Michael Chabon ist ein Autor mit einem Zielgruppenproblem. Seit seinem hysterisch-realistischen Opus magnum The Amazing Adventures of Kavalier & Clay hat er, der sich zuvor in die minimalistisch-karge Prosatradition des 20. Jahrhunderts einordnete, eine YA-Fantasy, ein Sherlock-Holmes-Pastiche, einen Alternativweltroman (der prompt den Locus, den Hugo und den Nebula abräumte) und eine Michael Moorcock gewidmete Abenteuergeschichte veröffentlicht. Man muss sich das mal so richtig vor Augen halten: Chabon ist ein Pulitzer-Preisträger, der mit beachtenswerter Konsequenz – und in durchaus provokanter Haltung – auf dem Weg ist, ein Genre-Autor zu werden. Mit der Essay-Sammlung Maps & Legends, in der er stolz seine Vorliebe für Comics, Fantasy, Mythologie und viktorianische Gespenstergeschichten zelebriert – aber auch melancholisch über den Außenseiterstatus reflektiert, den ein solcher Weg und ein solches Bekenntnis mit sich bringen –, hat er auch gleich das passend-trotzige Manifest dazu geliefert. Putzig ist, dass die Kritik sich über diesen ostentativen Gestus mit dem Argument beklagt, Chabon habe doch für einen Roman über Superheldencomics den Pulitzer bekommen; er habe also kein Recht, sich als Underdog zu sehen. Aber ist es wirklich so, dass Chabons Genre-Switching keinenn Einfluss auf den Status eines Autors hat? David Anthony Durhams Feststellung etwa, seit er sich mit Pride of Carthage und Acacia der spekulativen Literatur zugewandt habe, ignoriere ihn das New York Times Book Review völlig, spricht in dieser Hinsicht Bände.
Aber kommen wir zu Sommerland, dem Buch, das hier rezensiert werden soll; die erste reine Fantasy, die Chabon veröffentlicht hat. Protagonist ist Ethan Feld, ein melancholischer Elfjähriger mit einem baseballvernarrten Vater und einer früh verstorbenen Mutter. Ethan selbst hat nicht viel Lust auf Baseball und spielt eigentlich nur seinem Vater zuliebe, der den Tod seiner Frau nur schwer verwindet. Viel lieber zieht Ethan sich an einsame Orte zuück, wo er sich »in seiner Einsamkeit beinahe glücklich« fühlen kann. Ethans Freundin, Jennifer T. Rideout, stammt aus einer indigenen Familie, muss sich jedoch damit herumschlagen, dass die indigene Präsenz auf der kleinen Insel vor der Küste von Washington, wo der Roman seinen Ausgangspunkt nimmt, schlicht geleugnet wird. Außerdem hat sie ein gespanntes Verhältnis zu ihrem Vater. Der Dritte im Bunde ist Thor Wignutt, ein Junge, der selbst nicht so recht weiß, was mit ihm los ist, und darum die für ihn einleuchtende Erklärung gefunden hat, dass er ein Cyborg sei.
Die drei Außenseiter-Kinder werden nun – wie könnte es anders sein – von Chiron Brown, einer Art kosmischem Baseball-Talentscout, rekrutiert, um in den mythischen Sommerlanden den Kojoten, den archetypischen Trickster der nordamerikanischen Mythologie, in einem großen Ragnarök-Baseballspiel zu besiegen. Der Kojote ist nämlich drauf und dran, die Welt inklusive der Sommerlande zu vernichten, um daraufhin in einem Akt prometheischer Selbstschöpfung das All rein aus seinem Geiste neu zu schaffen: das Universum als Ego-Trip.
So weit, so gewöhnlich. Der Spaß, den man mit Sommerland haben kann, liegt aber woanders. Ähnlich wie Neil Gaiman greift er zahlreiche Mythen und Sagengestalten auf – nicht um sie zu systematisieren (das tun viele Fantasy-Autor_innen, und meist ist es ziemlich langweilig), sondern um sie in ihrer faszinierenden Eigentümlichkeit aufblitzen zu lassen, durcheinanderzuwürfeln und an jeder Ecke lauern zu lassen. Chabons Hauptquellen sind die skandinavische und die nordamerikanische Mythologie, aber es kommen auch ganz andere Gestalten vor, wie beispielsweise das zentralamerikanische Gespenst La Llorona, dessen Geschichte ich in Guatemala (in zwei verschiedenen, gleichermaßen wahren, aber perspektivisch völlig unterschiedlichen Fassungen) kennengelernt und jetzt also unverhoffterweise in einem Chabon-Roman wiedergetroffen habe. Das alles ist ziemlich faszinierend, und, wenn man sich (so wie ich) mit nordamerikanischer Folklore nicht auskennt, nicht zuletzt auch verwirrend. Die englischsprachige Wikipedia gibt einige hilfreiche Informationen zu Chabons diesbezüglichen Quellen. Man kann sich also nach dem Lesen lustvoll dem Spaß des Mehrdarüberwissenwollens hingeben.
Die Stärke des Romans liegt in der Glaubensfestigkeit, die er vermittelt, in der Einsicht, wie wunderbar es ist, spinnen zu dürfen. Kleine Gegenstände neigen einfach dazu, in irgendwelche Ritzen zu fallen und zu verschwinden? Blödsinn! Fehlende Socken, abgerissene Knöpfe, Kleingeld aus der Hosentasche werden in Wirklichkeit von Ferischern gestohlen, kleinen, wett- und sammelgierigen Wesen, die die erbeuteten Schätze in ihren Elfenhügeln horten. Bigfoot ist nur ein Typ in einem Affenkostüm? Das kann sich ja einbilden, wer will, ich jedenfalls glaube fest daran, dass auf dem verwackelten Film aus dem Jahre 1967 tatsächlich der Sasquatch aus den Wäldern zu sehen ist. Oder kann man sich eine platt-rationalistischere Erklärung für die riesigen Saugnapf-Narben auf den Rücken von Pottwalen vorstellen als die Behauptung, die Wale würden in ihrer Jugend von relativ kleinen Tintenfischen angegriffen und die Narben dann im Laufe ihres langen Tiefseelebens mitwachsen? Wie schön und schrecklich ist dagegen die Vorstellung dreißig Meter langer Riesenkalmare, die gegen die Wale gewaltige unterseeische Schlachten schlagen! Eine suspension of disbelief im Wortsinne ist das wohl nicht, sondern einfach der Wunsch, bei der allgegenwärtig anfälligen Interpretation der Wirklichkeit auch wirklichen Spaß zu haben ...
Die Queste-Handlung von Sommerland dümpelt dagegen oft genug vor sich hin. Sie besteht darin, dass Ethan, Jennifer T. und Thor, verstärkt durch eine Reihe von Fabelwesen, auf ihrem Weg durch die Sommerlande ein Baseballspiel nach dem anderen bestehen müssen, bis sie endlich dem Kojoten und seinen blutrünstigen Heerscharen entgegentreten können, und bildet eigentlich nur den Anlass, ein Mythologem nach dem anderen einzuführen, sie geschickt zueinander in Beziehung zu setzen (was sonst ist Mythologie?) und in ihrer Schönheit und Gefährlichkeit glänzen zu lassen. Das gibt Chabon auch unumwunden zu, wenn er einen seiner Charaktere sagen lässt, dass ein Baseballspiel eigentlich nur dafür gut sei, Aufmerksamkeit auf die Kadenz eines langen Sommernachmittags zu lenken. Das beschreibt perfekt die Funktion des Plots in diesem Buch.
Stilistisch hat mich Sommerland nicht so hin- und weggerissen, wie Chabon das normalerweise tut – was wahrscheinlich daran liegt, dass ich zum ersten Mal ein Buch von ihm in deutscher Übersetzung gelesen habe. Es muss eine harte Nuss sein, Chabons komplexe Prosa in eine andere Sprache zu übertragen. Mit den Originalen ist man bei Chabon vorläufig wohl besser bedient. In Sommerland bedient er sich mit einiger Begeisterung der typischen Stilmittel klassischer Fantasies und Abenteuergeschichten für Kinder (Hauptinspiration für den Roman ist wohl Susan Coopers The Dark Is Rising), wie z.B. die direkte Ansprache der Leser_innen. Durch gewisse inhaltliche Akzentpunkte, die Chabon setzt, reflektiert er jedoch auch die Ausblendungen und Augenwischereien, die Kinder- und Jugendliteratur häufig unerträglich machen. Chabons Charaktere jedenfalls müssen pinkeln, werden im Laufe ihrer Queste immer ungewaschener, nehmen ihre eigenen Körper und die der anderen war. Mädchen, die gerettet werden müssen, sind weit und breit nicht zu entdecken. Und Gewalt ist ... eher ziemlich fies und keine ambivalenzfreie Problemlösung. Eindrücklichstes Beispiel: Der Kojote will mit seiner Armee von Werwölfen eine befestigte Stadt von Riesen auf seine Seite ziehen. Dies erreicht er, indem er in eiskaltem Verrat die Riesen ein splatteriges Schlachtfest unter ihrer Lieblingsbeute, den arglosen Werwölfen, anrichten lässt. Eine Szene, die mich als Kind ganz schön beunruhigt hätte.
Fazit: Nach der gewaltigen Metafiktion von Kavalier & Clay ein Buch, dass für den Autor sichtlich ein Wagnis und die Erfüllung eines Traums darstellte. Andere Romane Chabons mögen bedeutender sein, dafür ist dieses hier grundsympathisch. Man merkt dem Autor an, dass er beim Schreiben gelegentlich unsicher war, wie er mit seiner sprühenden Fantasie umgehen sollte. Ein klein wenig Systematisierung braucht eine rundum gelungene Fantasy halt doch, damit die Leser_innen sich darin zurechtfinden können. Ist das gegeben, braucht man auch nicht mehr auf allzu abgegriffene Queste-Handlungen zurückzugreifen. Chabon beabsichtigt, zwei Sequels zu Sommerland zu schreiben – wie könnte es anders sein – und wird somit Gelegenheit haben, seine durch den Auftaktband sicherlich geschärften Skills als Fantasy-Autor unter Beweis zu stellen.
Sommerland von Michael Chabon ist 2002 bei Hanser und 2005 als Taschenbuch (478 Seiten) bei BvT erschienen. Die Übersetzung besorgte Reiner Pfleiderer. Für Ahnungslose wie mich ist hinten im Buch eine kurze Beschreibung der Baseball-Regeln und ein Glossar abgedruckt. Ich bin mir aber immer noch nicht sicher, ob ich’s kapiert habe.
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