Mittwoch, 5. Dezember 2012

Alan Garners letzter Roman

Eine Neuerscheinung dieses Jahres, die mir sehr am Herzen liegt, ist Alan Garners Boneland. Der im August erschienene Roman ist der Abschluss der Trilogie, die mit Garners Debüt The Weirdstone of Brisingamen (dt. Feuerfrost) begann und mit The Moon of Gomrath (dt. Der Mond von Gomrath) fortgesetzt wurde. Beide Bücher, 1960 und 1963 erschienen, richten sich an ein jugendliches Publikum und warten mit einer typisch abenteuerlichen Handlung auf: Das Geschwisterpaar Susan und Colin wird in den Kampf gegen den finsteren Nastrond verwickelt und muss sich seiner Dienerin, der Hexe Selina Place, erwehren. Insbesondere der erste Band zeigt sich stark beeinflusst von The Lord of the Rings. Was aber schon Garners frühe Werke einzigartig macht, ist die Atmosphäre von Echtheit, die sie ausstrahlen. Sagte Daniel Kehlmann über Tolkien, seine Schlösser seien aus echtem Stein gebaut, so gilt für Garner, dass seine Geschichen in wirklicher Erde wurzeln. Handlungsort ist die Landschaft Alderley Edge in Cheshire, die schon in den sechziger Jahren ein beliebtes Ausflugsziel war. Garner, der mit den Sagen des Ortes aufgewachsen ist, versteht es perfekt, die alten Mythen aus den Klüften und Felsspalten der Gegend aufsteigen zu lassen, gleichsam an den unscharfen Rändern und den geheimnisvollen Flecken des sonst touristischen Ortes.

Auch Garners dritter Roman Elidor, der nicht an die Alderley-Edge-Bücher anknüpft, ist eine Fantasy für Jugendliche. Elidor wurde als Hörspiel konzipiert und erst später zum Roman ausgearbeitet, was erklären mag, warum das Buch manchmal mehr wie eine Abfolge von Szenenbildern als wie eine durchgängige Erzählung wirkt. Was vielleicht nur zufällige Entstehungsgeschichte ist, nutzt Garner, um auf höchst konzentrierte Weise mit Sprache zu experimentieren und immanente Kritik am Fantasygenre zu üben: In dem Buch verschlägt es vier Kinder aus Manchester in eine magische Parallelwelt, wo sie auf eine Queste geschickt werden, deren Zweck den gesamten Roman über im Dunkeln bleibt. Die diskontinuierliche Form der Erzählung spiegelt die Befremdung und die Unsicherheit der Kinder über das, was ihnen widerfährt und mit ihrer bisherigen Wahrnehmung der Welt nicht übereinstimmt. Ein schärferer Kontrast zu all den leichtfertigen Fantasies, in denen der Held in eine pseudomittelalterliche Parallelwelt übertritt und sich dort spielend zurechtzufinden scheint, findet sich selten. Die Protagonist_innen von Elidor jedenfalls müssen feststellen, dass der unbekannte Feind, gegen den sie angetreten sind, ihnen in ihre eigene Welt gefolgt ist. Das Gefühl von weirdness, hat es sich erst eingestellt, lässt sich auch durch Rückkehr in den Alltag nicht mehr abschütteln.

Elidor markiert einen Wendepunkt in Garners Schaffen. Die nachfolgenden Romane wie The Owl Service (dt. Eulenzauber) und Red Shift (dt. Rotverschiebung) werden zunehmend dialoglastig. Das Gespür für Atmosphäre, welches so zentral für Garner ist, verlagert sich von den Ortsbeschreibungen seiner früheren Werke in die Worte, die der Autor seinen Figuren in den Mund legt. Thematisch kreisen die Bücher, die Garner seit Ende der sechziger Jahre schreibt, um die bereits in Elidor aufgeworfene Frage, wie Mythen unser Leben beeinflussen. Dabei scheint es häufig schwer zu sein, zur Realität des Mythos vorzustoßen, noch schwerer aber oder gar unmöglich ist es, nicht von ihm betroffen zu sein. Garner stellt sich den Mythos nicht als überzeitlich vor, so dass eine Dichotomie zwischen Mythos und Geschichte entstehen würde, sondern als etwas, das in die Zeit eingreift und sie fragmentiert, gewissermaßen den linearen Ablauf der Ereignisse anhält und Schlaglichter auf die fernste Vergangenheit wirft. Auch hier gibt es eine Einheit von Inhalt und Form, denn meist spielt sich die Handlung der Bücher auf mehreren Zeitebenen ab. Manchmal verzichtet Garner sogar auf Handlungselemente, die sich dem Wunderbaren oder dem Phantastischen zurechnen ließen, ohne dass er deshalb die Verwurzelung in Sage und Folklore aufgäbe. Nicht selten thematisiert Garner, der nach eigener Auskunft aus einer Familie ländlicher Proletarier_innen stammt, Klassenunterschiede zwischen den Figuren seiner Bücher, und orientiert sich sprachlich am Dialekt seiner Heimat Cheshire.

In den 1980ern veröffentlichte Garner keine Romane, sondern stellte verschiedene Märchensammlungen zusammen, die in illustrierten Ausgaben erschienen. 1996 kehrte er mit Strandloper (dt. Strandläufer) zum Roman zurück. Die Alderley-Edge-Trilogie blieb die Jahrzehnte über unvollendet. Zwischenzeitlich verwarf Garner sogar die Vorstellung, die Trilogie könne jemals abgeschlossen werden, und verwarf seine frühen Bücher, bei denen es sich um schlechte Literatur handele. Hier muss man das Werk vor seinem Schöpfer in Schutz nehmen. The Weirdstone of Brisingamen und The Moon of Gomrath mögen nicht dem entsprechen, was Garner bei seinen späteren Romanen vorschwebte, aber sie gehören zu den besten Fantasies, die in der Periode zwischen der Veröffentlichung des Lord of the Rings und der in den 1970ern anhebenden Epic-Fantasy-Welle entstanden sind. Es stimmt natürlich, dass die Figuren hinter der Handlung zurücktreten, doch entspricht das nur der Konvention des abenteuerlichen Jugendbuchs. Will man diese Bücher würdigen, kommt es meines Erachtens auf etwas anderes an: Wie es Garner gelungen ist, mit diesen Büchern sense of place zu evozieren, ist allemal unübertroffen.

Ich habe den lang ersehnten dritten Band Boneland noch nicht gelesen, bin aber durch Aishwarya S.’ Rezension auf ihrem Blog Practically Marzipan aufs Höchste gespannt. Sehr berührt haben mich auch ihre Gedanken zu Red Shift – für sie »more than anything [...] a beautiful, bitter story that breaks me every time«. Für mich auch, und ich könnte es nicht besser in Worte fassen. Zumal ich es mit langerwarteten Büchern genauso halte:
As with any new book that really matters to me, I’ve been doing everything I can to stave off reading Boneland. I’m not sure if this is a natural desire to draw out the pleasure or an act of sheer cowardice. But it has given me an excuse to reread Garner’s earlier work, and I stayed up all night recently reading Red Shift.
Wobei ich hinzufügen muss, dass ich nicht die Nacht über aufgeblieben bin, um Red Shift zu lesen, sondern dies an einem Nachmittag getan habe, an dem ich eigentlich hätte arbeiten müssen, und dass mir das Prokrastinieren manchmal leicht fällt, weil ich längst nicht genug Geld habe, um alle neuen Bücher zu kaufen, die ich gerne lesen würde.

2 Kommentare:

Djamena hat gesagt…

Danke, für diesen Artikel und die schöne Nachricht. Damit habe ich nie gerechnet, dass der dritte Band zu Feuerfrost und Mond von Gomrath noch mal erscheint.

Ich liebe diese Bücher, und auch Elidor und Rotverschiebung zählen zu meinen Schätzen.

Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

Bitte sehr! Ich freue mich über Garner-Fans. :)

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.