Über
Sacnoth’s Scriptorium (John Rateliffs Blog) bin ich auf einen Artikel von Edward Upward gestoßen, der mit
»Sketch for a Marxist Interpretation of Literature« überschrieben und 1937 erschienen ist. Upward gehörte als Schriftsteller und politischer Aktivist dem Kreis um W.H. Auden, Christopher Isherwood, Stephen Spender und Cecil Day-Lewis an. In Rateliffs Blogpost findet er Erwähnung, weil er in seinem 1937er Artikel die Ansicht vertritt, es sei unmöglich, in dieser Zeit Fantasy zu schreiben und damit etwas über die Realität zu sagen. Das entbehrt nicht der Ironie, denn im gleichen Jahr wurde Tolkiens
Hobbit veröffentlicht und der Grundstein für das spätere Erscheinen des
Lord of the Rings gelegt – das Werk, das für die moderne Fantasy definitorische Wirkung hatte und konsequent als Allegorie auf entweder den 2. Weltkrieg oder den Kalten Krieg missverstanden wurde. Ironisch ist auch, dass Upward eng befreundet war mit Auden, einem der prominentesten Bewunderer des
Lord of the Rings, und mit Isherwood, der durch eine positive Rezension dazu beitrug, den
Martian Chronicles des kürzlich verstorbenen Ray Bradbury zu ihrem Ruhm zu verhelfen.
Rateliffs Blogpost verzeichnet Upward als Vertreter eines totalitären Literaturprogramms, weil er in seinem Essay für seine Gegenwart die Position vertritt, nur marxistische Literatur könne gute Literatur sein. Dies kann Upward zufolge selbstverständlich nicht für die Literatur vor dem Aufkommen des Marxismus gelten, vielmehr stellt er sich die Frage, was gute Literatur überhaupt ausmacht und welche spezifische Gestalt sie in der Gegenwart (d.h. Upwards Gegenwart in der Zwischenkriegszeit) annehmen kann. Darauf weist auch Rateliff hin; sein Blogpost wird Upward dennoch nicht gerecht.
Von einer totalitären, auf Kommando produzierten Literatur distanziert Upward sich ausdrücklich: »[The Marxist] does not, as anti-Marxists sometimes assert, claim that no idea can be true unless it is to be found in the works of Marx and Engels or in the decisions of the Communist International.« Er zieht auch keine abstrusen Schlussfolgerungen aus seiner Position, wie etwa die, dass eine marxistisch gesinnte Autorin gute Literatur quasi als Selbstläufer hervorbringen müsse. Vielmehr werde eine solche Ansicht »rejected at once by any practising writer who took his work seriously, who wanted to write ›better‹ books in the future than he had written in the past; it would be rejected also by any Marxist who approached literature from genuine interest and not from a mere sense of political duty. [...] The quality of his writing will depend upon his individual talent, his ability to observe the complex detail of the real world.«
Was aber zeichnet gute Literatur in Upwards Augen aus? Sie muss realistisch sein, was für Upward bedeutet, dass sie sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen befassen muss, in denen sie produziert wird. Das heißt aber nicht, dass sie im mimetischen Sinne realistisch sein muss:
This does not mean that [the Marxist] prefers a photographic naturalism to all other styles of writing: on the contrary, he recognises that only in exceptional historical circumstances can naturalistic writing give a true picture of life—since only in exceptional circumstances, in revolutions and in major wars, do fundamental realities come to the surface of life.
Im guten Sinne realistisch ist Literatur für Upward dann, wenn sie die Gegenwart nicht nur beschreibt, sondern auch das in ihr angelegte Potential für eine bessere Zukunft zum Vorschein bringt. Das ist interessant, denn man könnte sagen, dass Literatur für Upward wirklich realistisch nur dann ist, wenn sie visionär ist. Ein Roman, der die bourgeoise Gesellschaft der Zwischenkriegszeit beschreibt und ihre Dekadenz anprangert, ist nicht notwendigerweise realistisch in Upwards Sinn, wenn er z.B. nichts über die Möglichkeit einer Revolution gegen diese gleichgültige und unbarmherzige Gesellschaft aussagt. Auch in der Literaturgeschichte hätten diejenigen Werke, die nicht nur ihre Gegenwart beschreiben, sondern auch auf zukünftige Entwicklungen hinausgreifen, stets die größte Langzeitwirkung entfaltet.
Die polemische Auseinandersetzung mit der Fantasy, die Rateliff dazu veranlasste, Upwards Essay einen Blogpost zu widmen, stellt im Text einen Nebenschauplatz dar. Upward grenzt sich in erster Linie von den großen Autor_innen der klassischen Moderne ab, insbesondere von Joyce, Proust und Lawrence. Upward gesteht ihnen zu, dass sie versucht hätten, etwas über die Wahrheit des Lebens auszusagen, aber es sei ihnen letztlich nicht gelungen, auch wenn Lawrence in seinen Ahnungen am weitesten vorgedrungen sei. Die großen Modernen machen sich in Upwards Augen kleinbürgerlich oder aristokratisch-dekadent aus; für die Realitäten des Lebens um sie herum seien sie entweder blind (wie Joyce und Proust) oder schreckten vor ihnen zurück (wie Lawrence). In den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ihrer Zeit hätten sie letztlich einen rückwärtsgewandten Standpunkt eingenommen und seien gescheitert. Upward betont abermals, dass dies nicht an ihrem mangelndem Willen gelegen habe, die Wahrheit zu sagen, denn sonst hätten sie »thrillers and amusing fantasies« geschrieben.
Die Tendenz einer solchen Aussage ist klar. Rateliff hat recht, insofern einige der Aussagen, die Upward über Fantasy macht, zu den schwächsten und unreflektiertesten des Artikels zählen. Upward meint, Fantasy bedeute in der Gegenwart und »in practice a retreat from the real world into the world of imagination«. Er meint, der Zweck von Fantasy könne ausschließlich darin liegen, falschen Trost zu gewähren in »a world which is daily drifting towards a war of unprecedented destructiveness«. Solche Aussagen vertritt er mit Vehemenz und verwickelt sich damit in unnötige Widersprüche. Vor allem aber wird in ihnen die Tragik sichtbar, mit der Upward konfrontiert war, die in Rateliffs Blogpost aber fast völlig ignoriert wird.
Upward sah einen kommenden Weltkrieg voraus, zerstörerischer als der erste, wie er 1939 von Nazideutschland entfacht wurde (und, könnte man hinzufügen, vom faschistischen Italien in seiner
Invasion Äthiopiens 1935/36 bereits geprobt worden war). Wie sollte man in einer solchen Situation weiterhin als Schriftsteller_in leben und wirken? Upward spricht die Gefahr an, dass ein neuer Krieg und der Aufstieg des Faschismus die Literatur zum Verstummen bringen könnten. Gleichzeitig ist er überzeugt, dass Literatur eine wichtige, entscheidende Rolle im Leben der Menschen zukommt, und dass gute Literatur etwas ist, wofür gekämpft werden muss. Man kann sich beim Lesen von Upwards Essay gut vorstellen, dass die Situation im Jahr 1937 einen Autor, der sich fragt, was er zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen kann, ziemlich aussichtslos vorgekommen sein mag.
Upwards Antwort ist eindeutig: Um der Verantwortung, die die Situation ihnen auferlegt, gerecht werden zu können, müssen Schriftsteller sich ohne Einschränkungen der Arbeiterinnenbewegung anschließen bzw. am Marxismus orientieren: »A writer to-day who wishes to produce the best work that he is capable of producing, must first of all become a socialist in his practical life, must go over to the progressive side of the class conflict.« Diese Antwort ist (wie ich nicht etwa aus borniert-antikommunistischer, sondern aus einer kritisch-marxistischen Perspektive sagen möchte) in gewissem Sinne Teil des Problems und nicht ihre Lösung. Denn Upward steht voll und ganz im Arbeitsfetischismus der sozialistischen Bewegung seiner Zeit. Die zum Sozialismus übergelaufene Schriftstellerin, so macht er klar, muss »extra work« verrichten, sie muss zusätzlich arbeiten. Sie ist nicht nur verpflichtet, gute, wahrhaft realistische Literatur zu erschaffen, sondern muss auch noch vollen Einsatz für die Sache der Bewegung zeigen (»to sacrifice life itself in the cause of the workers«). Sie muss sich bewusst sein, dass nur die Entscheidung für den Sozialismus es ihr ermöglicht, gute Literatur zu schreiben, aber gleichzeitig kann es passieren, dass diese Entscheidung sie bis zur Aufopferung vereinnahmt, so dass sie vielleicht gar nicht mehr dazu kommen mag, überhaupt zu schreiben. Das in Upwards Frage, wie man angesichts von Faschismus und Krieg schreiben kann, enthaltene Dilemma wird durch seine Antwort im Grunde nur auf die Spitze getrieben: Schreiben kann man nur, indem man Sozialist_in wird, aber indem man Sozialist_in wird, muss man das Schreiben möglicherweise aufgeben. Hier wird deutlich, warum der undogmatische Marxismus der Arbeiter_innenbewegung vorwerfen konnte, sie verherrliche die Leistung, die Aufopferung und die Plackerei, statt zu versuchen, sie wirklich und wirksam zu überwinden.
Diese Haltung Upwards steht in engem Zusammenhang zu seinem Verdikt über die Fantasy: Er bemerkt, dass der Rückzug aus der Realität, den er als Möglichkeitsbedingung der Fantasy ansieht, »may have been practicable and desirable in a more leisured and less profoundly disturbed age than our own«. Die besten Mythen und Märchen seien in früheren Zeiten entstanden, als »the majority of men, though they had no hope of bettering their material conditions, were not so harassed by life that passive contemplation was impracticable for them«. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Freude daran, sich von der gegenwärtigen Realität zu distanzieren und sich eine andere Wirklichkeit zu erträumen, dieser in meinen Augen höchst wünschenswerten und lustvollen Tätigkeit gesteht Upward nur dann ihr Recht zu, wenn ihr in einer »more leisured and less profoundly disturbed« Gesellschaft nachgegangen wird, in einer Gesellschaft, in der die Menschen vom Leben nicht so gebeutelt werden wie heutzutage.
Upward gelangt nicht zu dem Punkt, an dem er bewusst eine Verbindung herstellen könnte zwischen einer solchen Gesellschaft, in der das Träumen ungehindert möglich ist, und den auch von ihm herbeigesehnten klassenlosen Zustand, in dem es Unterdrückung und Ausbeutung nicht mehr gibt, und in dem Schriftsteller_innen einfach nach Lust und Laune schreiben können. An einer einzigen Stelle scheint es fast so weit zu sein:
If we accept Sir James Frazer’s view that there have been three main and successive phases in the thought of man—the phases of magic, religion and science—and that science, unlike religion, agrees with magic in proclaiming man’s power over nature, we may suppose that future writers will no longer regard Tragedy—the contemplation of the defeat of man—as the most effective and most serious literary form. It is possible that the ‘fairy’ story—celebrating the triumph of man over dangers and difficulties—will reappear on a higher, a scientific level.
Hier hat Upward plötzlich ganz anderes über Fantasy (im weitesten Sinne) zu sagen: Das Märchen wird von ihm als literarische Gattung gepriesen, die den Triumph des Menschen über Gefahren und Hindernisse feiert. Fast nähert er sich dem wundervollen, Chesterton zugeschriebenem Diktum »Fairy tales are more than true—not because they tell us dragons exist, but because they tell us dragons can be beaten.« an. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn man die Beliebtheit und den Erfolg, den spekulativ-phantastische Literatur im finsteren 20. Jahrhundert hatte, zumindest in Teilen diesem utopischen Impuls des Märchens zuschreibt. Und was sind die besten Science-Fiction-Erzählungen anderes als wissenschaftlich und gesellschaftstheoretisch unterfütterte Märchen? Leider sagt Upward nur wenig mehr darüber, wie genau er sich die visionär-realistische Literatur, die er einfordert, denn vorstellt. Lediglich in den letzten drei Absätzen seines Essays geht er darauf ein. Seine abschließenden Sätze machen das Dilemma, in dem er selbst steht, noch einmal in besonderer Weise deutlich:
Decaying capitalism is the enemy of all culture, of all good-living, and if we are to do our best in the fight against capitalism and for the establishment of a new world order, we need to understand and to feel the grandeur of our task. This understanding and this feeling the imaginative writer can give us.
Phantasievolle Schriftsteller_innen sollen also, im Namen des Kampfes für das gute Leben, Verständnis wecken für die Größe dieses Kampfes. Upward kommt der Idee sehr nahe, dass Fantasy und Science Fiction, also die spezifisch modernen Ausprägungen des märchenhaften Erzählens (»celebrating the triumph of man over dangers and difficulties«), sich für diese Aufgabe in besonderem Maße eignen könnten. Und doch will er den Schriftsteller_innen diese Form des Erzählens versagen, befangen in dem naheliegenden, rechtschaffenen Irrtum, sie sei nur in besseren Zeiten möglich.
Man würde es sich zu einfach machen, wenn man daraus lediglich den Schluss ziehen würde, Upward sei selber nicht zur Erfüllung seiner Forderung gelangt, auf literarisch-visionäre Weise die in der Gegenwart angelegten Möglichkeiten anderer, besserer Welten zu erkunden, sondern in den engen Begrenzungen geblieben, die seine Zeit ihm auferlegte. Wer könnte ihm das vorwerfen, angesichts von Wirtschaftskrise und sich ausbreitendem Faschismus? Falsch wäre auch eine rein apologetische Haltung des Jubels darüber, dass Fantasy und Science Fiction sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als beliebte Literaturform durchgesetzt haben. Der Großteil der spekulativen Literatur kommt ja tatsächlich nicht über den falschen, verlogenen Trost hinaus, den Upward so sehr kritisiert. Aber die Krise und der Faschismus sind heute immer noch da, und der eine erweist sich aufgrund der anderen wieder einmal als besonders rührig. Es ist nicht 1937, aber die Gegenwart könnte sich als eine Zeit erweisen, in der es besonders dringlich ist, durch phantasievolles Erzählen an das zu erinnern, was sein könnte, um sich nicht von dem Schrecken darüber, was ist, lähmen zu lassen. Im besten Falle hätte ein solches Unternehmen wenig mit Weltflucht zu tun, aber viel mit Weltveränderung, wie auch Upward sie im Sinn hatte: »Good writing—like good housing and good wages—is something worth fighting for.«