General Pan, der in der Guangde-Straße in der kaiserlichen Hauptstadt
lebte, war für seinen Mut und seine Rechtschaffenheit bekannt. Sein
voller Name ist mir nicht bekannt. Er stammte ursprünglich aus Xiangyang
und war Flussschiffer von Beruf.
Einmal, als er sein Boot am Flussufer vertäut hatte, kam ein Mönch zu
ihm und bat um Almosen. Pan nahm ihn gastlich auf, und der Mönch blieb
für mehrere Tage. Bevor er Abschied nahm, sagte er zu Pan: »Dein Blick
und dein Betragen verraten mir, dass du anders bist als die gewöhnlichen
Flussschiffer. Deine Frau und deine Kinder werden ein reich gesegnetes
Leben führen.« Er schenkte Pan eine Gebetskette aus Jadeperlen und
sagte: »Gib gut darauf acht, denn die Perlen werden dir großen Reichtum
und ein hohes Amt verschaffen.«
Pan blieb noch einige Jahre in seinem Geschäft und kam tatsächlich zu
einem stattlichen Vermögen. Später wurde er zum Offizier der
kaiserlichen Palastwache ernannt. Fortan wohnte er in einem Herrenhaus
in der Hauptstadt. Den Gebetsperlen erwies er Ehre, indem er sie in
einem bestickten Etui und dieses wiederum in einem Jadekästchen
aufbewahrte. Das Kästchen verwahrte er in einer Dharma-Stätte.* An jedem
Monatsersten holte er die Perlen hervor und betete mit ihnen.
Eines Tages öffnete er das Jadekästchen und das Etui, nur um zu
entdecken, dass die Perlen fort waren. Kästchen und Etui waren wie
gewöhnlich verschlossen. Auch sonst fehlte nichts. Pan wurde von der
Angst gepackt. Er hielt den Verlust für ein schlechtes Vorzeichen, das
den Sturz seiner Familie ankündigte.
Ein Freund Pans, der eher an einen Diebstahl glaubte, kannte einen
Beamten, der am Schiedsgericht im Amtssitz des Bürgermeisters arbeitete.
Der Beamte hieß Wang Chao und war bereits achtzig Jahre alt. Pans
Freund erzählte dem Beamten in einem vertraulichen Gespräch, was
vorgefallen war. »Bemerkenswert!«, meinte Chao. »Das war kein
gewöhnlicher Dieb. Ich werde versuchen, der Sache auf den Grund zu
gehen. Aber versprechen kann ich nichts.«
An einem sonnigen Tag, kurz nach einem erfrischenden Frühlingsregen,
überquerte Chao die Nördliche Allee an der Shengye-Straße. Da kam ihm
ein Mädchen entgegen, etwa siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Sie trug
das Haar in drei Knoten, ihre Kleidung war abgerissen, und an den Füßen
trug sie Holzschuhe. In der Allee, unter einem der Lederhülsenbäume,
spielten Jugendliche aus der nahen Kaserne Fußball. Ein verirrter Ball
flog auf das Mädchen zu. Sie nahm den Ball an und kickte ihn einige
Zhang* himmelwärts. Um das Mädchen sammelte sich eine erstaunte
Menschenmenge. Auch Chao war neugierig geworden. Er setzte sich am
Nordtor der Shengye-Straße nieder, um dem Mädchen zuzusehen.
Das Mädchen und seine Mutter arbeiteten als Näherinnen. Chao stellte
sich den beiden vor und schloss Freundschaft mit ihnen. Ihre karge
Behausung war in einem schlechten Zustand. Mutter und Tochter schliefen
auf einem irdenen Kang,* aber oft hatten sie tagelang kein Holz, um ihn
zu beheizen. Manchmal gab es allerdings wahre Köstlichkeiten zu essen,
mitunter sogar ausgesuchte Delikatessen.
Mandarinen vom Dongting-See in der Provinz Jiangsu wurden ausschließlich
an den Kaiserhof geliefert. Nur die höchsten Hofbeamten bekamen sie zu
kosten, und auf den Märkten der Hauptstadt waren sie nicht erhältlich.
Als das Mädchen Chao eine solche Mandarine schenkte, sagte sie dazu nur
beiläufig: »Jemand hat sie aus dem Palast geschmuggelt.« Chao wusste
inzwischen, was für einen starken, selbstbewussten Charakter das Mädchen
hatte, und merkte sich die Sache gut.
Als Chao schon etwa ein Jahr mit dem Mädchen und seiner Mutter bekannt
war, brachte er einmal Wein und ein Esspaket vorbei. Zu dieser
Gelegenheit sagte er zu dem Mädchen: »Dein Onkel hat etwas auf dem
Herzen, worüber er schon lange mit dir sprechen wollte. Darf ich?«
Darauf erwiderte das Mädchen: »Wir haben schon viele Geschenke und
Gunsterweise von dir erhalten. Wir bedauern sehr, dass wir dir deine
Freundlichkeit nicht vergelten können. Wenn ich irgendetwas für dich tun
kann, ich würde durch Feuer gehen, so dankbar bin ich dir.«
Chao sagte: »General Pan hat seine Jade-Gebetskette verloren. Weißt du zufällig etwas davon?«
Das Mädchen lächelte. »Wie sollte ich etwas darüber wissen?«
Chao spürte, dass sie durchaus etwas wusste, und fuhr fort: »Wenn du,
meine Nichte, die Gebetskette finden könntest, würden Pan und ich dich
mit Seide und anderen Kostbarkeiten belohnen.«
Das Mädchen antwortete: »Bitte sag es nicht weiter. Meine Freundinnen
und ich wollten uns zu jener Gelegenheit nur einen Spaß erlauben und die
Kette später wieder zurückbringen. Aber wir warteten zu lange und
fanden dann keine günstige Gelegenheit mehr. Sei im Morgengrauen an der
Pagode des Ci’en-Tempels. Ich weiß, dass die Gebetsperlen dort sind.«
Für Chao war es kein weiter Weg, und er traf rechtzeitig am Tempel ein.
Er war gerade geöffnet worden, nur die Tür der Pagode war noch
verschlossen. Das Mädchen sagte zu Chao: »Schau zur Pagode hinauf, dann
wirst du gleich etwas Interessantes sehen.« Da verschwand sie auch
schon, flink wie ein Vogel im Wind.
Plötzlich erschien sie auf dem obersten Dach der Pagode, wo das
Lebensrad angebracht war. Sie hob die Hand und winkte Chao zu. Im
nächsten Augenblick schwebte sie herab, händigte Chao die Gebetskette
aus und sagte: »Bitte bring sie zurück, und sprich nicht mehr von
Belohnung.«
Chao brachte die Perlen zu Pan und erzählte ihm von dem Mädchen. Der
General suchte Gold und Seide zusammen, um sie dem Mädchen heimlich als
Geschenk zukommen zu lassen. Aber am nächsten Morgen war die Behausung
des Mädchens leer und verlassen.
Der Gelehrte Feng Jian erfuhr, dass es in der Hauptstadt viele
solcher Heldinnen und Helden gab. Als er zum Bürgermeister ernannt
wurde, ließ er seine Mitarbeiter heimlich Nachforschungen anstellen.
Wang Chao erzählte ihm diese Geschichte, und General Pan bestätigte
jedes Wort davon.
General Pan, der alte Detektiv und das Mädchen
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Foto-Disclaimer
Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.
2 Kommentare:
Danke für die Übersetzung. Es ist immer schön, einen Blog zu entdecken, auf dem das Interesse für solche Dinge gepflegt wird.
Von dem Autor 康駢/Kang Pian der Sammlung Jutanlu 《劇談錄》 (in etwa: "Dramatische Gespräche") weiß man nichts, weder Geburts- noch Tadesdatum. Er schreibt im Vorwort, daß er die 40 Erzählungen/Anekdoten in seinem Heimatdorf in den Huanglao-Bergen gesammelt hat, als Huang Chao zwischen 881 und 884 den Kaiserthron in Chang'an usurpiert hatte und er sich vor dem Chaos des Bürgerkriegs in Sicherheit brachte. In den Dörfern habe es keinerlei Bücher oder Schriften gegeben, so daß er sich auf das Sammeln mündlicher Erzählungen verlegen mußte. Die beiden Bände tragen die Jahreszahl (umgerechnet) 895.
Dies ist das Original der Erzählung:
潘將軍失珠
京國豪士潘將軍,住光德坊 〈忘其名,時人呼爲潘鶻硉也〉 ,本居襄 漢間,常乘舟射利,因泊江壖。 有僧乞食,留之數日,盡心檀施。 僧謂潘曰:「觀爾形質器度,與衆賈不同,至於妻孥已來,皆享巨福。」因以玉念珠一穿留贈云:「寶之,不但通財,他後亦有官祿。」既而遷貿數年,藏鏹巨萬,遂均陶朱 。 其後職居左廣,列第京師,常寶念珠,貯之以繡囊玉合,置之於道場內,毎月朔則出而拜之。 一旦開合啟囊,已亡失珠矣,然而緘封若舊,他物亦無所失,於是奪魄喪精,以爲其家將破之兆。 有主藏者,嘗識京兆府停解所由王超 ,年且八十已來,因密話其事。 超曰:「異哉,此非攘竊之盜也,其試爲尋之,未知果得否。」 超他日因過勝業坊北街,時春雨新霽,有三鬟女子,年可十七八,衣裝藍縷,穿木屐,立於道側槐樹下,值軍中少年蹴鞠,接而送之,直高數丈。 於是觀者漸衆, 超獨異焉。 及罷,隨之而行,止於勝業坊北門短曲。 有母同居,蓋以紉針爲業, 超異時因以他事熟之,遂爲甥舅。 然居室甚貧,與母同臥土榻,煙焚不動者,往往經於累日,設肴羞時有水陸珍異。 呉中初進洞庭橘子,恩賜宰臣外,京輦未有此物。 密以一枚贈超云:「有人從內中出。」而稟性剛決, 超意甚疑之。 如此往來周歳矣, 超一旦攜酒食,與之從容,徐謂之曰:「舅有深誠,欲告外甥,未知如何?」女曰:「毎感重恩,恨無所答,若力有可施,必能赴湯蹈火。」 超曰:「 潘將軍失卻玉念珠,不知知否?」女子微笑曰:「從何知之?」 超揣其意不甚密藏,又曰:「外甥可尋覓,厚備繒綵酬之。」女子曰:「勿言於人。某偶與朋儕爲戲,終卻還與,因循未暇。舅來日詰旦於慈恩寺塔院相候,某知有人寄珠在此。」 超如期而往。 時寺門始開,塔戸猶鎖,女子先在,謂超曰:「少頃仰觀塔上,當有所見。」語訖而去,疾若飛
鳥,忽於相輪上舉手示超 ,然攜珠而下,謂超曰:「便可將還,勿以財帛爲意。」 超徑詣潘 ,具述其事,因以金玉繒錦密爲之贈。 明日訪之,已空室矣。
馮鉞給事常聞京師多任俠之徒,及爲尹,密詢左右,引超具述前事。 訪潘將軍,所説與超符同。
Großartig, vielen Dank für das Original – das ich mangels Sprachkenntnissen leider nicht ausfindig machen konnte. So kann ich gelegentlich die Schreibweise der Eigennamen noch etwas anpassen.
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