Dienstag, 26. Juni 2012

N.K. Jemisin über Magie

Zeit, auf N.K. Jemisins Blogpost »But, but, but—WHY does magic have to make sense?« hinzuweisen. Es geht darin  grob gesagt um die Frage, warum Magie in der Fantasy häufig in Form von »Magiesystemen« präsentiert und damit nicht nur ihrer numinosen Aura entkleidet wird, sondern mitunter auch zu dem erzählerischen Ergebnis führt, dass menschliche Probleme (»people-problems«, wie Jemisin schreibt) durch Magie gelöst werden. Jemisin nennt Le Guin und Tolkien als Beispiele für Magie mit »all-over-the-place weirdness« und sieht D&D als die Ursache der Dominanz von systematisierter, regelförmiger Magie an, die Le Guins und Tolkiens Herangehensweise ablöste:
Here’s what I think happened between Tolkien/Le Guin and now: Dungeons and Dragons. D&D has a lot to answer for re the modern fantasy audience (and I say this as a fan of D&D). I blame D&D for systematizing so many things that don’t need to be or shouldn’t be systematized: fantastic racism, real racism, gender essentialism—hell, let’s just say all the “isms”—career choice, morality. Yes, yes, D&D has gotten better over the years, and yes all these things happened in the genre (in spades) before D&D, but remember boys ‘n’ girls et al: systems are remarkably effective at reinforcing stupid thinking.
In den Kommentaren zu Jemisins Post haben sich u.a. Autor_innen wie Mary Robinette Kowal, Ellen Kushner, Ken Scholes, Terri Windling und Jane Yolen zu Wort gemeldet. Besonders interessant finde ich Windlings genrehistorische Anmerkungen:
Back then, Ellen Kushner and I were editorial assistants (successively) to the Ace Books SF editor Jim Baen, who was proudly promoting what he called “fantasy with rivets,” written by SF writers like Larry Niven. He left the more numinous kinds of fantasy (the “girly stuff”—his words, not mine) to lowly assistants like me and Ellen—in other words, it was published at the bottom of the list, where it didn’t get the same kind of money or publicity attention. (Le Guin’s Earthsea books and their ilk, meanwhile, were published as children’s fiction—in those pre-Harry Potter days when fantasy for children and teens was marginalized in terms of sales, respect, and adult reader recognition.)
Niven, der olle Reagan-Boy, hat Fantasy geschrieben? Wusste ich bislang gar nicht. Nun lese ich in der englischsprachigen Wikipedia, dass Niven (teilweise mit seinem Co-Autor Jerry Pournelle) einen ganzen Zyklus veröffentlicht hat, der auf seiner Novelle The Magic Goes Away basiert und sich als Fantasy-Version der Ölkrise lesen lässt. Magie ist darin (sagt zumindest Wikipedia) als nicht-erneuerbare Ressource konzipiert. Das gibt der Diskussion in meinen Augen – weit über die Frotzeleien gegen D&D hinaus – eine bemerkenswerte Richtung, die ich gerne weiterverfolgen würde. Gibt es noch weitere Beispiele für Fantasy, in der Magie als knappe, umkämpfte Ressource dargestellt wird?

Montag, 25. Juni 2012

In den Vereinigten Staaten von Afrika

In den Vereinigten Staaten von Afrika zahlt man mit der AfriCard, holt sich Fastfood bei McDiouf, studiert an der Langston-Hughes-Universität in Harar und lauscht dem Gesang des gefeierten Liedermachers Robert Marley. Seriöse Internetauftritte enden stets auf .afr und Hilfsorganisationen setzen sich dafür ein, dass fair gehandelte Bananen aus Nebraska mit einem werbewirksamen Qualitätssiegel versehen werden. Wenn man den Fernseher anmacht, kann man den emeritierten Professor Garba Huntingabwe hören, der polternd »die Behauptung aufstellt, die Vereinigten Staaten von Afrika könnten nicht länger das Elend der ganzen Welt aufnehmen«. Denn dem Rest der Welt, oder besser gesagt: dem Nordwesten der Welt, geht es schlecht. In Kanada toben ethnische Konflikte, die von blutrünstigen Warlords angeheizt werden. Die Schweiz bemüht sich aufgrund des in ihren Grenzen herrschenden Sprachwirrwarrs vergeblich, zu einem modernen Staat zu werden. In Frankreich setzen seperatistische Bewegungen der Zentralregierung zu. In Japan hungern die Kinder, weil die Regierung Unsummen für Rüstungsgüter ausgibt, statt etwas gegen die Lebensmittelknappheit zu tun. In dieser Situation wird der afrikanische Kontinent »von den halb verhungerten Boat People auf dem nördlichen Mittelmeer« schier überschwemmt, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind und »verzweifelt den Mörsern und Granaten zu entkommen versuchen, die ihre dunklen Schatten über die leidgeprüften Landstriche Euramerikas werfen«. Kein Wunder, dass Zeitungen wie Bilad el Sudan und der Lagos Herald meinen, Afrika könne diesen Ansturm von Fremden nicht verkraften, und deshalb anfangen, populistische Parolen auszugeben: »Schweinehirten übers Mittelmeer!«

In den Vereinigten Staaten von Afrika von Abdourahman A. Waberi ist Swiftsche Satire reinsten Wassers. Seine Botschaft lautet nicht »Denkt mal drüber nach, dass die Welt auch ganz anders sein könnte« und schon gar nicht »Denkt immer daran, wie gut es euch geht«. Er entwirft auch keine afrozentrische Utopie. Was er schildert, ist in jedem Detail unsere Welt, wie wir sie zu kennen meinen – nur eben auf den Kopf gestellt. Es geht Waberi darum, die Betriebsblindheit zu verspotten, mit der der Status quo als Selbstverständlichkeit hingestellt wird, und er bedient sich dazu genau der Ausdrucksweise, mit der diese Selbstverständlichkeit erst etabliert wird. Noch ein Zitat gefällig?
Prostituierte allerlei Geschlechts, monegassische, vatikanische und andere, stranden an den Stränden Djerbas und der kobaltblauen Bucht von Algier. Diese armen Teufel sind auf der Suche nach Brot, Milch, Reis oder Mehl, die von den [...] Wohltätigkeitsorganisationen verteilt werden. Französische, spanische, flandrische oder luxemburgische Schulkinder [...] verdanken ihr Überleben allein den Nahrungsmittelüberschüssen vietnamesischer, nordkoreanischer oder äthiopischer Landwirte, und das seit Anbeginn der Welt. Jene Stämme mit ihren kriegerischen Sitten, ihren barbarischen Gebräuchen und ihrem hinterhältigen, zügellosen Gebaren hören nicht auf, die schon verbrannte Erde der Auvergne, der Toscana oder Flanderns weiter zu brandschatzen, wenn sie nicht gerade das Blut ihrer Erbfeinde, der Teutonen, Gasconger, rückständigen Iberer und der ganzen restlichen Bagage, vergießen, wegen jeder Bagatelle und jeder Lappalie ...
Wer schon immer mal den Duktus einer Reportage von Peter Scholl-Latour in seiner ganzen Lächerlichkeit aufgespießt haben wollte, muss einfach Waberi lesen. Oder wie steht es mit den in Interviews und Millionensellern zum besten gegebenen Weisheiten des um Volk und Vaterland besorgten Ex-Bundesbankers? Hier sind sie, in der Waberi-Version:
Die neuen Einwanderer mit den galoppierenden Geburtenraten verbreiteten ihren jahrtausendealten Dreck, ihren mangelnden Ehrgeiz, ihre rückschrittlichen Religionen Protestantismus, Judaismus und Katholizismus, ihren althergebrachten Chauvinismus und ihre endemischen Krankheiten. Kurzum, sie schleppten hinterrücks die Dritte Welt in die Vereinigten Staaten von Afrika ein.
Waberi trifft den Ton stets perfekt. Die Story tritt demgegenüber in den Hintergrund. Sie dient vor allem dazu, die Leser_innen durch die auf dem Kopf stehende Welt zu führen. In Kürze: Maya wurde in Frankreich geboren, aber von einem wohlmeinendem Ehepaar aus Asmara (Vater Arzt) adoptiert. Als sie vom spurlosen Verschwinden eines Schweizer Einwanderers (»in einer verseuchten Favela der Region Zürich geboren«) erfährt, beginnt sie, sich in der globalisierungskritischen Bewegung zu engagieren. Schließlich will sie ihrer Herkunft auf die Spur kommen und reist nach Europa, wo sie ihre leibliche Mutter Célestine trifft. Der Roman endet mit Mayas paternalistisch-wohlmeinendem Entschluss, dem jungen Franzosen Tito, der sie durch ihr Geburtsland geführt hat, ein Studium zu finanzieren.

Interessant sind die sprechenden Namen der Hauptfigur: Nach ihrer Geburt wurde ihr der autochthon-französische Name Marianne gegeben. Ihre Adoptiveltern rufen sie bei dem afrikanischer klingenden Namen Malaïka, aus dem schließlich der Spitzname Maya wird. In der hinduistischen Religionsphilosophie ist Maya der Name für das Prinzip, dass die Welt eine Illusion, eine bloße Täuschung darstellt. Eine Illusion ist natürlich die auf dem Kopf stehende Welt, die Waberi sich ausmalt. Aber indem er sich dafür eine Sprache ironisch aneignet, wie sie tagtäglich in Diskussionen und Reportagen über »die Dritte Welt« gebraucht wird, lässt er keinen Zweifel daran, wo die eigentliche Täuschung, die echte Unwahrheit zu finden ist: im kopfschüttelnden, besserwisserischen Reden des Nordens über den Rest der Erde.

Noch eine Anmerkung zur deutschen Ausgabe des Buches. Sie wurde von der Übersetzerin Katja Meintel mit einem Nachwort versehen, das eine Ahnung davon vermittelt, welche Ansprüche Waberis überaus anspielungsreicher Stil an eine Übersetzung stellt. Es gibt jedoch ein unstimmiges Detail in der Übersetzung, von dem ich kaum glauben kann, dass es Meintels Augen entgangen ist: Waberi schreibt auf Französisch, innerhalb seiner Erzählung gilt Französisch jedoch als obskure »Stammessprache«, die in den Vereinigten Staaten von Afrika so gut wie niemand beherrscht. Da liest es sich etwas seltsam, dass Meintel die fiktiven Straßennamen, die Waberi erfindet, stets im Original belässt und nicht eindeutscht. Was leicht möglich gewesen wäre – aus Rue Toussaint Louverture mach Toussaint-Louverture-Straße. So entsteht beim Lesen der Übersetzung der Eindruck (seltsam angesichts des Status, den Frankreich in der Erzählung hat), die Vereinigten Staaten von Afrika seien eine frankophone Gesellschaft.

Aber genug der Einwände. In den Vereinigten Staaten von Afrika ist bissig, unterhaltsam und anregend. Nicht jeder Roman, der auf einer guten Idee beruht, kann von sich behaupten, dass auch die Umsetzung gelungen sei. Waberi dagegen streift diesen Verdacht mit Leichtigkeit von sich ab.

Abdourahman A. Waberis In den Vereinigten Staaten von Afrika (159 Seiten, inklusive Nachwort und Glossar) ist 2007 in der Edition Nautilus erschienen. Die Übersetzung aus dem Französischen besorgte Katja Meintel.

Neuzugänge

  • Tobias S. Buckell, Chilo
  • Octavia Butler, Der Seelenplan
  • Anthony Burgess, Der Fürst der Phantome
  • Junot Díaz, Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao 
  • Martin H. Greenberg (Hg.), Die Erben des Rings
  • Marlen Haushofer, Die Wand
  • Marie Luise Kaschnitz, Griechische Mythen
  • Dean Koontz, Chase
  • Ursula K. Le Guin, Geschichten aus Orsinien
  • Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti
  • Inge Merkel, Aus den Geleisen
  • Harry Mulisch, Das Standbild und die Uhr
  • Patrick Rothfuss, The Name of the Wind

Mittwoch, 20. Juni 2012

Die Reise beginnt

In meiner letzten Rezension zum Dark-Tower-Comic habe ich Unsinn geredet: Der sechste Band Die Reise beginnt wurde keineswegs von Richard Isanove gezeichnet, sondern von DC-Zeichner Sean Phillips (Ex-DC-Zeichner müsste ich korrekterweise wohl sagen). Wer meine Rezensiererei zu Der Dunkle Turm verfolgt hat, weiß, dass ich Jae Lees Stil gegenüber dem von Isanove bevorzuge und die ersten drei, von Lee gezeichneten Bände mir am meisten zusagen. Dass nun mit Sean Phillips ein dritter Zeichner zum Zuge kommt, ist dennoch kein Grund zur Traurigkeit. Phillips, bekannt für seinen Noir-Stil, ist weitaus eigenständiger als Isanove. In Die Reise beginnt sieht alles neu, interessant und anders aus. Die Darstellung von Rolands Lehrer Cort etwa erinnert mich an Yul Brynners Auftritt in Adios, Sabata, einem der irrwitzigsten und unterhaltsamsten Italo-Western.* Dass Roland auf dem Titelbild ein wenig wie Indiana Jones aussieht (glücklicherweise ohne Peitsche), ist dagegen wohl eher Zufall.

Storymäßig lehnt der Band sich stark an The Gunslinger an, den ersten Teil von Stephen Kings Romanreihe. Es gibt eine Rahmenhandlung, die während Rolands Aufenthalt bei dem einsiedlerischen Maisfarmer Brown spielt, also zu dem Zeitpunkt, zu dem auch die Handlung von The Gunslinger einsetzt. Roland erzählt Brown von den Ereignissen unmittelbar nach der katastrophalen Schlacht von Jericho Hill, welche die eigentliche Story von Die Reise beginnt bilden. Dabei gibt es am Anfang noch etwas Durcheinander, weil einige Plot-Probleme, die der vorhergehende fünfte Band aufgeworfen hat, dringend der Reparatur bedürfen. Vor allem betrifft dies das allzu unspektakuläre Ende einer wichtigen Nebenfigur. Ich kann nicht behaupten, dass dieser Reparaturversuch sonderlich gelungen wäre. Er zeugt eher von dem Bemühen, einen Anschluss an die vorherigen Bände zu finden und die Handlung danach endlich fortsetzen zu können. Was zuvor vermurkst wurde, wird also auch hier nicht unbedingt besser, aber immerhin kann es nach einer Weile mit Rolands Geschichte weitergehen. Erzählt werden Rolands Erlebnisse in der Stadt Kingstown, die unter den Folgen des Krieges zwischen den Revolvermännern und John Farson leidet. Genutzt wird diese Episode, um zahlreiche Motive vorwegzunehmen, die in den chronologisch später angesiedelten Romanen eine Rolle spielen.

War ich zu Anfang nicht gerade glücklich, hat mich die Geschichte von Die Reise beginnt am Ende dann doch überzeugt. Sie stellt eine gelungene Überleitung zu dem Handlungsbogen dar, der sich in The Gunslinger und der Prequel-Geschichte »The Little Sisters of Eluria« eröffnet. Darüber hinaus stellt Sean Phillips’ Stil, wie bereits erwähnt, eine echte Bereicherung dar.

Die Reise beginnt von Stephen King (Idee), Robin Furth (Story), Peter David (Skript), Sean Phillips (Zeichnungen) und Richard Isanove (Kolorierungen) ist 2012 bei Heyne erschienen. Die Übersetzung stammt von Oliver Hoffmann.

* Unterhaltsam nicht zuletzt deswegen, weil darin jede Menge blonde und blauäugige Österreicher mit komischen Namen wie »Oberst Schimmel« von mexikanischen Freischärlern vertrimmt werden (der Film spielt während der Episode des österreichischen Kaisertums in Mexiko).

Mittwoch, 13. Juni 2012

Sketch for a Marxist Interpretation of Fantasy

Über Sacnoth’s Scriptorium (John Rateliffs Blog) bin ich auf einen Artikel von Edward Upward gestoßen, der mit »Sketch for a Marxist Interpretation of Literature« überschrieben und 1937 erschienen ist. Upward gehörte als Schriftsteller und politischer Aktivist dem Kreis um W.H. Auden, Christopher Isherwood, Stephen Spender und Cecil Day-Lewis an. In Rateliffs Blogpost findet er Erwähnung, weil er in seinem 1937er Artikel die Ansicht vertritt, es sei unmöglich, in dieser Zeit Fantasy zu schreiben und damit etwas über die Realität zu sagen. Das entbehrt nicht der Ironie, denn im gleichen Jahr wurde Tolkiens Hobbit veröffentlicht und der Grundstein für das spätere Erscheinen des Lord of the Rings gelegt – das Werk, das für die moderne Fantasy definitorische Wirkung hatte und konsequent als Allegorie auf entweder den 2. Weltkrieg oder den Kalten Krieg missverstanden wurde. Ironisch ist auch, dass Upward eng befreundet war mit Auden, einem der prominentesten Bewunderer des Lord of the Rings, und mit Isherwood, der durch eine positive Rezension dazu beitrug, den Martian Chronicles des kürzlich verstorbenen Ray Bradbury zu ihrem Ruhm zu verhelfen.

Rateliffs Blogpost verzeichnet Upward als Vertreter eines totalitären Literaturprogramms, weil er in seinem Essay für seine Gegenwart die Position vertritt, nur marxistische Literatur könne gute Literatur sein. Dies kann Upward zufolge selbstverständlich nicht für die Literatur vor dem Aufkommen des Marxismus gelten, vielmehr stellt er sich die Frage, was gute Literatur überhaupt ausmacht und welche spezifische Gestalt sie in der Gegenwart (d.h. Upwards Gegenwart in der Zwischenkriegszeit) annehmen kann. Darauf weist auch Rateliff hin; sein Blogpost wird Upward dennoch nicht gerecht.

Von einer totalitären, auf Kommando produzierten Literatur distanziert Upward sich ausdrücklich: »[The Marxist] does not, as anti-Marxists sometimes assert, claim that no idea can be true unless it is to be found in the works of Marx and Engels or in the decisions of the Communist International.« Er zieht auch keine abstrusen Schlussfolgerungen aus seiner Position, wie etwa die, dass eine marxistisch gesinnte Autorin gute Literatur quasi als Selbstläufer hervorbringen müsse. Vielmehr werde eine solche Ansicht »rejected at once by any practising writer who took his work seriously, who wanted to write ›better‹ books in the future than he had written in the past; it would be rejected also by any Marxist who approached literature from genuine interest and not from a mere sense of political duty. [...] The quality of his writing will depend upon his individual talent, his ability to observe the complex detail of the real world.«

Was aber zeichnet gute Literatur in Upwards Augen aus? Sie muss realistisch sein, was für Upward bedeutet, dass sie sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen befassen muss, in denen sie produziert wird. Das heißt aber nicht, dass sie im mimetischen Sinne realistisch sein muss:
This does not mean that [the Marxist] prefers a photographic naturalism to all other styles of writing: on the contrary, he recognises that only in exceptional historical circumstances can naturalistic writing give a true picture of life—since only in exceptional circumstances, in revolutions and in major wars, do fundamental realities come to the surface of life.
Im guten Sinne realistisch ist Literatur für Upward dann, wenn sie die Gegenwart nicht nur beschreibt, sondern auch das in ihr angelegte Potential für eine bessere Zukunft zum Vorschein bringt. Das ist interessant, denn man könnte sagen, dass Literatur für Upward wirklich realistisch nur dann ist, wenn sie visionär ist. Ein Roman, der die bourgeoise Gesellschaft der Zwischenkriegszeit beschreibt und ihre Dekadenz anprangert, ist nicht notwendigerweise realistisch in Upwards Sinn, wenn er z.B. nichts über die Möglichkeit einer Revolution gegen diese gleichgültige und unbarmherzige Gesellschaft aussagt. Auch in der Literaturgeschichte hätten diejenigen Werke, die nicht nur ihre Gegenwart beschreiben, sondern auch auf zukünftige Entwicklungen hinausgreifen, stets die größte Langzeitwirkung entfaltet.

Die polemische Auseinandersetzung mit der Fantasy, die Rateliff dazu veranlasste, Upwards Essay einen Blogpost zu widmen, stellt im Text einen Nebenschauplatz dar. Upward grenzt sich in erster Linie von den großen Autor_innen der klassischen Moderne ab, insbesondere von Joyce, Proust und Lawrence. Upward gesteht ihnen zu, dass sie versucht hätten, etwas über die Wahrheit des Lebens auszusagen, aber es sei ihnen letztlich nicht gelungen, auch wenn Lawrence in seinen Ahnungen am weitesten vorgedrungen sei. Die großen Modernen machen sich in Upwards Augen kleinbürgerlich oder aristokratisch-dekadent aus; für die Realitäten des Lebens um sie herum seien sie entweder blind (wie Joyce und Proust) oder schreckten vor ihnen zurück (wie Lawrence). In den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ihrer Zeit hätten sie letztlich einen rückwärtsgewandten Standpunkt eingenommen und seien gescheitert. Upward betont abermals, dass dies nicht an ihrem mangelndem Willen gelegen habe, die Wahrheit zu sagen, denn sonst hätten sie »thrillers and amusing fantasies« geschrieben.

Die Tendenz einer solchen Aussage ist klar. Rateliff hat recht, insofern einige der Aussagen, die Upward über Fantasy macht, zu den schwächsten und unreflektiertesten des Artikels zählen. Upward meint, Fantasy bedeute in der Gegenwart und »in practice a retreat from the real world into the world of imagination«. Er meint, der Zweck von Fantasy könne ausschließlich darin liegen, falschen Trost zu gewähren in »a world which is daily drifting towards a war of unprecedented destructiveness«. Solche Aussagen vertritt er mit Vehemenz und verwickelt sich damit in unnötige Widersprüche. Vor allem aber wird in ihnen die Tragik sichtbar, mit der Upward konfrontiert war, die in Rateliffs Blogpost aber fast völlig ignoriert wird.

Upward sah einen kommenden Weltkrieg voraus, zerstörerischer als der erste, wie er 1939 von Nazideutschland entfacht wurde (und, könnte man hinzufügen, vom faschistischen Italien in seiner Invasion Äthiopiens 1935/36 bereits geprobt worden war). Wie sollte man in einer solchen Situation weiterhin als Schriftsteller_in leben und wirken? Upward spricht die Gefahr an, dass ein neuer Krieg und der Aufstieg des Faschismus die Literatur zum Verstummen bringen könnten. Gleichzeitig ist er überzeugt, dass Literatur eine wichtige, entscheidende Rolle im Leben der Menschen zukommt, und dass gute Literatur etwas ist, wofür gekämpft werden muss. Man kann sich beim Lesen von Upwards Essay gut vorstellen, dass die Situation im Jahr 1937 einen Autor, der sich fragt, was er zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen kann, ziemlich aussichtslos vorgekommen sein mag.

Upwards Antwort ist eindeutig: Um der Verantwortung, die die Situation ihnen auferlegt, gerecht werden zu können, müssen Schriftsteller sich ohne Einschränkungen der Arbeiterinnenbewegung anschließen bzw. am Marxismus orientieren: »A writer to-day who wishes to produce the best work that he is capable of producing, must first of all become a socialist in his practical life, must go over to the progressive side of the class conflict.« Diese Antwort ist (wie ich nicht etwa aus borniert-antikommunistischer, sondern aus einer kritisch-marxistischen Perspektive sagen möchte) in gewissem Sinne Teil des Problems und nicht ihre Lösung. Denn Upward steht voll und ganz im Arbeitsfetischismus der sozialistischen Bewegung seiner Zeit. Die zum Sozialismus übergelaufene Schriftstellerin, so macht er klar, muss »extra work« verrichten, sie muss zusätzlich arbeiten. Sie ist nicht nur verpflichtet, gute, wahrhaft realistische Literatur zu erschaffen, sondern muss auch noch vollen Einsatz für die Sache der Bewegung zeigen (»to sacrifice life itself in the cause of the workers«). Sie muss sich bewusst sein, dass nur die Entscheidung für den Sozialismus es ihr ermöglicht, gute Literatur zu schreiben, aber gleichzeitig kann es passieren, dass diese Entscheidung sie bis zur Aufopferung vereinnahmt, so dass sie vielleicht gar nicht mehr dazu kommen mag, überhaupt zu schreiben. Das in Upwards Frage, wie man angesichts von Faschismus und Krieg schreiben kann, enthaltene Dilemma wird durch seine Antwort im Grunde nur auf die Spitze getrieben: Schreiben kann man nur, indem man Sozialist_in wird, aber indem man Sozialist_in wird, muss man das Schreiben möglicherweise aufgeben. Hier wird deutlich, warum der undogmatische Marxismus der Arbeiter_innenbewegung vorwerfen konnte, sie verherrliche die Leistung, die Aufopferung und die Plackerei, statt zu versuchen, sie wirklich und wirksam zu überwinden.

Diese Haltung Upwards steht in engem Zusammenhang zu seinem Verdikt über die Fantasy: Er bemerkt, dass der Rückzug aus der Realität, den er als Möglichkeitsbedingung der Fantasy ansieht, »may have been practicable and desirable in a more leisured and less profoundly disturbed age than our own«. Die besten Mythen und Märchen seien in früheren Zeiten entstanden, als »the majority of men, though they had no hope of bettering their material conditions, were not so harassed by life that passive contemplation was impracticable for them«. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Freude daran, sich von der gegenwärtigen Realität zu distanzieren und sich eine andere Wirklichkeit zu erträumen, dieser in meinen Augen höchst wünschenswerten und lustvollen Tätigkeit gesteht Upward nur dann ihr Recht zu, wenn ihr in einer »more leisured and less profoundly disturbed« Gesellschaft nachgegangen wird, in einer Gesellschaft, in der die Menschen vom Leben nicht so gebeutelt werden wie heutzutage.

Upward gelangt nicht zu dem Punkt, an dem er bewusst eine Verbindung herstellen könnte zwischen einer solchen Gesellschaft, in der das Träumen ungehindert möglich ist, und den auch von ihm herbeigesehnten klassenlosen Zustand, in dem es Unterdrückung und Ausbeutung nicht mehr gibt, und in dem Schriftsteller_innen einfach nach Lust und Laune schreiben können. An einer einzigen Stelle scheint es fast so weit zu sein:
If we accept Sir James Frazer’s view that there have been three main and successive phases in the thought of man—the phases of magic, religion and science—and that science, unlike religion, agrees with magic in proclaiming man’s power over nature, we may suppose that future writers will no longer regard Tragedy—the contemplation of the defeat of man—as the most effective and most serious literary form. It is possible that the ‘fairy’ story—celebrating the triumph of man over dangers and difficulties—will reappear on a higher, a scientific level.
Hier hat Upward plötzlich ganz anderes über Fantasy (im weitesten Sinne) zu sagen: Das Märchen wird von ihm als literarische Gattung gepriesen, die den Triumph des Menschen über Gefahren und Hindernisse feiert. Fast nähert er sich dem wundervollen, Chesterton zugeschriebenem Diktum »Fairy tales are more than true—not because they tell us dragons exist, but because they tell us dragons can be beaten.« an. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn man die Beliebtheit und den Erfolg, den spekulativ-phantastische Literatur im finsteren 20. Jahrhundert hatte, zumindest in Teilen diesem utopischen Impuls des Märchens zuschreibt. Und was sind die besten Science-Fiction-Erzählungen anderes als wissenschaftlich und gesellschaftstheoretisch unterfütterte Märchen? Leider sagt Upward nur wenig mehr darüber, wie genau er sich die visionär-realistische Literatur, die er einfordert, denn vorstellt. Lediglich in den letzten drei Absätzen seines Essays geht er darauf ein. Seine abschließenden Sätze machen das Dilemma, in dem er selbst steht, noch einmal in besonderer Weise deutlich:
Decaying capitalism is the enemy of all culture, of all good-living, and if we are to do our best in the fight against capitalism and for the establishment of a new world order, we need to understand and to feel the grandeur of our task. This understanding and this feeling the imaginative writer can give us.
Phantasievolle Schriftsteller_innen sollen also, im Namen des Kampfes für das gute Leben, Verständnis wecken für die Größe dieses Kampfes. Upward kommt der Idee sehr nahe, dass Fantasy und Science Fiction, also die spezifisch modernen Ausprägungen des märchenhaften Erzählens (»celebrating the triumph of man over dangers and difficulties«), sich für diese Aufgabe in besonderem Maße eignen könnten. Und doch will er den Schriftsteller_innen diese Form des Erzählens versagen, befangen in dem naheliegenden, rechtschaffenen Irrtum, sie sei nur in besseren Zeiten möglich.

Man würde es sich zu einfach machen, wenn man daraus lediglich den Schluss ziehen würde, Upward sei selber nicht zur Erfüllung seiner Forderung gelangt, auf literarisch-visionäre Weise die in der Gegenwart angelegten Möglichkeiten anderer, besserer Welten zu erkunden, sondern in den engen Begrenzungen geblieben, die seine Zeit ihm auferlegte. Wer könnte ihm das vorwerfen, angesichts von Wirtschaftskrise und sich ausbreitendem Faschismus? Falsch wäre auch eine rein apologetische Haltung des Jubels darüber, dass Fantasy und Science Fiction sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als beliebte Literaturform durchgesetzt haben. Der Großteil der spekulativen Literatur kommt ja tatsächlich nicht über den falschen, verlogenen Trost hinaus, den Upward so sehr kritisiert. Aber die Krise und der Faschismus sind heute immer noch da, und der eine erweist sich aufgrund der anderen wieder einmal als besonders rührig. Es ist nicht 1937, aber die Gegenwart könnte sich als eine Zeit erweisen, in der es besonders dringlich ist, durch phantasievolles Erzählen an das zu erinnern, was sein könnte, um sich nicht von dem Schrecken darüber, was ist, lähmen zu lassen. Im besten Falle hätte ein solches Unternehmen wenig mit Weltflucht zu tun, aber viel mit Weltveränderung, wie auch Upward sie im Sinn hatte: »Good writing—like good housing and good wages—is something worth fighting for.«

Sonntag, 10. Juni 2012

Schindluder

Irgendwie bin ich Ridley Scott ja dankbar dafür, dass Prometheus wohl eher ein Reboot als ein Prequel zu Alien ist. Mit dem Alien-Franchise ist in den letzten Jahren einfach zu viel Schindluder getrieben worden, als dass die Reihe auch noch ein ernstzunehmendes Prequel vertragen würde, welches auf den spinnerten Theorien eines Erich von Däniken beruht. Zwar bestehen Regisseur Scott und Drehbuchautor Damon Lindelof nach wie vor darauf, dass Prometheus in der Welt von Alien spielt, doch schien der Zusammenhang dünner zu werden, je weiter das Projekt fortentwickelt wurde. Zunächst sollte James Cameron bei einem fünften Alien-Film Regie führen. Als jedoch bekannt wurde, dass 20th Century Fox die Alien- und Predator-Reihen filmisch zusammenführen wollte, stieg er aus dem Projekt aus und fand deutliche Worte für die Pläne des Studios: »You do that you’re going to kill the validity of the franchise«. Das Ergebnis von 20th Century Fox’ Rumgemurkse mit Alien und Predator kennen und hassen wir alle.

Ridley Scott konkretisierte die Idee zu einem fünften Alien-Film dann zu dem Vorhaben, das schließlich in der Produktion von Prometheus mündete. Anfang 2011 bezeichnete Scott Alien als »jumping-off point for this project« und fügte hinzu, Prometheus enthalte »strands of ›Alien‹’s DNA, so to speak«. Der Film sei aber dennoch höchst eigenständig, denn er basiere auf »a new, grand mythology«. Scotts große Mythologie ist allerdings genau das, was mich in Bezug auf Prometheus das Schlimmste befürchten lässt. »[T]he ideas tackled in this film are unique, large and provocative«, so Scott. Was soll man dazu sagen? Nein, Ridley. Die Vorstellung, dass der Mensch durch irgendeine Einflussnahme außerirdischer Superintelligenzen entstanden sein soll, ist weder einzigartig noch groß, und schon gar nicht provokant. Es handelt sich dabei lediglich um die fixe Idee eines tatterigen Esoterikers aus der Schweiz, der durch die Leichtgläubigkeit der Leute in die bequeme Lage versetzt wurde, jede Menge Geld zu scheffeln. Als Idee ist das ganze Präastronautik-Zeugs ungefähr so spannend und geheimnisvoll wie Uri Geller, der im Fernsehen Löffel verbiegt, oder wie Jürgen Fliege, der (für 40 Euro das Fläschchen) Leitungswasser zur »Selbstheilung durch Seelenkraft« verkauft. In anderen Worten: Es ist reiner Blödsinn, der für viel Geld verkauft wird.

Nun lässt sich in einer Welt, in der alles zu Geld gemacht werden kann, schlechterdings nichts einwenden gegen Blödsinn, der zu Geld gemacht wird. Aber es gibt wohl keinen fühlenden und denkenden Fan, dem die Gewalt, die seit einigen Jahren dem Alien-Filmuniversum angetan wird, nicht das Herz zerreißt. Schon die Alien vs. Predator-Crossover von 2004 und 2007 waren die reinste Schande, da ist James Cameron uneingeschränkt recht zu geben. Erinnert sich noch jemand an die unendlich lächerliche Szene aus dem ersten der beiden Filme, in dem der außerirdische Ursprung der menschlichen Schriftsysteme erklärt wurde? So etwas darf sich eigentlich nicht wiederholen, aber Ridley Scott und Damon Lindelof tun gerade mit Prometheus genau das. Letzterer macht zudem mit kryptischen Wortmeldungen und bizarren Neologismen auf sich aufmerksam, welche das genaue Verhältnis von Prometheus und den Alien-Filmen zum Inhalt haben. Das hört sich dann ungefähr so an: »I’ve always felt that really good prequels should be original movies. And the sequels to those prequels should not be the movie which already exists.« Aha, das Sequel zum Prequel sollte also kein Film sein, den es schon gibt. Soll mir recht sein, wenn der 1979er Alien-Film zu dem Mist, den ihr gerade verzapft, nicht das Sequel ist, das es schon gibt, und deswegen kein Sequel sein sollte. Oder so ähnlich. Aber auch das: »It’s Ridley Scott. The movie is his vision, so I did my best to channel it. We had almost no conversations about any other movies, other than this one, which might have been hubris or it might have been freeing, but it felt good, maybe just because we were drunk.« Ja, bitte! Sauft weiter und channelt eure komischen Ideen, aber kommt bloß nicht mehr auf die Idee, euch über Filme herzumachen, die anderen Menschen am Herzen liegen. Oder, um zum Schluss zu kommen, das hier: »If we’re fortunate enough to do a sequel to Prometheus, it will tangentialize even further away from the original Alien.« Denn genau diese Aussicht ist es, die bei all dem Unsinn das eingangs erwähnte Gefühl der Dankbarkeit in mir weckt: Tangentialisiert doch wohin ihr wollt, so lange es nur weit, weit weg von den vier Alien-Filmen ist.

Freitag, 8. Juni 2012

Neuzugänge

  • Marion Zimmer Bradley, Herrin der Falken
  • Humphrey Carpenter, J.R.R. Tolkien. Eine Biographie
    Als ausgesondertes Bibliotheksexemplar.
  • David Anthony Durham, Acacia
    Alle drei Bände als Massenmarkt-Ausgaben – wie man sieht, habe ich es nicht bis zum Ende der Wartezeit ausgehalten.
  • Stephen King/Peter Straub, Der Talisman
  • Ahmadou Kourouma, Die Nächte des großen Jägers
    Sehr spannender magisch-realistischer Diktatorenroman aus Côte d’Ivoire, ebenfalls als ausgesondertes Bibliotheksexemplar.
  • Ariano Suassuna, Der Stein des Reiches
    Eine zweibändige Hobbit-Presse-Veröffentlichung aus Brasilien, erschienen 1979, von der ich noch nie gehört habe.

Dienstag, 5. Juni 2012

Die Schlacht am Jericho Hill

Der fünfte Band des Dark-Tower-Comics wurde wieder von Jae Lee gezeichnet, was ich begrüßenswert finde. Lees Stil ist es vor allem, der den besonderen Reiz der Reihe für mich ausgemacht hat. Dass für den Vorgängerband Der Untergang Gileads Lees Kollege Richard Isanove, zuvor für die Kolorierung zuständig, zum Zeichenstift gegriffen hat, war zwar eine interessante Abwechslung, aber nicht unbedingt eine Verbesserung. Insbesondere gefiehl mir Isanoves Version der eigens für die Graphic Novel entworfenen Figur Aileen Ritter weit weniger gut.

Zur Story: Nachdem Gilead, der Sitz der Revolvermänner, in Verrat und Verzweiflung untergegangen ist, versuchen Roland und seine wenigen überlebenden Gefährt_innen, eine Widerstandsfront gegen John Farson und Marten Broadcloak zu errichten, den blutrünstigen Warlord und den intriganten Hofzauberer, die gemeinsam den Untergang der relativ geordneten, feudalen Welt von Rolands Elterngeneration bewerkstelligt haben. Wer Stephen Kings Romanzyklus gelesen hat, weiß, dass dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist und in einer tragischen letzten Schlacht mündet, die dazu führt, dass Roland in Zukunft allein eine Welt durchwandert, die nur noch in ihren Ruinen der Welt ähnelt, in der er aufgewachsen ist.

Nicht verleugnen lässt sich, dass es in Die Schlacht am Jericho Hill plotmäßig ein wenig hapert. Das mag einerseits daran liegen, dass der Band allein kaum über einen Spannungsbogen verfügt, sondern eher eine Art Coda zum dritten und vierten Band darstellt. Und andererseits gilt: Plotterin Robin Furth und Skripter Peter David hätten sich schon etwas mehr einfallen lassen müssen, um eine Geschichte, deren unmittelbaren Ausgang man bereits aus den Romanen kennt, interessant zu machen. Enttäuschend ist wiederum, dass die in Verrat aufwändig eingeführte Aileen bereits in Der Untergang Gileads weitgehend von der Bildfläche verschwindet, während sich nun endgültig offenbart, dass Furth und David mit der an sich interessanten Figur nicht viel anzufangen wussten – oder durften?

So ist Die Schlacht am Jericho Hill leider nicht viel mehr als eine Möglichkeit, von Jae Lees einzigartiger Visualisierung der morbiden Welt Rolands Abschied zu nehmen. Der sechste Band, den ich noch nicht gelesen habe, wurde wieder von Richard Isanove gezeichnet und nimmt die erzählerische Überleitung zu der Haupthandlung der Romanreihe in Angriff. Mal sehen, ob das noch was wird.

Jae Lee hat Die Schlacht am Jericho Hill gezeichnet. Richard Isanove hat sie koloriert. Robin Furth hat sich die Story ausgedacht und Peter David hat sie geskriptet. Stephen King hat seinen Namen auf die Titelseite setzen lassen. Erschienen ist der Band bei Heyne. Übersetzt hat Wulf Bergner.

Freitag, 1. Juni 2012

Rivers of London

Rivers of London kommt als Police Procedural mit Fantasy-Einschlag daher; eine Kombination, die mir bislang noch nicht begegnet ist. Und der Roman wird gepriesen von allen Seiten. Die Blurbs auf meiner Ausgabe kommen von Prominenz wie Diana Gabaldon, Peter F. Hamilton und Charlaine Harris. Statt darüber zu erschrecken, was für eine Art Buch von diesen drei höchst unterschiedlichen Autor_innen beworben wird, habe ich es einfach mal gelesen – Höhe der Zeit und so.

Peter Grant ist Constable im Metropolitan Police Service, also ein kleiner Bulle im Großraum London. Konfrontiert mit der Schreckensaussicht, nach dem Ende seiner Probezeit an den Schreibtisch versetzt zu werden, macht er sich keine allzugroßen Hoffnungen auf ein interessantes Leben mehr. Das ändert sich, als er zur Bewachung eines Tatorts beordert wird, an dem ihm ein Gespenst erscheint, welches den Tathergang beobachtet hat. Durch diese Begegnung ergibt sich für Grant eine nicht wenig überraschende Änderung in seiner eigentlich vorgezeichnet erscheinenden Karriere: Seine Vorgesetzten beschließen, ihn Inspector Nightingale zu unterstellen, dem letzten Zauberer im Dienst der Met. Grant soll zu seinem Nachfolger ausgebildet werden.

So viel zum Ausgangspunkt der Story. Nightingale ist – wie könnte es anders sein – ein technikferner Exzentriker, der die Innovationen (Computer! Internet!), die Grant in die magischen Ermittlungen des ungleichen Duos einzubringen versucht, mit Misstrauen beobachtet. An Arbeit besteht kein Mangel: Neben Vampirjagden und ähnlichen Alltagsaufträgen müssen gleich zwei komplexe Fälle mit übernatürlichem Einschlag gelöst werden. Da ist zum einen der unheimliche Killer, der in der Gestalt von Mr. Punch wahllos mordet und allein durch seine Gegenwart Menschen zu unerklärlichen Gewaltausbrüchen anstiftet. Und zeitgleich bricht auch noch ein Krieg zwischen Mama Thames und dem »Old Man of the River« aus, zwei um die Londoner Flüsse konkurrierenden Lokalgottheiten.

Klar ersichtlich ist Rivers of London Urban Fantasy im klassischen Sinne, keine mit Bodysuits und Karatetritten angereicherte Paranormal Romance. Es tritt jede Menge wiederbelebtes Personal aus der Geschichte der Londoner Halbwelt auf, dazu gibt es skurrile Magie-Erklärungen und an Neil Gaiman erinnernde Götterfiguren. Diese Szenerie (und es tut gut, so etwas nach langer Zeit wieder mal zwischen zwei Buchdeckeln zu finden) macht sich erstaunlich gut in Kombination mit den Police-Procedural-Elementen. In dieser Hinsicht ist Rivers of London lustig und interessant zu lesen.

Plottechnisch hapert es dagegen ein wenig. Zum Höhepunkt hin gerät die Handlung arg ins Straucheln, während sie doch eigentlich dynamischer und schneller werden sollte. Auch fragt man sich, welcher Teufel den Autor eigentlich geritten hat, die beiden Erzählstränge – den vom übernatürlichen Serienmörder und den von der Fehde der Flussgottheiten – in einen einzigen Roman zu packen. Andererseits wirkt genau das irgendwie auch wieder sympathisch, denn man kann sich sicher sein, dass zumindest kein kommerzielles Kalkül im Sinne von »aus eins mach zwei« dahintersteckt.

So richtig verblüfft hat mich aber eher, dass Rivers of London seinen Protagonisten völlig ironiefrei als Verkörperung britischer Tugenden darstellt. Peter Grant hat eine schwarze Mutter und einen weißen Vater, aber das (post-)koloniale Gepäck, dass er aufgrund seiner Herkunft mit sich herumschleppt, ist ihm eigentlich nur lästig. Viel lieber als mit den Sorgen und Mentalitäten seiner Eltern möchte er sich mit »keeping the Queen’s peace« befassen, wie eine häufig im Roman gebrauchte Phrase lautet. Fast alles, was Grant tut oder lässt, wird als irgendwie typisch britisch herausgestellt. Polizeiarbeit in London, so lässt dieser Roman uns wissen, bedeutet eine Mischung aus hartem Durchgreifen gegen den »spirit of riot and rebellion« und sanfter Vermittlung zwischen nervigen Multikulti-Partikularinteressen. Was diese Botschaft angeht, wirkt Rivers of London völlig ernsthaft und deshalb auch ein wenig infantil.

Womit wir beim nächsten Stichwort wären. Peter Grant ist als Ich-Erzähler und Identifikationsfigur ... ziemlich kindisch. Zwar nicht so uncool wie der Junge aus der Schule, der immer nur Polizist spielen wollte, aber irgendwie doch ähnlich. Nicht so asexuell natürlich, aber entschieden pubertär. Dazu passt, dass man interessant und vielschichtig gezeichnete Frauenfiguren in Rivers of London vergeblich sucht. Fast alle auftretenden Frauen wirken wie lebensgroße, aber unechte Pappfiguren, die links und rechts an den Rändern der Handlung aufgestellt wurden. Man hätte sie überwiegend auch weglassen können, ohne sie auch nur zu vermissen. Da hoffe ich doch schwer, dass sich das in den weiteren Romanen um Constable Grant und Inspector Nightingale bessert. Sonst würde es mir nämlich am Ende noch zu kindisch werden, und das wäre irgendwie auch wieder schade.

Rivers of London von Ben Aaronovitch (392 Seiten im Taschenbuch) ist 2011 bei Gollancz erschienen.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.