Wei Zidong

Während der Herrschaftsära* Zhenyuan lebte ein Mann namens Wei Zidong, der für seine Rechtschaffenheit und seinen Mut bekannt war. Als er einmal eine Reise zum Berg Taibai unternahm, war er im Haus des Generals Duan zu Gast.

Duan wusste von Zidongs Tapferkeit. Eines Tages, als die beiden den Ausblick über das Tal genossen, erspähte Zidong die Umrisse eines schmalen Pfads in der Ferne. Er fragte seinen Gastgeber: »Wohin führt dieser Weg?«

General Duan erzählte: »Früher lebten zwei Mönche auf dem Gipfel des Berges. Ihr Kloster war ein großer, beeindruckender Bau, an einem Ort voller Ruhe gelegen. Es wurde während der Herrschaftsära* Kaiyuan von Schülern des Priesters Wan Hui errichtet. Es heißt, die Bauarbeiten seien von Gespenstern durchgeführt worden, denn Menschenhände hätten ein solches Werk nicht verrichten können. Später berichteten Holzfäller, die Mönche seien von Monstern verschlungen worden. Das Kloster ist nun schon seit zwei oder drei Jahren verlassen. Heute wird erzählt, zwei Yakshas* lebten auf dem Berg. Aber niemand hat es bisher gewagt, den Berg zu besteigen und nachzusehen.«

Das erregte Zidongs Unmut. Er sagte: »Ich habe geschworen, das Böse stets zu bekämpfen. Was sind schon Yakshas? Wie können sie es wagen, Menschen zu fressen? Noch heute Abend werde ich dir ihre Köpfe bringen.«

Der General versuchte, ihn umzustimmen. »Das hieße einem Tiger mit bloßen Händen entgegen treten, oder sich in einen reißenden Fluss werfen. Der Preis wird der Tod sein!«

Zidong hörte nicht auf ihn. Er nahm sein Schwert und schritt los, als ob nichts ihn aufhalten könnte. Der General bemerkte leise: »Herr Wei rennt in sein Unglück.«

Zidong kletterte über Felsen und zog sich an Baumwurzeln hoch, bis er an das Kloster kam, das still und verlassen da lag. In den Schlafkammern der Mönche standen die Türen offen. Ihre Schuhe und Khakkaras* waren noch da, die Betten waren ordentlich gemacht (wenn auch mit einer Staubschicht bedeckt). Aber im Gebetsraum war der Boden mit Graslagern wie von großen Tieren ausgelegt. An den Wänden hing das Fleisch von Wildschweinen und Kragenbären zum Trocknen. Es gab auch Woks und Kochkessel sowie Holz und trockenes Gras zum Feuermachen. Nun wusste Zidong, dass die Holzfäller die Wahrheit gesagt hatten.

Er rechnete damit, dass die Yakshas so schnell nicht zurück sein würden. Er brach eine Zypresse ab, deren Stamm ungefähr den Durchmesser eines Essschälchens hatte, und entfernte Laub und Äste. Aus dem Stamm machte er sich einen schweren Stab. Dann schloss er die Klostertür und verbarrikadierte sie mit einer steinernen Statue des Buddha.

Die Nacht brach an, doch der Mond schien hell wie Tageslicht. Noch vor Mitternacht kehrte das Yaksha, einen erlegten Hirsch tragend, zurück. Als es die Tür verschlossen vorfand, raste es vor Wut. Mit einem lauten Heulen rammte es seinen Kopf gegen die Tür. Der steinerne Buddha zerbrach in zwei Hälften und das Yaksha fiel durch die Tür. Zidong hieb ihm den Zypressenstab auf den Schädel. Ein zweiter Hieb tötete das Yaksha. Er schleifte den Kadaver ins Kloster hinein und verschloss wieder die Tür.

Gleich darauf kam das zweite Yaksha, das ebenfalls in Wut geriet, denn es erwartete, seinen Gefährten an der Klostertür anzutreffen. Es rannte laut heulend gegen die Tür an und geriet ins Stolpern. Zidong schlug zu und tötete das zweite Yaksha.

Zidong sah, dass die Yakshas Männchen und Weibchen waren, und war sich sicher, dass nicht noch mehr kommen würden. Er schloss wiederum die Tür und bereitete sich einige Stücke vom Hirsch als Abendessen zu.

Am nächsten Morgen brachte er die Köpfe der Rakshas und den Rest des Hirsches zu Duan. Der General war voller Ehrfurcht und sagte: »Du bist ein Held wie Zhou Chu!«* Er ließ den Hirsch braten und Wein ausschenken.

Die Leute kamen von nah und fern, um sich die Köpfe der Rakshas anzusehen. Da trat ein daoistischer Mönch aus der Menge hervor. Er verneigte sich vor Zidong und sagte: »Ich habe dem Herrn eine Bitte vorzutragen. Darf ich?«

Zidong erwiderte: »Sehr gern. Mein ganzes Leben bin ich denen beigestanden, die Hilfe in der Not suchen.«

Da erzählte der Mönch: »Schon immer bin ich ein frommer Anhänger des Daoismus gewesen. Meine lange und schwierige Suche nach dem Elixier der Unsterblichkeit hat mich sehr in Anspruch genommen. Vor zwei oder drei Jahren bereitete ein Heiliger einen Kessel des Drachen-und-Tiger-Elixiers für mich zu. Seitdem bin ich dabei, das Elixier in meiner Höhle zu verfeinern. Jetzt ist es beinahe vollkommen. Aber seit kurzem wird die Höhle von bösen Geistern belagert, die den Kessel angreifen und versuchen, das Elixier zu verderben. Deshalb suche ich einen Menschen von aufrechtem und entschlossenem Charakter, der den Kessel mit dem Schwert in der Hand verteidigt. Wenn das Elixier vollendet ist, werde ich es teilen. Wirst du mit mir kommen?«

Zidong war begeistert und erklärte: »Damit geht mir ein langgehegter Traum in Erfüllung!«

Da nahm er auch schon seit Schwert auf und folgte dem Daoisten. Sie erkletterten steile Klippen und hohe Gipfel. Auf halber Höhe des Taibai-Bergs lag die Felsenhöhle, in der der Mönch sein Elixier braute. Sie war etwa hundert Bu* tief. Anwesend war nur ein Schüler des Daoisten.

Der Daoist wies Zidong an: »Stell dich zur fünften Nachtwache* mit deinem Schwert am Höhleneingang auf. Wenn du ein Ungeheuer siehst, schlag sofort zu.«

Zidong sagte: »Genau so werde ich es tun.« Er entzündete eine Kerze, stellte sie an den Höhleneingang und wartete.

Bald darauf erschien eine riesige Schlange, mehrere Zhang* lang, mit goldenen Augen und schneeweißen Fangzähnen. Sie stieß eine Wolke giftigen Miasmas aus. Als sie versuchte, in die Höhle einzudringen, schlug Zidong mit dem Schwert zu. Sobald die Klinge sie am Kopf berührte, löste die Schlange sich auf wie Tau in der Morgensonne.

Nachdem die Zeit vergangen war, die man für eine Mahlzeit braucht, erschien als nächstes eine Frau. Sie war strahlend schön und hielt eine Lotosblüte. Als sie mit zierlichen Schritten näher kam, fegte Zidong die Blüte mit dem Schwert beiseite. Die Frau verschwand ebenso wie die Schlange.

Wieder verging die Zeit eines Mahles. Es dämmerte gerade, als ein daoistischer Priester auf einer Wolke vom Himmel herabschwebte. Er ritt auf einem Kranich und wurde von einer Schar Diener begleitet. Zu Zidong sprach er: »Die Dämonen sind fort. Das magische Gebräu meines Schülers ist fast reif. Wir sind gekommen, um Zeuge dessen zu sein.«

In geringer Höhe schwebend wartete der Priester, bis die Sonne vollständig aufgegangen war. Dann trat er vor die Höhle und sagte zu Zidong: »Es erfüllt uns mit Genugtuung, dass das Elixier der Unsterblichkeit des Mönchs nun fertig ist. Wir werden dir ein Gedicht vortragen.« Es lautete so:

Drei Herbste in Verehrung beugt er sich dem Heiligen.
Drache und Tiger vereint bringen den Goldenen Trank,
daher kommen langes Leben und roter Schnee.
Auf dem Gipfel des Himmelsberges
blühen Wolken bunter Schattierungen.

Die Verse überzeugten Zidong, dass er tatsächlich den Meister des Daoisten vor sich hatte. Er senkte sein Schwert und erwies dem Priester seine Ehrerbietung. Im gleichen Augenblick drangen die Besucher rasch in die Höhle ein. Der Kessel mit dem Gebräu explodierte, und die Besucher verschwanden schlagartig.

Der Daoist weinte kummervoll. Zidong machte sich schwere Vorwürfe. Dann wuschen die beiden den geborstenen Kessel in Quellwasser, das sie anschließend tranken. Zidongs Gesichtszüge wurden denen eines Kindes gleich. Er reiste in die Berge des Südens, wo sich seine Spur verlor. Die Schädel der beiden Yakshas sind noch heute in General Duans Landhaus zu sehen. Was aus dem daoistischen Mönch wurde, weiß niemand.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.