. Die erste Geschichte ist der geradlinige Bericht einer Monsterjagd, die zweite ist fast schon parabelhaft. Auch beruhen sie auf unterschiedlichen spirituellen Grundlagen: Die Menschen vor Ungeheuern und ähnlichen Bedrohungen zu schützen, ist ein Ideal des Mahayana-Buddhismus. Das Streben nach Unsterblichkeit spielt dagegen eine zentrale Rolle im Daoismus. Der Text zeigt, wie beide Traditionen koexistierten. Interessant auch die unterschiedliche Darstellung des religiösen Personals: Die buddhistischen Mönche leben im Kloster und beten, der Daoist braut alchimistische Tränke in einer Höhle.

Der Schlüssel zum Verständnis des Ganzen liegt meines Erachtens darin, dass Wei Zidong von Duan mit Zhou Chu verglichen wird. Das ist als Lob gemeint, denn Zhou Chu (eine historische Person) galt als exemplarische Gestalt. Aber der Fortgang der Erzählung zeigt, dass Wei Zidong wesentlich anders handelt als Zhou Chu.

Zhou Chu war ein berühmter General aus der Zeit der Sechs Dynastien. Im Neuen Bericht von den Geschichten der Welt des Liu Yiqing wird eine Sage über Zhou Chus Jugend erzählt: Als junger Mann sei Zhou Chu ein streitsüchtiger Schlägertyp gewesen. Die Menschen seines Heimatortes Yixing wurden damals von den Drei Plagen heimgesucht. Um Zhou Chu loszuwerden, forderten sie ihn auf, die Drei Plagen zu besiegen. Zhou Chu tötete die erste Plage, einen menschenfressenden Tiger. Er tötete die zweite Plage, einen Jiao-Drachen. Dann merkte er, dass er selbst die dritte Plage war. Zhou Chu suchte zwei konfuzianische Gelehrte auf, die ihn im rechten Weg unterwiesen. Darauf wurde er zum General und Beamten, der für seine unbeugsame Ehrlichkeit bekannt war.

Letzteres führt von der Sage zur Historie. Als Zhou Chu einmal sogar einen kaiserlichen Prinzen der Korruption anklagte, intrigierte dieser gegen ihn. Der Prinz erreichte, dass Zhou Chu den Befehl erhielt, mit nur 5.000 Soldaten ein einfallendes Barbarenheer aufzuhalten. In stoischem Gehorsam zog Zhou Chu gegen die 20.000 Mann starke feindliche Streitmacht und starb auf dem Schlachtfeld. Er wusste, dass man ihn beseitigen wollte, hielt die Pflicht zum Gehorsam aber für wichtiger.¹

Indem die Erzählung Wei Zidong mit Zhou Chu vergleicht, vergleicht sie einen Wuxia-Helden mit einem regulären Helden. Zhou Chu fängt zwar als Monsterjäger an, macht dann aber eine im konfuzianischen Sinne vorbildliche Karriere als Staatsdiener. Noch heute steht sein Name sprichwörtlich für einen Menschen, der sein Leben völlig umkrempelt.

An derlei Dingen hat Wei Zidong nicht das geringste Interesse. Statt eine Karriere anzustreben, jagt er lieber dem Traum der Unsterblichkeit nach. Zwar hat auch er kein Problem damit, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Aber er entscheidet selbst, wo und wann er das tut. Er handelt aus einem selbstbestimmten Altruismus.

Die Kritik des Konfuzianismus setzt sich fort im zweiten Teil der Erzählung. Wei Zidong durchschaut mühelos, dass die Schlange und die Frau mit der Lotosblüte Dämoninnen sind. Erst als er anfängt, selber in konfuzianischen Bahnen zu denken, scheitert er in seiner Aufgabe, das Elixier zu bewachen. Der dritte Dämon tritt als gebildeter Mann auf, der Gedichte rezitieren kann, und das ist leicht mit Tugendhaftigkeit im (neu-)konfuzianischen Sinn zu verwechseln.² Wei Zidong verhält sich ihm gegenüber unwillkürlich ehrerbietig – und verliert.

Oder besser gesagt: Er erlangt (wahrscheinlich) nicht die Unsterblichkeit. Die Reste des Elixiers,³ die Wei Zidong und der Daoist mit Quellwasser vermischt trinken, verwandeln ihn immerhin in eine Art magisches Kind. Das mag mit einer besonderen Langlebigkeit einhergehen oder auch nicht, denn was aus Wei Zidong später wurde, lässt die Erzählung ja offen.

So kommt es, dass eine nicht einmal sonderlich lange Wuxia-Geschichte eine subversive Diskussion der Drei Lehren der chinesischen Philosophie – Buddhismus, Daoismus, und Konfuzianismus – enthält.

¹ Die Geschichte lässt sich in Richard Wilhelms Chinesischen Märchen nachlesen.
² Ich bin der Auffassung, dass die Erzählung sich nicht gegen Konfuzius selbst richtet. »Konfuzianismus« meint hier eher die Weltanschauung der (sehr klassenbewussten) chinesischen Gelehrten-Beamten. Diese hatte natürlich ihre Grundlage im Werk des Konfuzius, unterwarf es aber einer fundamentalen Neuinterpretation.
³ Elixier der Unsterblichkeit, Drachen-und-Tiger-Elixier sowie Goldener Trank sind Synonyme.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.