Donnerstag, 19. August 2010

Dunkle Pilze

Was Fantasy und SF so unterhaltsam (und bedenklich) macht ist nicht zuletzt die Tatsache, dass spekulative Literatur — Phantastik — wie auch immer man das zusammenfassen will — ein Tummelplatz verschrobenster und spinnerter Theorien und Ideologien ist. Man denke nur an die in SF-Kreisen insbesondere von Vernor Vinge angefachte Singularitätsdebatte und den damit eng zusammenhängenden, faszinierend-abstoßenden Schmarrn, mit dem der sogenannte Transhumanismus von sich reden macht. Komplementär dazu verlaufen die regelmäßig auftretenden Mutmaßungen, wie spekulative Literatur politische Entwicklungen beeinflusst. Mein Favorit in dieser Hinsicht: Isaac Asimovs Foundation-Romane sollen die Inspiration für Osama Bin Laden gewesen sein.*

Aber zurück zur Phantastik und ihren Ideologien. Lake Hermanstadt kennt sie alle und stellt hier listenartig einige häufig anzutreffende Beispiele dar:
  • Die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells fristet ein Schattendasein am Rande der etablierten ökonomischen Theorien. Großer Beliebtheit erfreut sie sich dagegen in einigen kirchlichen Kreisen, die mit missionarischem Eifer für die Anwendung von Gesells Theorien eintreten und in ihnen die Lösung aller sozialen Ungerechtigkeit sehen. Die Freiwirtschaftslehre fordert, kürzestens zusammengefasst, dreierlei: Geld soll mit einem negativen Zins belastet werden, damit es nicht gehortet werden kann, Privatbesitz an Boden soll in öffentliches Eigentum überführt werden, und es soll ein weltweites Freihandelssystem etabliert werden. Eine etwas krude Mischung aus eher linken Ideen einerseits und libertär-kapitalistischen Auffassungen andererseits also. Zum historischen Hintergrund: Der Deutsch-Argentinier Silvio Gesell (1872—1930) entwickelte seine wirtschaftspolitischen Ansichten in Argentinien, saß kurzzeitig in der Regierung der Münchner Räterepublik und übte später einigen Einfluss auf die Lebensreformbewegung aus. Sein Sohn Carlos baute ab 1932 nach lebensreformerischen Ideen das Seebad Villa Gesell südlich von Buenos Aires auf. Eine lokal begrenzte Anwendung erfuhren Teile von Gesells Theorien in den bekannten Regionalwährungen. Problem: Deren gelegentlicher Erfolg führt Gesell-Anhänger_innen zu schwärmerischen Lobreden auf die Freiwirtschaftslehre, die mitunter schwerer abzustellen sind als ein Zeuge Jehovas im vollen Bekehrungseifer. Kritiker_innen sehen in Positionen Gesells zudem eine gewisse Nähe zum Antisemitismus.

    In der Fantasy war es Michael Ende, der in Momo Gesells Geldtheorie auf quasi-allegorische Weise verwurstete. Und in der SF schrieb Andreas Eschbach mit Eine Billion Dollar gleich einen dicken Roman von über 700 Seiten, der nahezu komplett auf der Freiwirtschaftslehre beruht: Anhand von Aufstieg und Fall eines italoamerikanischen Billionärs referiert Eschbach, warum nach Ansicht von Freiwirtschaftler_innen das gegenwärtige Wirtschaftssystem nicht funzt. Wer sich mit dem Thema beschäftigen will, aber auf das öde Sektierertum der freiwirtschaftlichen Gruppen und Institutionen allergisch reagiert, sollte zu Eschbachs Schmöker greifen, der tatsächlich ein sehr kurzweiliges, mehr von einer spannenden Story als von Missionseifer getragenes Garn ist.**
  • Michael Ende war bekanntlich nicht nur ein Fan Silvio Gesells, sondern sympathisierte auch mit der Anthroposophie Rudolf Steiners. Die ist mit ihren Atlantis-Spekulationen, ihrem Reinkarnationsglauben und ihrer Akasha-Chronik ein schlagender Beweis für Jorge Luis Borges' Diktum, dass die metaphysische Literatur letztlich ein Zweig der Phantastik sei. Ein in Phantastik-Kreisen recht bekannter Anthroposoph war Owen Barfield, Mitglied der berühmten Inklings und enger Freund von C.S. Lewis. Ein eher ambivalentes Verhältnis zur Anthroposophie pflegte dagegen William Golding (als Verfasser des dystopischen Lord of the Flies — beklagenswerterweise — ein klassischer Ein-Buch-Autor), der gleichwohl Lehrer an einer steinerianisch geprägten Schule war und enge persönliche Kontakte zu anthroposophischen Kreisen unterhielt.

    Die Kritik an der Anthroposophie ist hinlänglich bekannt, eine Übersicht findet sich hier.
  •  Ein besonders skurriles Beispiel für in der Fantasy wirksame Ideologien gibt der sogenannte Objektivismus ab. Dieser ist eine von der russisch-amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand begründete Philosophie, welche sich vor allem durch Dummdenksätze wie »Existenz existiert« und einen ausgeprägten Sozialdarwinismus (mit anarchokapitalistischer Schlagseite) auszeichnet. Rand selbst legte ihre sozialphilosophischen Ansichten in der legendär langweiligen Romanutopie Atlas Shrugged ausführlich dar. In einer Books That Made a Difference in Readers' Lives betitelten Umfrage belegt das monumentale Werk den zweiten Platz.*** Ungleich bekannter dürfte in der Fantasy-Gemeinde aber Terry Goodkinds vielbändiger Zyklus Sword of Truth sein, ein offener Versuch, Rands ›Objektivismus‹ populärliterarisch darzustellen. Die Leser_innen von SoT teilen sich, grob gesagt, folgendermaßen auf: einerseits in einen gar nicht mal so kleinen Zirkel ergebener Fans und andererseits in diejenigen, die den Zyklus der wohlverdienten Lächerlichkeit preisgeben wollen. Rands Einfluss reicht allerdings weit über die phantastische Literatur hinaus und erstreckt sich auf so einflussreiche Persönlichkeiten wie den Wikipedia-Gründer Jimmy Wales und den früheren Chef der US-Notenbank Alan Greenspan. Unverhohlen begeistert über Rand zeigte sich kürzlich die FAZ. Schön deutlich aufs Korn genommen wird sie dagegen in Matt Ruffs Trilogie der Stadtwerke.
  • Das Mormonentum könnte man als eine Religion bezeichnen, deren Gründung gewissermaßen auf einen Fantasy-Roman zurückgeht. Es gibt darüber hinaus jedoch auch ein spezifisches Genre mormonischer Fantasy/SF. Die bekanntesten Beispiele dürften die Romanzyklen Orson Scott Cards sowie Tathea und Come Armageddon von Anne Perry darstellen. Häufig wird auch (nicht unbegründet) gemutmaßt, dass Stephenie Meyers strenge mormonische Moral einen profunden Einfluss auf ihre Twilight-Serie haben könnte.
  • Gewissermaßen umgekehrt verhält es sich mit Robert A. Heinleins Roman Stranger in a Strange Land (1961). Darin wird eine fiktive Religion beschrieben, welche sieben Jahre nach Erscheinen des Buchs auch in der wirklichen Welt Gestalt annahm, und zwar in Form der neopaganistischen Church of All Worlds (CAW). Die schreibt in ihrem Selbstverständnis über sich und ihre Mitglieder:
    "CAW envisions the religious and psychological development of the Soul as embryonic. In recognition of this, CAW members will often refer to themselves as 'Eggs'."
    Was der olle Militarist und Rechtsausleger Heinlein von solchen eierköpfigen Hippie-Späßen hielt, entzieht sich leider meiner Kenntnis.
  • Der Vollständigkeit halber muss natürlich erwähnt werden, dass die berühmt-berüchtige Scientology als eine SF-Spinnerei ihres Gründers L. Ron Hubbard begann.****
    Die Liste wird in den nächsten Tagen noch um einige kuriose Einträge ergänzt werden. Also Augen auf, wer da interessiert ist. Übrigens will ich vorsichtshalber erwähnen, dass ich mit diesem Eintrag keineswegs SF und Fantasy diskreditieren will, etwa im Stile jener Autor_innen, die phantastische Literatur plump mit Reaktion gleichsetzen. Das grundlegende Postulat jeder Phantastik ist, dass die Welt auch ganz anders sein könnte, als sie gegenwärtig ist. Phantastische Literatur (auch und gerade die als rückwärtsgewandt und nostalgisch gescholtene Fantasy) hat damit ein gewaltiges emanzipatorisches Potential. Dass in ihr Genialität, Spinnerei und Wahn häufig nah beieinanderliegen, zeitigt mitunter die dubiosen Ergebnisse, die in dieser Liste versammelt werden.

    Damit ist bereits gesagt, dass ich keinen endemischen Zusammenhang zwischen Phantastik und ideologischem Obskurantismus sehe. Bleibt die Frage, warum der Zusammenhang dennoch oft genug auftritt? Meine persönliche Vermutung geht dahin, dass SFF in vielerlei Hinsicht halt immer noch ein Schmuddelgenre ist, das im Verborgenen blüht. Ganz ähnlich verhält es sich mit gewissen Weltanschauungen, die — genau wie Pilze — am besten im Keller wachsen.
      * Das Urbild solcher Spekulationen stellt vielleicht der Verdacht Klaus Manns dar, Hitlers Karl-May-Lektüre habe einen wesentlichen Einfluss auf die Eroberungsgelüste des Gröfaz ausgeübt. 
      ** Weitere Inspirationsquellen von Eine Billion Dollar sind Umberto Ecos Thesen über ein neues Mittelalter und Carl Amerys eindrücklich-erschreckender Essay Hitler als Vorläufer. Wer Eschbachs freiwirtschaftliche Ansichten lieber in Kurzform lesen möchte, sei auf seinen Aufsatz in Briefe an den Reichtum (hrsg. von Carl Amery), Luchterhand, München 2005 verwiesen.
      *** Die Liste beinhaltet noch zwei weitere Fantasy-Romane: den LotR (Platz 5) und Das Buch Mormon (Platz 8).
      **** Vgl. Hauser, Linus, Möge die Macht mit dir sein! Was Science Fiction und Religion miteinander zu tun haben, in: Jeschke, Wolfgang/Mamczak, Sascha (Hgg.), Das Science-Fiction-Jahr 2003, München 2003, 15—68. Darin auch Weiterführendes über Himmelsreisen, apokalyptisches Denken, CAW, Erich von Däniken und mögliche SF-Spiritualitäten, die ohne größenwahnsinnige Allmachtsphantasien auskommen.

      8 Kommentare:

      molosovsky hat gesagt…

      Endlich Zeit kurz bescheid zu geben: Eintrag ist großes Kino!

      Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

      Danke. Na hoffentlich komme ich auch wirklich dazu, den Eintrag noch zu ergänzen...

      Reitersmann hat gesagt…

      Scientology spielte in der Golden Age SF eine gewisse Rolle, hat sich aber im Grunde schnell selbst diskreditiert. ---
      In der aktuellen SF fällt mir die aktivistische Internet-Propaganda von Leuten wie Cory Doctorow zunehmend unangenehm auf. Gibt es für diese notorischen Sysadmins, die Romane mit Blogs verwechseln und deren Sprache den Sex-Appeal eines HTML-Codes hat, eigentlich schon eine ideologische Benennung? Die LitCologne bezeichnete Doctorow vor ein paar Jahren mal hübsch als "Science Fiction 2.0". Ich war hingegen der Auffassung, der Mann sollte erstmal schreiben lernen, ehe man ihn zum Evolutionssprung ausruft.

      Reitersmann hat gesagt…

      Sorry, ich war so gebannt von der Objektivismus-Analyse, dass ich den kurzen Scientology-Beitrag überlesen habe. Streichen Sie meine Ergänzung.

      Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

      Hallo Reitersmann,

      Scientology (bzw. die sogenannte Dianetik) habe ich nur kurz erwähnt, weil es neben Heinleins Roman das vielleicht bekannteste Beispiel für den Zusammenfluss von Phantastik, Weltanschauung/Ideologie und cult movement ist. Muss bei Gelegenheit mal den Artikel darüber verfußnoten, der in einem der Heyne SF Jahrbücher erschienen ist.

      Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

      So, Eintrag wurde um einen kurzen Absatz und eine Fußnote ergänzt.

      Stefan Wehmeier hat gesagt…

      "Und in der SF schrieb Andreas Eschbach mit Eine Billion Dollar gleich einen dicken Roman von über 700 Seiten, der nahezu komplett auf der Freiwirtschaftslehre beruht"

      Herr Eschbach ist weit davon entfernt, die Natürliche Wirtschaftsordnung verstanden zu haben. Er glaubt allenfalls an den Denkfehler der so genannten "Geldschöpfung der Geschäftsbanken":

      http://www.deweles.de/files/nebel_im_senf.pdf

      Es gibt auch keine kirchlichen Organisationen, die auch nur andeutungsweise begriffen haben, was die Natürliche Wirtschaftsordnung ist, denn ihre Verwirklichung macht die Religion überflüssig. Herzlich Willkommen im 21. Jahrhundert:

      http://www.deweles.de/willkommen.html

      Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

      Danke für diesen Link, der mich auf schlagende Weise daran erinnert hat, warum ich den Blogeintrag geschrieben habe.

      Foto-Disclaimer

      Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.