Montag, 21. August 2017

Gibt es die faschistische Fantasy? (Teil 4)

Im letzten Post dieser Reihe zählte ich verschiedene Neo-Mythologien auf, die zum ideologischen Grundbestand des Nationalsozialismus gehörten. Gemein war diesen Neo-Mythologien, dass sie »die uralte Herkunft und spirituelle Überlegenheit des ›Ariers‹« (Rüdiger Sünner) belegen sollten. Die Bezugnahme auf den Atlantismythos diente der Behauptung des hohen Alters der arischen ›Rasse‹, deren Urheimat Atlantis gewesen sein soll. Postuliert wurde eine prähistorische Hochzivilisation im Nordwesten, die selbst der ägyptischen und der mesopotamischen Zivilisation vorausgegangen sei. Die Welteislehre, eine pseudowissenschaftliche Theorie, die die Entstehung des Kosmos zu erklären behauptet, diente dazu, den arischen Menschen als eine Art höheres Wesen darzustellen, vom Himmel herabgestiegen wie die Engel.

Vordergründig geht es mir aber immer noch um die Frage, wie es die Nazis mit den alten German_innen hielten. Fest steht, dass einige NS-Chefs der deutschen Vorgeschichte eher Desinteresse entgegen brachten. Andere dagegen berauschten sich an der Vorstellung, im deutschen Boden könnten jahrtausendealte Kulturgüter schlummern, die mindestens die Gleichwertigkeit der German_innen mit den Mittelmeerzivilisationen beweisen würden. Ein Buchtitel zu diesem Thema spricht durchaus passend von Himmlers Germanenwahn. Stillschweigend vorausgesetzt wurde dabei, dass die alten German_innen tatsächlich die Vorfahren der heutigen Deutschen sind. Letztlich wurde so getan, als ob die Vorfahren der heute in Deutschland lebenden Menschen mindestens seit der Schlacht im Teutoburger Wald zwischen Rhein und Oder festgesessen hätten.

Für die NS-Wissenschaft warf das allerdings ein Problem auf. Die frühesten Erwähnungen von German_innen in römischen Texten stammen aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. Wie passt das mit dem angeblich prähistorischen Alter der arischen ›Rasse‹ zusammen, deren deutsche Dependance die German_innen sein sollten? Einen Lösungsversuch unternahm der Archäologe Gustaf Kossinna (1858–1931), der Gründer der Deutschen Gesellschaft für Vorgeschichte. Diese ließ sich 1933 gleichschalten und nannte sich in Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte um. Kossinna behauptete, eine archäologische Methode entwickelt zu haben, mit deren Hilfe die alten German_innen sich mindestens bis in die Bronzezeit zurückverfolgen ließen – wenn nicht noch weiter zurück. Die Nazis griffen Kossinnas Ansatz dankbar auf: Wenn man nur lang genug im Nebel der Vor- und Frühgeschichte herumtappte, ließ sich irgendwann auch ohne allzu große Schmerzen von Welteis und Atlantis fabulieren.

So erfanden sich die Nazis ihre eigenen German_innen, die um einiges älter waren als die, die der seriösen Historie bekannt sind. Beliebt waren Versuche, die steinzeitlichen Hünengräber und sogar die Anlage von Stonehenge als Beispiele germanischer Baukunst auszugeben. So etwa in dem unfrewillig komischen Propagandafilm Germanen gegen Pharaonen von 1939:



Kann man sagen, dass der Nationalsozialismus eine Art germanischer Rekonstruktionismus war, ein Revival germanischen Heidentums im 20. Jahrhundert? In dieser Allgemeinheit wäre das völlig unzutreffend. Einzelne Institutionen und Akteure innerhalb des NS-Herrschaftsgefüges trugen sich aber durchaus mit solchen Absichten. Das gilt insbesondere für Heinrich Himmler und die SS. Der Reichsführer-SS unterhielt mit dem Deutschen Ahnenerbe einen Forschungsverein, dessen Zweck u.a. darin bestand, sich mit »Germanenkunde« zu befassen. Der in Himmlers Umfeld blühende Obskurantismus führte allerdings dazu, dass aus Parteikreisen immer wieder der private Charakter des Ahnenerbes betont wurde. Man fürchtete, der Verein könne für eine offizielle Gliederung der NSDAP gehalten werden und diese in Verruf bringen.

Auffällig ist, wie in dieser »Germanenkunde« stets alles durcheinander geht: Das hohe Alter der germanischen Kultur ließ sich daran festmachen, dass die German_innen ja schließlich Stonehenge erbaut hatten. Die Fähigkeit dazu hatten sie, weil ihre Vorfahren direkt aus Atlantis kamen, was die German_innen zur reinsten Verkörperung der arischen oder nordischen ›Rasse‹ macht. Und wer immer noch nicht glaubt, welches hohe Wissen sie besaßen, kann doch in der Völuspá nachlesen, dass die Welt zur Zeit der Schöpfung aus Feuer und Eis bestand, was wiederum durch die Welteislehre glasklar bewiesen ist. So dient eine unsinnige Behauptung dazu, die nächste zu belegen. Ich vermute, dass es diese pseudowissenschaftliche Vorgehensweise war, die J. R. R. Tolkien veranlasste, die urgeschichtlichen Spekulationen einiger Nazis als »›Nordic‹ nonsense« zu bezeichnen.

Das leitet über zum Auftritt Carl Gustav Jungs (1875–1961). Der Begründer der Analytischen Psychologie hatte nicht nur einen profunden Einfluss auf die moderne Fantasy, sondern war auch seinerseits von H. Rider Haggards She inspiriert. 1936 veröffentlichte er seinen Aufsatz »Wotan. Sein Wiedererwachen im Dritten Reich«, der als unverhohlener Versuch gelesen werden kann, die Kulturpolitik der Nazis in seinem Sinne zu beeinflussen. Für Jung ist das germanische Erbe in den heutigen Deutschen höchst lebendig – sie wissen nur nichts davon. Im Mittelpunkt der Jungschen Psychologie steht bekanntlich die sogenannte Archetypenlehre. Archetypen sind nach Jung Symbole im kollektiven Unbewussten, die die Psyche von Individuen bestimmen, oftmals ohne dass diese etwas davon ahnen. Im Grunde ist Jungs Artikel ein Aufruf an die Nazis, die pseudowissenschaftliche, neo-mythologische Einkleidung ihrer Weltanschauung abzuwerfen und sich vorbehaltlos zu ihrer germanischen Seele zu bekennen.

Als den die NS-Politik prägenden Archetypen sieht Jung den germanischen Gott Wotan. Der sei durch die Christianisierung der German_innen nicht verschwunden, sondern nur ins kollektive Unbewusste verdrängt worden. Und wie alles Verdrängte kehrt Wotan im Dritten Reich mit um so größerer Gewalt wieder:
Daß aber in einem eigentlichen Kulturland, daß schon geraume Zeit jenseits des Mittelalters gewähnt wurde, ein alter Sturm- und Rauschgott, nämlich der längst im historischen Ruhestand befindliche Wotan, wieder, wie ein erstorbener Vulkan, zu neuer Tätigkeit erwachen könnte, das ist mehr als kurios; es ist geradezu pikant. [...] Der rastlose Wanderer Wotan, der Unruhestifter, der bald hier, dald dort Streit erregt oder zauberische Wirkung übt, war zuerst durch das Christentum in einen Teufel verwandelt worden und flackerte nur noch wie ein Irrlicht durch stürmische Nächte, als ein gespenstischer Jäger mit seinem Jagdgefolge, und auch dies nur in lokalen, immer mehr erlöschenden Traditionen. [...] Er ist ein Sturm- und Brausegott, ein Entfeßler der Leidenschaften und der Kampfbegier, und zudem ein übermächtiger Zauberer und Illusionskünstler, der in alle Geheimnisse okkulter Natur verwoben ist. [...] Man kann daher von einem Archetypus »Wotan« sprechen, der als autonomer seelischer Faktor kollektive Wirkungen erzeugt und dadurch ein Bild seiner eigenen Natur entwirft. Wotan hat seine eigentümliche Biologie, gesondert vom Wesen des einzelnen Menschen, der nur zeitweise vom unwiderstehlichen Einfluß dieser unbewußten Bedingung erfaßt wird. In den Ruhezeiten dagegen ist einem die Existenz des Archetypus Wotan so unbewußt wie eine latente Epilepsie. Hätten jene Deutschen, die 1914 schon erwachsen waren, gedacht, was sie 1935 sein würden? Solches aber sind die erstaunlichen Wirkungen des Windgottes, der weht, wo er will, und von dem man nie weiß, woher er kommt und wohin er geht, der alles ergreift, was ihm in den Weg kommt, und alles ergreift, was keinen Stand hat.*
Wie man sieht, verfügt Jung (anders als die Nazis) über wirkliche Sprachgewalt. Sein Artikel lässt sich als mythopoetische Programmschrift verstehen, die sich (anders als Rosenbergs Mythus) vorbehaltlos zu ihrem Charakter bekennt. Als Versuch, den Nationalsozialismus zu erklären, ist der »Wotan« aber höchst problematisch. Jungs Argumentation läuft darauf hinaus, die Deutschen von jeder Verantwortung für ihr Tun zu entlasten: »Wir Außenstehende beurteilen den gegenwärtigen Deutschen viel zu sehr als verantwortlich zu machenden Handelnden; es wäre vielleicht richtiger, ihn zum mindesten auch als Erleidenden zu betrachten.«** Wer von einem Archetypen ergriffen ist, meint Jung, kann nichts dafür, sondern befindet sich im Bann einer höheren Macht. Die Frage nach den sozialen, politischen und ideologischen Entstehungsbedingungen des Faschismus erübrigt sich dadurch.

Übrigens glaubt Jung auch, wenn der deutsche Faschismus sich nur wirklich auf den Wotan-Archetyp einließe, könne sie sich von einer massenmörderischen politischen Bewegung in eine Art dionysischen Kult verwandeln, der dann gewissermaßen als Ventil für die aufgewühlten Emotionen der deutschen Volksseele dienen werde:
Wenden wir unsere – zugegebenermaßen merkwürdige – Betrachtungsweise konsequent an, so müßten wir folgern, daß Wotan nicht nur seinen unruhvollen, gewalttätigen und stürmischen Charakter, sondern auch seine ganz andere, ekstatische und mantische Natur äußern müßte. Bestände dieser Schluß zu Recht, so wäre der Nationalsozialismus noch lange nicht das letzte Wort, sondern es wären in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten hintergründige Dinge zu erwarten, von denen wir uns jetzt allerdings noch schlecht eine Vorstellung machen können.***
Hätte Jung das mal einem Rosenberg erzählt, für den Ekstase und mantische Praktiken typische Erscheinungen des finsteren jüdisch-römisch-syrischen Geistes waren!

Ich weiß nicht, ob der durchschnittliche deutsche Kleinbürger 1935 wirklich so ergriffen war, wie Jung meint. Sonnte er sich nicht vielleicht eher in hämischer Selbstzufriedenheit darin, dass die Bolschewiken hinter Stacheldraht verschwanden, die entarteten Werke der »Asphaltliteraten« in Flammen aufgingen, die jüdische Nachbarsfamilie ihre Wohnung räumen musste und das öffentliche Leben wieder von Uniformgepränge und Hierarchien bestimmt war? Sozialpsychologisch gesehen muss der Nationalsozialismus vielleicht eher als die Entfesselung traditioneller deutscher Spießigkeit gesehen werden, nicht als das Erwachen eines uralten Archetypen. Es mag sein, dass der deutsche Faschismus von der Schweiz aus so magisch und transgressiv wirkte, wie Jung ihn beschreibt (Céline sah ihn von Frankreich aus ähnlich). Aus der Nähe betrachtet waren die Nazis wohl eher kleinlich, gierig, eitel und intrigant.

Jungs Versuch enthält zudem einen Schönheitsfehler: Es gab im Dritten Reich keine politische Kraft, die sich ernsthaft an die Umsetzung einer erneuerten germanisch-heidnischen Religiosität gemacht hätte. Jung wendet sich mit seinem Artikel vor allem an die Deutsche Glaubensbewegung und ihren Führer Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962). Der Religionswissenschaftler Hauer hatte diese Organisation ins Leben gerufen, um eine völkische Alternative zu den herkömmlichen christlichen Konfessionen zu schaffen.
Ich würde daher der Deutschen Glaubensbewegung raten, nicht mehr allzu prüde zu tun. Verständige werden sie nicht mit den plumpen Wotangläubigen verwechseln, die bloß einen Glauben affektieren. Es gibt Vertreter der Deutschen Glaubensbewegung, die intellektuell und menschlich durchaus in der Lage wären, nicht bloß zu glauben, sondern auch zu wissen, daß der Gott der Deutschen Wotan ist und nicht der universale Christengott.†
Anders als Jung es haben wollte, war dieser Deutsche Glaube keineswegs allein germanisch-heidnisch, sondern plünderte auch altpersische und altindische Religionsquellen aus, um eine »artgemäße« oder »arteigene« Religion zu konstruieren.†† Hier kommt wieder die Vorstellung der arischen oder nordischen ›Rasse‹ ins Spiel. Wie sich bereits bei Rosenberg gezeigt hat, glaubte man daran, dass die verschiedenen ›Rassen‹ neben körperlichen auch »seelisch-geistige« Eigenarten aufwiesen. Da war es nur natürlich, dass auch die religiösen Gefühle der Menschen ›rassisch‹ bedingt sein mussten.

Im Fall der Deutschen Glaubensbewegung kam dabei ein höchst moderner mystischer Pantheismus heraus, der nach Überzeugung seiner Vertreter_innen aber genau das war, woran der nordische Mensch schon immer geglaubt habe. Um einen Eindruck davon zu vermitteln, zitiere ich die neun Gebote, die Hauer für seinen Deutschen Glauben formulierte:
1. Ehre die Gottheit.
2. Ehre deine Vorfahren und Nachkommen.
3. Ehre die Großen deines Volkes.
4. Ehre Vater und Mutter.
5. Halte dich rein.
6. Sei treu deinem Volk.
7. Stiehl nicht.
8. Sei wahr.
9. Helfe den Edlen.
Das soll nun die Kampfbegier und die Leidenschaften entfesseln, die Geheimnisse okkulter Natur offenbaren? Ein Sammelsurium aus religiös verbrämtem Nationalismus, faschistischem Elitedenken und christlicher Ethik? Das ist keine »Begegnung mit einem ebenso lebendigen wie abgründigen Stammesgott«,††† sondern gepflegte Langeweile. Zwar durchkämmten Hauer und andere eifrig die alten Quellen, um aus ihnen ihre »arteigene Religion« zu begründen. Auch trafen sie durchaus einen Nerv, denn die NS-Behörden ermöglichten es den Anhänger_innen des arteigenen Glaubens, in offiziellen Unterlagen anstelle der christlichen Konfessionen die Religionszugehörigkeit »gottgläubig« zu führen. Von dieser Möglichkeit machten viele überzeugte Nazis Gebrauch, auch wenn sie mit der Deutschen Glaubensbewegung nichts zu tun hatten. Deren allzu konstruierte Theologie machte ihr allerdings schwer zu schaffen. 1933 gegründet, zerfiel die Bewegung schon 1936 in eine Vielzahl konkurrierender Splittergruppen, von denen die meisten schnell bedeutungslos wurden. Die »arteigene Religion« war letztlich nur ein weiterer Neo-Mythos, den einige Nazis als Steckenpferd betrieben und dazu benutzten, um echte, alte Mythen zu fleddern und sich ihrer eigenen Überlegenheit zu versichern.

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* C. G. Jung, Wotan. Sein Wiedererwachen im Dritten Reich, in: Franz Alt (Hg.), Das C. G. Jung Lesebuch, Düsseldorf/Zürich ³2003, 205–220, hier 206.207.214.
** A.a.O., 219.
*** Ebd.
† A.a.O., 218f.
†† Anders als er glauben machen will, war Jung in dieser Sache keineswegs Außenstehender oder neutraler Ratgeber. Er stand mit Hauer in persönlichem Austausch und lud ihn zu Tagungen und Vorträgen ein.
††† A.a.O., 218.

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Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.