Donnerstag, 30. April 2015

Mythenreihe II

Im zweiten Teil meiner Mythenreihe-Reihe bespreche ich Viktor Pelewin, der sich den Mythos von Theseus und dem Minotaurus vorgenommen hat, und Olga Tokarczuk, die sich mit dem mesopotamischen Inanna-Mythos befasst.

Das menschliche Gehirn ist so etwas wie das letzte Refugium der Metaphysik in in der Gegenwart. Lässt sich irgendein Aspekt des menschlichen Verhaltens auf »das Gehirn« und seine Aktivitäten zurückführen, gilt das als Beglaubigung, die Ehrfurcht verlangen darf. Metaphysisch ist dieser Glaube ans Gehirn gerade dadurch, dass er sich selbst als ganz und gar naturwissenschaftlich versteht – und sich damit doch nur als eine Wissenschaft erweist, die nicht über sich selbst aufgeklärt ist. Die alten Griech_innen glaubten, dass sich in der Brust des Menschen ein Organ namens Thymos befinde, das von den Göttern mit Emotionen gefüllt werden könne, die dann das menschliche Handeln bestimmen.* Heute hat das Gehirn sowohl die Funktion der Götter als auch die des den göttlichen Willen übermittelnden Organs übernommen. Im alten Griechenland lehrte Thales von Milet, dass die Welt voller Gottheiten sei – jede Quelle, jeder Fluss wurde von einer Nymphe bewohnt. Unsere Welt dagegen ist entgöttert, und der einzige Ort, der uns numinose Botschaften empfangen lässt, befindet sich paradoxerweise in unserem Kopf. Was mit Feuerbach ein Stück materialistische Erkenntnis sein könnte – dass wir nämlich unverbesserliche Götterproduzentinnen sind –, ist zum szientistischen Mythos der Gegenwart geronnen: Ein Teil (das Gehirn) determiniert das Ganze (die Menschen und ihre Umwelt). Damit ist die Naturwissenschaft zum Metaphysikersatz für verwirrte Geister geworden, die sich heute in allerlei »skeptischen«, »naturalistischen« und »evolutionär-humanistischen« Zirkeln versammeln (was an sich nicht schlimm wäre, wenn nicht die selben Geister leider auch Biologie lehrten und Bücher über Atheismus schrieben). Gründlicher hat nie jemand die Verhältnisse von den Füßen auf den Kopf gestellt.

Die Definition des Mythos, auf der Der Schreckenshelm von Viktor Pelewin aufbaut, ist Teil dieser Gehirnmetaphysik, genauer gesagt, sie ist ihre Ursprungserzählung:
Wenn man sich das menschliche Denken als einen Computer vorstellt, so sind die Mythen vielleicht ihre [sic!] »shells«: Programmroutinen, denen wir folgen beim »Berechnen« der Welt; mentale Matrizes, die wir auf komplexe Ereignisse projizieren, um sie mit Bedeutung zu füllen. Computerexperten behaupten, um gute Programme zu schreiben, müsse man jung sein. Diese Regel scheint für kulturelle Codes ebenso zu gelten. Unsere Programme wurden geschrieben, als die menschliche Rasse [sic!] noch jung war – zu einem Zeitpunkt, der uns so obskur und entlegen erscheint, daß wir die Programmiersprache gar nicht mehr verstehen.
Als Shell wird normalerweise eine Schnittstelle zwischen Computer und Benutzer_in bezeichnet. Aber wenn der Mythos dem Computer (= dem Gehirn) zum Berechnen der Welt dient, wer sind dann die Benutzer_innen? Sind wir außerhalb oder innerhalb unseres Gehirns? Ist die Welt, wie wir sie wahrnehmen, ein Produkt des Gehirns? Das sind die Fragen, die Pelewin anhand der Geschichte vom Labyrinth des Minotaurus stellen will, aber schlechthin nicht beantworten kann, weil seine Definition des Mythos selbst ein Mythos ist. Und weil Pelewin es schon im Vorwort verrät, spoilere ich nicht, wenn ich es gleich sage: Sein Antwortversuch besteht darin, es sich mit der Paradoxie bequem zu machen und zu erklären: Alles findet nur in deinem Kopf statt.

Als menippeische Satire auf den Mythos vom menschlichen Gehirn käme Der Schreckenshelm ganz zur rechten Zeit. Aber weil Pelewin selber glaubt, dass wir alle passive Opfer unserer – mit schreckenerregender metaphysischer Macht ausgestatteten – grauen Zellen sind, ist es mit der Satire nicht weit her und der Ausgang des Buches erwartbar. Deshalb: Soll es um Paradoxien und Labyrinthe gehen, lese ich auch in Zukunft lieber Chesterton und Borges.

Um diese Besprechung des Schreckenshelms nicht in reiner Ablehnung enden zu lassen, will ich abschließend bemerken, dass das Buch auch einen wirklich brillanten Moment hat, nämlich folgende Parodie eines poststrukturalistischen Intellektuellen:
[Er] war Franzose, eindeutig der Klügste von allen, und sah noch dazu eindrucksvoll aus: verschlissenes Mao-Jackett, Tabakspfeife, verwuschelter Haarschopf. [...] Zuerst blickte er eine ganze Weile stumm in die Kamera und raufte sich das Haar, bevor er schließlich verkündete, er müsse wohl oder übel mit einem Allgemeinplatz beginnen. Ein grundlegendes Verdienst der modernen französischen Philosophie bestehe darin, daß es ihr erstmals gelungen sei, liberale Werte und revolutionäre Romantik in den Grenzen eines sexuell erregten Einzelbewußtseins widerspruchsfrei zu vereinen. Darauf starrte er wieder mindestens eine Minute wortlos in die Kamera, hob den Finger und erklärte im Flüsterton: Dieses Postulat, wie transparent und schlüssig es auch erscheine, sei für sich genommen bereits ein Layrinth, wie es sich unweigerlich aus jedem Gespräch mit sich selbst oder anderen ergebe, in dessen Verlauf ein jeder von uns mal Minotaurus sei und mal sein Opfer. Da könne man nichts machen. Aber dieses Nichts, fuhr er fort, das könne man machen – etwa indem man neue Begriffe einführt, umfassendere im Vergleich zum Labyrinth. So könne man zum Beispiel vom Diskurs sprechen. [...] Der Diskurs [...] sei der Ort, an dem Worte und Begriffe in die Welt kommen: Labyrinthe, Minotaurus, Theseus, Ariadne et cetera. Auch der Diskurs selbst entspringe dem Diskurs. Das Paradoxe daran sei, daß zwar alle Natur aus ihm hervorgehe, er selbst in der Natur aber nicht zu finden sei und erst seit kurzem synthetisch erzeugt werde. Eine andere tragische Dissonanz liege darin, daß der Diskurs, obzwar der Ursprung von allem und jedem, ohne staatliche oder private Förderung keine drei Tage anhalte, dann versiege er unwiderruflich. Weshalb es für eine Gesellschaft keine vordringlichere Aufgabe geben könne, als den Diskurs zu subventionieren.
Worauf eine andere Figur bemerkt: »Madonna! Wenn ich das Wort Diskurs höre, entsichere ich mein Simulakrum.« Ich muss sagen, das hätte auch Umberto Eco nicht besser hinkriegen können.

Einen ganz anderen Weg der Auseinandersetzung mit dem Mythos geht Olga Tokarczuk – oder sollte ich besser sagen, sie geht einen anderen Weg der Auseinandersetzung mit dem Mythosbegriff? Wahrscheinlich wäre das passender, denn die Reihe beruht nicht auf einer einheitlichen Definition des Mythos, auch nicht auf der, die Karen Armstrong in ihrer Kurzen Geschichte des Mythos gibt.** Tokarczuk bezieht sich zunächst auf eine Definition von Karl Kerényi: »Mythos ist die Epiphanie des Göttlichen im Sprachzentrum des menschlichen Hirns.« Das klingt, als wolle sie Armstrongs religionsphänomenologischen Mythosbegriff mit Pelewins Gehirnmetaphysik kombinieren. Gleich darauf macht Tokarczuk aber deutlich, dass sie einen anderen Weg einschlägt: »Solange wir die Götter auf ihren Reisen, Abenteuern, in ihren Metamorphosen, ihren Schöpfungen und Apokalypsen begleiten, existieren sie auch.« Mythen sind Produkte unserer Imagination, aber gleichwohl sehr real. Damit die Götter existieren können, muss von ihnen erzählt werden. Das ist der Unterschied zwischen Tokarczuks Auffassung und denjenigen von Armstrong und Pelewin: dem Erzählen kommt das logische und historische Primat zu. Es mag sein, dass Mythen – darunter sind in diesem Fall mal sagen-, mal märchenhafte Geschichten von Göttinnen und Helden zu verstehen – geglaubt wurden, aber zuvor mussten sie erst einmal erzählt werden. Ähnlich sah es übrigens Walter Benjamin:
Man würde irren mit der Annahme, was die ältesten Geschichten der Menschheit an Zaubermären, Fabelgut, Verwandlungen und Geisterwirken enthielten, sei nichts als der Niederschlag ältester, religiöser Vorstellungen. Gewiß sind Odyssee und Ilias, sind die Märchen der 1001 Nacht gleichsam Stoffe gewesen, die nur erzählt wurden; genauso wahr aber ist der Satz, die Stoffe dieser Ilias, dieser Odyssee, dieser Märchen aus 1001 Nacht haben erst im Erzählen sich zusammengewoben. Die Erzählung hat dem ältesten Sagengute der Menschheit nicht mehr entnommen als sie ihm selber gegeben hat.
Was Tokarczuk erzählen will, ist die Geschichte der sumerischen Göttin Inanna, ihrem Abstieg in die Unterwelt und ihrer Auferstehung. Anders als die Mythenbände, die ich bisher rezensiert habe, versucht sie es mit einer straighten Nacherzählung – etwas, worauf A.S. Byatt explizit verzichtete. Byatt betont, die Geschichten der skandinavischen Mythologie könnten für ihr erwachsenes Selbst nicht die Bedeutung haben, die sie für sie als Kind im 2. Weltkrieg hatten. Tokarczuks Herangehensweise ist weniger persönlich-autobiographisch geprägt. Ihr Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass die Erzählung von der sterbenden und auferstehenden Gottheit die älteste Geschichte der Menschheit ist, die Geschichte aller Geschichten. Ich bin mir da nicht so sicher, denn ich glaube, dass eine solche Geschichte nur im Kontext einer ackerbauenden Gesellschaft entstanden sein kann, und die Menschen haben die längste Zeit ihres Daseins keine Landwirtschaft betrieben, sondern als Jägerinnen und Sammler gelebt. Aber Tokarczuk hat recht mit ihrer Überzeugung, dass diese Geschichte sich weiterhin erzählen lässt. Nicht nur von einem christlichen Standpunkt hat die sterbende und auferstehende Gottheit die westliche Kultur stärker geprägt hat als irgendeine andere Geschichte. An ihr zeigen sich auch die altorientalischen Wurzeln der westlichen Kultur, die oft missachtet oder vergessen werden – dabei war selbst Homer von der Gilgamesch-Erzählung beeinflusst.

Tokarczuk lässt ihren Roman nicht im historischen Uruk spielen, der Stadt Inannas, sondern in der Fantasiemetropole Ibru. Damit hat sie einen Schauplatz erfunden, der archaisch und futuristisch zugleich ist, eine Zivilisation mit ausgefeilter Technologie, deren Grundlage aber die Arbeit von Cyborg-Sklav_innen ist. Interessanterweise versteht Tokarczuk Inanna als eine Göttin, die Chaos und Kreativität in die von den drei Hauptgöttern Enlil, Enki und Nanna beherrschte, streng hierarchische Zivilisation Ibrus bringt. Erzählt wird aus der Perspektive eines Sklaven, des Torhüters der Unterwelt und Ninschuburs, der Gefährten Inannas.

Ausgesprochen lesenswert, aber mit einem kleinen Schönheitsfehler: Mir hätte es gefallen, wenn bei der Übersetzung aus dem polnischen Original darauf geachtet worden wäre, die Transkriptionen der sumerischen Namen anzupassen, also etwa aus einem sz ein sch zu machen.

Viktor Pelewins Der Schreckenshelm. Der Mythos von Theseus und dem Minotaurus (187 Seiten, Übersetzung: Andreas Tretner) erschien 2005 im Berlin Verlag und 2007 bei dtv. Olga Tokarczuks AnnaIn in den Katakomben (224 Seiten, Übersetzung: Esther Kinsky) erschien 2007 im Berlin Verlag und 2008 bei dtv.

* Der Name hat als Bezeichnung für den Thymus, einen Teil des lymphatischen Systems, überlebt.
** Siehe dazu meinen ersten Mythenreihe-Post.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.