Der Thienemann-Verlag, der die Kinderbuch-Klassiker Otfried Preußlers herausgibt, hat kürzlich angekündigt, in einer für Sommer 2013 geplanten Ausgabe von Die kleine Hexe das N-Wort durch einen neutralen Begriff zu ersetzen, und auch sein sonstiges Verlagsprogramm auf diskriminierende Sprache zu überprüfen. Daniel Bax schildert den Hintergrund in einem taz-Artikel von letzter Woche. Bax’ sieben knappe Absätze haben 150 Kommentare hervorgerufen, in denen sich die Wutbürgerfront vor Empörung über den Verlag schier überschlägt. Ein solches Vorgehen sei typisch für »totalitäre Regime«, heißt es da, und es wird sogar gemutmaßt, Otfried Preußler sei unter Androhung von Gewalt dazu gezwungen worden, der Textänderung zuzustimmen. Bücherverbrennungen seien der unausweichliche nächste Schritt.
Nun neige ich ja zu der Ansicht, dass in den Kommentarspalten der Tageszeitungen sichtbar wird, wie der deutsche Stammtisch sein kollektives Delirium in Worte zu fassen versucht. Das wird auch vor Einführung dieser Kommentarspalten nicht anders gewesen sein, nur hat man es nicht in so geballter Form mitbekommen. Solche Leute verbrachten ihre Zeit früher, als Tageszeitungen noch ausschließlich Printmedien waren, mit dem Schreiben von Briefen an die Redaktion, nur werden die meisten davon nicht veröffentlicht, sondern von den zuständigen Redakteur_innen in den Papierkorb befördert worden sein. Liest man heute Zeitungen im Internet, ist man dagegen unter fast jedem Artikel mit einem stetig wachsenden geistigen Fäkalienhaufen konfrontiert.
Ein wenig erinnern mich die Reaktionen auf die Ankündigung des Verlags an den kollektiven Aufschrei, den der Abdruck einiger Bemerkungen Jakob Augsteins in einer Liste des Simon Wiesenthal Centers hervorgerufen hat. Da heißt es allerorten, Augstein sei unter die Top Ten der »schlimmsten Antisemiten der Welt« aufgenommen worden, und es wird so, wie es nur Deutsche können, gejammert und gegreint, dass man ja gleich als Antisemit gelte, wenn man nur ein bisschen Israel kritisiere. Andere seien doch viel schlimmer. Die dem Vorgang zugrunde liegende Denke lässt sich so zusammenfassen: Ausschließlich Nazis sind Antisemiten. Deshalb ist es ganz und gar inakzeptabel und verwerflich, jemandem, der anerkanntermaßen kein Nazi ist, Antisemitismus vorzuwerfen. Augstein ist aber kein Nazi, sondern ein blasses, allwöchentlich durch die Polit-Talkshows gereichtes Publizistensöhnchen, das es aus irgendwelchen Gründen geschafft hat, als Vordenker des linksliberalen Medienschaffens zu gelten. Antisemitisch sind also (wenn überhaupt) nur die anderen, aber keinesfalls wir guten Deutschen, die wir lediglich in rechtschaffener Manier Israel kritisieren. Einen von uns als Antisemiten zu bezeichnen, ist ein unerträglicher Tort, den man den Juden nicht verzeihen wird.
So etwas kann nur funktionieren, wenn man vor dem wirklichen Sachverhalt bewusst die Augen verschließt. Denn das Simon Wiesenthal Center hat Augstein keineswegs zu einem der schlimmsten Antisemiten der Welt erklärt (es wäre auch reichlich sinnlos, einen für schlimmer als den Rest der Bande zu erklären). Die vielbeschrieene Liste trägt nämlich den selten gelesenen Titel »2012 Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs«, also: »Top Ten der antisemitischen/anti-israelischen Verunglimpfungen 2012«. Es handelt sich um eine Liste von Äußerungen, nicht um eine Liste von Personen. Das SWC hat sogar ausdrücklich erklärt, dass man mit der Aufnahme in die Liste lediglich ein Urteil über die abgedruckten Äußerungen abgebe, nicht über die Personen, die die Äußerungen getätigt haben. Es ist ja immerhin möglich, dass jemand antisemitische Bemerkungen von sich gibt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Auch gibt das SWC seine Kriterien für diese Liste bekannt, nämlich die »drei D« Doppelmoral, Dämonisierung und Delegitimierung. Außerdem hat es angegeben, auf welche Quelle es sich bei der Einschätzung von Augsteins Äußerungen beruft.
Das alles wird in der deutschen Debatte über die Liste weitgehend ignoriert, denn würde man darauf eingehen, müsste man sich einer offenen Auseinandersetzung mit der Frage, woran man Antisemitismus eigentlich erkennen kann, stellen. Man könnte auch darüber diskutieren, ob oder in welchem Maße Augsteins Äußerungen die Kriterien der »drei D« erfüllen. Eine solche Diskussion findet aber nicht statt, denn es muss von vornherein feststehen, dass es Antisemitismus nur bei Nazis, aber nicht in unseren wohlanständigen Kreisen geben kann. Doch genug davon. Andrej Reisin hat die Lage, die ich hier nur knapp anreißen kann, auf sehr informative Weise zusammengefasst. Ich bin auf die Causa Augstein vor allem deshalb zu sprechen gekommen, weil in den Reaktionen auf den Thienemann-Verlag eine ganz ähnliche Entwicklung stattfindet: eine offene Diskussion über das, worum es eigentlich geht, muss um jeden Preis, mit jeder noch so blödsinnigen Rhetorik vermieden werden.
Es sind nicht nur die üblichen, sich in den Zeitungskommentarspalten austobenden Deppen, die in dieser Sache das Wort ergreifen. Unter dem Gaga-Titel »Onanierende Schuhe« hat Joachim Körber, der Chef der Edition Phantasia, auf Facebook eine Meinungsäußerung zu den Plänen des Hauses Thienemann abgegeben. Argumente finden sich darin nur ansatzweise, vor allem aber wird laut geschrien, der Kinderbuchverlag betreibe Zensur: »Diese Form von Zensur sollte man lassen. Und es IST Zensur, ganz gleich, welche verschleiernden Euphemismen man dafür verwendet.« Aha, es IST also Zensur, Ende der Debatte. Dabei wird die Diskussion in aller Regel dann erst interessant, wenn jemand behauptet, etwas verstehe sich von selbst oder dürfe nicht hinterfragt werden. Ein solches Hinterfragen, das man auch Ideologiekritik nennen könnte, ist hier offenbar nicht vorgesehen. Offen bleibt auch, ob eine andere »Form von Zensur« für Körber denn akzeptabel wäre, oder wo eigentlich die Grenzen seines Zensurbegriffs liegen.
Zensur bedeutet laut Duden die von staatlichen Institutionen vorgenommene Überprüfung von Medien, »besonders auf politische, gesetzliche, sittliche oder religiöse Konformität«. Es handelt sich dabei also um einen staatlichen Eingriff in die Meinungs- und Pressefreiheit. Diese Definition entspricht meines Wissens mehr oder weniger der in der Politikwissenschaft geläufigen Auffassung von Zensur.
Nicht so bei Körber. Legte man dessen Verwendung des Wortes Zensur zugrunde, dann wäre jeder Verlag, der übersetzte, sprachlich modernisierte oder gar gekürzte Klassikerausgaben herausgibt, eine finstere Zensurbehörde. Auch die Edition Phantasia müsste sich konsequenterweise diesen Vorwurf gefallen lassen. Denn letztlich ist das Vorgehen von Thienemann eine völlig alltägliche Praxis. Buchklassiker werden ständig in überarbeiteter Form herausgebracht, in mal mehr, oft weniger gelungener Art und Weise. In der Regel interessiert sich niemand dafür. Die übertriebene Aufregung, die dem Thienemann-Verlag entgegenschlägt, erklärt sich allein daraus, dass man sich die ganz spezielle Befriedigung, die in rassistischem Sprachgebrauch liegt, nicht nehmen lassen will.
Das ist zwar so, aber man hat doch eine dumpfe Ahnung davon, wie unappetitlich dieses Bedürfnis ist. Es wird deshalb eher selten ausgesprochen. Auch nicht in Körbers Facebook-Post; das übernimmt statt dessen ein gewisser Klaus Block, der Körbers Eintrag kommentiert hat und auf seiner rassistischen Sprache beharrt, weil er nicht wisse, »was daran falsch oder beleidigend sein soll«. Wohlgemerkt: Er redet von seinem eigenen Sprachgebrauch, nicht etwa von dem in alten Büchern. Blocks Bemerkung steht bislang unwidersprochen unter Körbers Post. Eine solche Haltung, die auf die legitimierende Kraft von Ignoranz vertraut, ist alles andere als selten. Man wisse nicht, was daran falsch sein soll. Man sei halt noch nie jemandem begegnet, der sich etwa vom N-Wort beleidigt fühle. Kommen solche Aussagen von Menschen, die mit dem Gebrauch des Internets vertraut sind und insofern an der medial vermittelten Öffentlichkeit teilhaben, kann man davon ausgehen, dass es sich nicht um genuine Unwissenheit handelt, sondern um eine Schutzbehauptung: Man möchte eben gerne diskriminieren. Um nicht ganz so durchsichtig dazustehen, nimmt die Schutzbehauptung gern auch mal die Form einer kleinen Geschichte ein, etwa so: Mein eigener Schwiegersohn stammt doch aus Afrika, der hat mir selber versichert, dass er nichts dagegen hat, wenn ich ihn so nenne. So etwas ist unabhängig davon, ob es tatsächlich vorgekommen sein sollte, nicht nur dumm, sondern auch dreist. Es ist, als würden Autofahrer_innen aus der Tatsache, dass manche Menschen sich in suizidaler Absicht vor Autos stürzen, das Recht ableiten, alle die Straße überquerenden Menschen zu überfahren. Es gibt zahlreiche schwarze Menschen, die sich durch den Gebrauch des N-Worts von Seiten weißer Menschen beleidigt fühlen, und dies auch kundtun. So etwas weiß man, und falls man in dieser Hinsicht vergesslich ist, wird es aus bitterer Notwendigkeit oft genug wiederholt. Wer es immer noch nicht glauben will, muss nur einmal den oben verlinkten Artikel von Daniel Bax lesen.
In Körbers Post herrscht jedoch ein anderer Diskurs. Darin heißt es:
Eher simpel gestrickte Leute [...] scheinen ja offenbar zu glauben, dass Probleme wie Rassismus ganz von selbst verschwinden, wenn man vermeintlich rassistische Begriffe verbietet. Wohl eher nicht. [...]Menschen, die gegen diskriminierenden Sprachgebrauch vorgehen, sind demnach blauäugig und verschließen die Augen vor der Wirklichkeit. Wer »vermeintlich rassistische Begriffe« wie das N-Wort so wie der Autor des Posts gebraucht, ist dagegen ein standhafter Antirassist, der üble Dinge beim Namen nennt, um desto besser gegen sie vorgehen zu können. Um dies zu untermauern, bedient Körber sich eines Vergleichs:
Gegen Missstände und Probleme wie Rechtsradikalismus, Rassismus, Schwulen/Lesbenhass, Engstirnigkeit usw. muss man aktiv und mit allem Nachdruck vorgehen, und darum ist es umso wichtiger, dass Schriftsteller und Künstler die Dinge beim Namen nennen, Salz in offene Wunden streuen dürfen – und KÖNNEN, und nicht, dass man ihnen zu einem vermeintlich guten Zweck das Maul verbietet.
Gewalt gegen Frauen hört nicht auf, wenn wir das Wort »Vergewaltigung« aus dem Duden streichen oder uns ein beschönigendes Synonym dafür ausdenken. Und das Morden in Kriegen wird nicht dadurch besser, dass man es »staatlich sanktionierte politische Maßnahmen unter Zuhilfenahme potenziell gefährlicher Handfeuerwaffen mit möglicherweise letalen Folgen« nennt.Auch abgesehen davon, dass die Gleichsetzung von Vergewaltigung und Töten im Krieg problematisch ist, handelt es sich hier um einen völlig unangemessenen rhetorischen Trick, der nur oberflächlich wie eine Begründung von Körbers Haltung wirkt. Eine Vergewaltigung reißt zwar oft auch seelische Wunden, aber in erster Linie stellt sie einen Akt körperlicher Gewalt dar. Den schafft man natürlich nicht aus der Welt, wenn man ihn bei einem anderen, möglicherweise verharmlosenden Namen nennt. Wenn Weiße das N-Wort verwenden, handelt es sich jedoch um eine Beleidigung, und eine solche ist sehr wohl aus der Welt zu schaffen, indem man sich keiner beleidigenden Ausdrücke (ob sprachlich oder sonstwie beschaffen) bedient.
Aber Körber zufolge geht es ja um etwas anderes. Er unterstellt, wer zum Verzicht auf diskriminierende Sprache aufruft, wolle dadurch Rassismus »verschwinden« lassen. Eine solche Annahme wäre in der Tat »simpel gestrickt«. Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, dass sich nicht nur auf sprachlicher Ebene äußert. Körber fordert denn auch: »Man sorge dafür, dass hässliche gesellschaftliche Wunden wie Rassismus usw. verschwinden, indem man deren Ursachen bekämpft – durch Aufklärung, Bildung, was auch immer.« Was auch immer. Konkreter wird Körber in seinen Vorschlägen zur Überwindung des Rassismus nicht. Hier gelangen wir an einen Punkt, der für solche Diskurse typisch ist, und der wieder in die Nähe der Augstein-Debatte führt: Es wird standhaft abgelehnt, offen über die Sache selbst zu sprechen und sich kritisches Wissen anzueignen. An der Stelle des »was auch immer« könnte die Frage stehen, wie Rassismus denn wirklich effektiv zu bekämpfen wäre. Denn – man lese und staune – es gibt Menschen, die sich mit dieser Sache auskennen, und auch einiges darüber zu sagen haben, wie man Rassismus im Zusammenhang der Lektüre von Kinderbüchern kritisch thematisieren kann. Doch dazu wäre eine wirkliche Auseinandersetzung notwendig – vor allem damit, welche Rolle die standhaften Rassismus-von-sich-weisenden Weißen in der Perpetuierung rassistischer Machtverhältnisse spielen. Mittels einer solchen Auseinandersetzung könnte man vielleicht auch einer Gestalt wie Klaus Block mit dem notwendigen Nachdruck klarmachen, was an der Verwendung des N-Wortes durch Weiße rassistisch ist (weil dadurch die längst nicht überwundenen rassistischen Verhältnisse, in denen dieses Wort geprägt wurde, sprachlich aktualisiert werden).
Aber das ist nicht gewollt. Es geht um etwas anderes. Man will sich nicht das Maul verbieten lassen, und vor allem die »geschätzten Mitbürger andersvölkischer Herkunft« (ja, so steht das da: völkisch) sollen nicht solche Umstände bereiten. Man will sich, gemäß dem eigenen Sprachgebrauch, keiner »Zensur« aussetzen. Ebensowenig wie man nicht antisemitisch sein kann, denn das sind höchstens ein paar weit entfernt in brandenburgischen Dörfern lebende Nazis, kann man nicht rassistisch sein, denn man tritt ja für die Meinungsfreiheit ein: Gegen politisch-korrekte Denkverbote, gegen die totalitäre »Spezies der Gutmenschen« (so ein weiterer Kommentar), gegen Orwellschen Neusprech. Von dem wird in solchen Zusammenhängen mit Vorliebe gefaselt. In den Kommentaren unter Körbers Post heißt es sogar: »Orwell würde sich im Grabe umdrehen! Neusprech wird Realität! Wer die Sprache der Menschen beherrscht, der beherrscht ihre Gedanken!« Das wird so emphatisch vorgetragen, dass man an den eigenen Sprech offenbar überhaupt keinen Gedanken mehr verschwendet, bevor man ihn herausbellt, denn ja, Orwell würde sich im Grabe umdrehen, aber deshalb, weil sein wirklich antitotalitäres (weil gegen den Machtanspruch totalitärer Staaten gerichtetes) Konzept des Neusprech vom deutschen Spießertum missbraucht wird, um sich in dem rassistischen und autoritären Mief, in dem es seit jeher beisammen hockt, gegenseitig auf die Schulter zu klopfen.
Aber rassistisch, autoritär oder gar totalitär sind letztlich immer die Anderen. Körbers Post wird auch von einem gewissen Michael Sonntag gewürdigt, der ein (in der Selbstbeschreibung so genanntes) »Blog für Anspruchsvolle« betreibt. In einem Post mit dem Titel »Rassebegriff beim Menschen« steht dort: »Vor einigen Jahren wurde offiziell verkündet, es gäbe keine unterschiedlichen Rassen bei der Spezies Mensch.« Offiziell verkündet, soso. Vom Biologieministerium wahrscheinlich. Auch hier ist man also antitotalitär. Man wehrt sich dagegen, dass einem das Rassengefasel verboten wird, und zwar um so eifriger, je offensichtlicher dieses Verbot ein lediglich halluziniertes ist. Mit Bezug auf den Thienemann-Verlag wird anklagend gefragt: »Wie weit geht der politisch korrekte Sprachfaschismus denn noch?« Während in der Augstein-Debatte allerorten versichert wird, Antisemitismus gäbe es nicht, nur bei den Nazis, und die seien weit weg, ist hier der Faschismus allgegenwärtig und allmächtig. Faschismus, das sind in Wahrheit die politisch Korrekten, die einem das N-Wort und den »Rassebegriff« verbieten wollen. Man selber ist dagegen in jedem Fall – Opfer.
4 Kommentare:
Ich finde es schade, dass hier beide Debatten -- Thienemann und Augstein -- vermischt werden, denn außer, dass sie beide der Aufreger der Woche waren und tatsächlich jeder hier den anderen als Rassist denunziert, haben sie wenig miteinander zu tun, und irgendwie scheine ich in beiden zu Urteilen zu kommen, die nur in ihrer Unpopularität übereinstimmen.
Änderungen an Kinderbüchern halte ich für absolut nachvollziehbar und manchmal vielleicht sogar geboten, denn es sind in erster Linie didaktische Texte und damit bis zu einem gewissen Grad auch Gebrauchstexte, die bestimmten Mindestanforderungen ihrer Zeit und ihres Publikums genügen müssen. Bei einer Übersetzung würde sich kein Mensch darüber aufregen.
Die Vorwürfe gegen Augstein dagegen finde ich sachlich und inhaltlich einfach falsch. Gehörten die Statements, mit denen er auf der Seite des SWC zitiert wird, wirklich zu den "Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs" 2012? Ich finde: nein, schon gar nicht, wenn man sich mal die Äußerungen der anderen "Preisträger" anschaut (ich stoße hier nicht ins "die anderen sind aber schlimmer"-Horn, sondern störe mich an der "Top Ten" in der Überschrift); und ich finde: Wenn schon das SWC Antisemitismus und Israelkritik munter in einen Topf wirft (wieder: siehe die Überschrift), dann mutet es schon beinahe lächerlich (und auch ein wenig kindisch) an, wenn Seiten wie Publikative.org einem noch Nachhilfe in Textanalyse zu geben versuchen.
Was an den beiden Debatten zusammengehört - das finde ich im Hermanstadt-Artikel bestens getroffen - ist der antiaufklärerische Impuls der Empörung über die "politisch korrekte Zensur". Die schön kuschelige Erinnerung an die eigene kindliche Unschuld soll eben nicht davon befleckt werden, dass man damals - völlig unreflektiert und tatsächlich schuldlos - rassistische Begriffe und rassistische Klischees gelernt hat. Man hat sich ja nichts böses dabei gedacht, also kann auch nichts falsches dabei sein.
Dass es zum Erwachsenwerden gehört, das eine oder andere Schmerzliche zu lernen - zum Beispiel, dass es eventuell zur Zeit der eigenen Kindheit einen viel stärkeren Alltagsrassismus gegeben hat, der sich auch in der selbstverständlichen Verwendung rassistischer Begriffe zeigt, die auch damals durchaus schon rassistisch waren und von den durch sie bezeichneten solcherart verstanden wurden - will man nicht wissen. Stattdessen beharrt man wütend auf dem Recht auf Infantilität; Da man ja der Intention nach kein Rassist ist, hat man es auch nicht nötig, sich mit Rassismus zu befassen, und jeder, der nahelegt, man könne eine rassistische Äußerung getan oder ihr beigepflichtet haben, ist notwendigerweise überempfindlich oder verblendet. Das ist etwa so, als würde man jemandem versehentlich auf den Fuß treten und sich, wenn dieser sich beklagt, nicht etwa entschuldigen und in Zukunft achtsamer sein, sondern stattdessen erklären, da man diesem jemand nicht auf dem Fuße habe treten wollen, könne man es unmöglich getan haben - um dann noch einmal extra fest "versehentlich" zuzutreten.
Wollte man den rassistischen Begriffen in der "Kleinen Hexe", wie Körber das verlangt, mit einem kritischen Diskurs beikommen, dann müsste man sich beim Vorlesen unterbrechen und einen inhaltlich nicht ganz einfachen Vortrag über Kolonialismus, Rassismus, Diskriminierung und Trigger einfügen. Den kann ein sechsjähriges Kind nicht verdauen, schon gar nicht während der abendlichen Vorlesestunde.
Anders liegt es tatsächlich, wenn Bücher eine historische Realität darstellen - Mark Twains "Tom Sawyer" und "Tom Sawyer und Huckleberry Finn" enthalten selbst eine ordentliche Dosis Antirassismus in ihrer Darstellung rassistischer Verhältnisse. Die sind aber auch nicht unbedingt für Sechsjährige ...
Warum die "Kleine Hexe" unbedingt der Beibehaltung eines rassistischen Begriffs bedarf, um inhaltlich korrekt zu bleiben, erschließt sich mir dagegen nicht. Geht es in dem Buch etwa um die hässliche Realität des Rassismus? Soweit ich mich erinnern kann nicht.
Das Problem bleibt nach wie vor die schlichte Unkenntnis darüber, was Rassismus und Antisemitismus eigentlich sind. Und die Empörung ist nichts als der beharrliche Widerstand gegen die schmerzliche Aufklärung über die weite Verbreitung und Beharrungskraft dieser Diskriminierungsformen.
Jakob hat mir das Wort aus dem Mund genommen. Ich will die beiden Debatten keineswegs inhaltlich kurzschließen. Rassismus und Antisemitismus sind in meinen Augen unterschiedliche Dinge – beide gleichermaßen von Übel, aber verschieden, auch wenn es nicht selten Überschneidungen gibt (Stichwort: Rassentheorien). Vielleicht ist das nicht ganz deutlich geworden, deshalb ist es gut, dass du auf diesen Punkt hinweist, JL.
Ich sehe den Vergleichspunkt vielmehr darin, wie jeweils das, was m.E. die zentrale Frage ist, mit der größten Sorgfalt umschifft wird. In dem einen Fall bemerkt Publikative.org völlig zu recht, dass eine inhaltliche Diskussion über Antisemitismus kaum stattfindet. Im anderen Fall ist es das erbitterte Ankämpfen dagegen, dass auch nur in Betracht gezogen wird, der Gebrauch aus einem rassistischen Kontext stammender Wörter könne tatsächlich wirksamer, verletzender Rassismus sein.
Das sind zwar unterschiedliche Themen, aber mir drängt sich eben in beiden Fällen der gleiche Verdacht auf: Es soll um jeden Preis vermieden werden, dass es etwas zur Sprache kommt, was nicht nur zur Aufgabe von Privilegien und zu kritischer Selbstreflexion nötigen würde, sondern auch mit Scham und Schuld verbunden wäre. Lieber bestätigt man sich gegenseitig darin, dass man es ja nur gut mit Israel meint oder dass Rassismus doch wenn, dann nur auf ganz andere Weise zu bekämpfen wäre.
Zum SWC will ich eigentlich weiter nichts sagen. Um dem Thema gerecht zu werden, müsste ich mich ausgreifender dazu äußern, und dafür ist ein Blog über SFF, das kein Politblog ist, sondern lediglich von den notwendigerweise einfließenden politischen Positionen des Bloggers geprägt, nicht der richtige Ort. Nur so viel: An der Wortwahl »Top Ten« kann ich mich durchaus auch stören, aber der Hinweis sei erlaubt, dass in der Überschrift der Liste nicht Antisemitismus und »Israelkritik« (wiewohl ich auch das für einen fragwürdigen Begriff halte) gleichgesetzt werden, sondern Antisemitismus und »anti-israelische Verunglimpfungen«. Und wer wie Augstein vom Thema des Nahostkonflikts aus irgendwelchen Gründen nicht loskommt, muss sich schon die Frage gefallen lassen, ob es wirklich um Kritik geht oder eben doch um Verunglimpfungen, die z.B. mit den »drei D« Doppelstandard, Dämonisierung und Delegitimierung arbeiten.
Diesen Argumenten kann ich mich durchaus anschließen. Auch wenn ich fand, dass die Publikative ihrem eigenen Anspruch der Inhaltlichkeit auch nicht allzu gerecht wird ... aber egal.
Und es stimmt, "Israelkritik" war eine schlechte Übersetzung. Danke für den Hinweis. Mein Argument hätte sein sollen, dass ich es unglücklich finde, dass "anti-israelisch" überhaupt mit "anti-semitisch" gleichgesetzt wird. Ich habe mich als Jugendlicher auch in Parolen wie "Nie wieder Deutschland" (und offensiveren Bonmots) wiedergefunden, ohne dass ich tatsächlich irgendjemand, bloß weil er hier lebt, etwas Schlechtes gewünscht hätte. Natürlich argumentiere ich damit wieder, wie von Jakob kritisiert, über die Intention ... halt es aber eigentlich für selbsterklärend, dass beides nicht in allen Kontexten gleichzusetzen ist.
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