Montag, 3. März 2014

Tolkien in Joyland

Ende letzten Jahres veröffentlichte John Rateliff einen Blogpost über »Stephen King, Tolkien Fan«:
So, recently I did something uncharacteristic: I read a Stephen King novel. Just as this is atypical of me, so too was this particular book atypical of him, a new hardboiled murder mystery called JOYLAND [...] All of this wd go down for me as just an enjoyable enough light read, were it not for a number of Tolkien references King works into the book.
Da ich mich mitunter damit amüsiere, Dinge über prominente Tolkienfans zusammenzuspinnen, habe ich mir Joyland ausgeliehen und gelesen. Um es vorweg zu sagen: Ich mag nicht jeden Roman von King, dieser ist ihm aber sehr gelungen. Es handelt sich um einen dezent mit Spuk angereicherten Krimi, der bei Hard Case Crime erschienen ist, dem Verlag mit den schicken Retro-Titelbildern. Anders als Rateliff annimmt, ist diese Veröffentlichung nicht sonderlich untypisch für King, denn es ist sein zweites Buch für Hard Case Crime (das erste war 2005 The Colorado Kid); und vom Hardboiled-Genre beeinflusste Stories und Romane finden sich einige in Kings Bibliographie.

Was hat es nun mit den Tolkien-Anspielungen auf sich? Auf den ersten Blick nicht sehr viel. Der Ich-Erzähler des Romans jobbt in einem Vergnügungspark (dem titelgebenden Joyland) und liest The Lord of the Rings, um über einen schweren Fall von Liebeskummer hinwegzukommen. Hier und da erwähnt er im Laufe der Erzählung seine Lektürefortschritte. Wer sich ausführliche Meditationen über die Bedeutung erhofft, die Tolkiens Werk im Leben einsamer junger Menschen hat, wird enttäuscht werden. Ich glaube aber, dass Joyland auf einer etwas weniger offensichtlichen Ebene weitreichende Verknüpfungen zu Tolkien herstellt.

Da ist zum einen der Plot. Mehr noch als die meisten Krimis stellt Joyland heraus, dass es auf einer klassischen Questehandlung beruht – das Ziel der Queste ist in diesem Fall die Entlarvung eines Mörders. Der Ich-Erzähler kommt zudem nicht einfach spontan auf die Idee, sich auf eine Queste zu begeben, sondern wird ausgesandt, und zwar von dem Mordopfer selbst, das als Gespenst (sehr angemessen) in der Geisterbahn des Vergnügungsparks haust. Zur Seite steht ihm ein Helfer mit magischen Fähigkeiten, und es wartet sogar eine Prinzessin auf ihn. Dabei handelt es sich um einen rollstuhlfahrenden Jungen und seine geschiedene Mutter.* Wie in vielen Fantasies ist die Queste zugleich die Geschichte des Erwachsenwerdens des jugendlichen Helden. Am Ende hat der Ich-Erzähler, der märchengerecht den Allerweltsnamen Dev Jones trägt, seine Teenager-Illusionen hinter sich gelassen. Kurzum, mit Joyland deckt King in bravouröser Weise die inneren Verwandtschaften von Fantasy und Kriminalroman auf.

Tolkien unterhielt ein ausgeprägt neurotisches Verhältnis zu Dorothy Sayers’ Lord-Peter-Romanen. Ich kann über die Gründe dafür nur spekulieren, doch verhält es sich auffällig oft so, dass Tolkiens Abneigung sich dann entzündete, wenn eine Sache, die er eigentlich sehr schätzte, in seinen Augen unvollkommen ausgeführt oder in einen falschen Kontext gestellt wurde – legendär z.B. sein Verdammungsurteil über Shakespeare, der es Tolkien zufolge nicht verstanden hat, das Motiv eines in die Schlacht ziehenden Waldes angemessen einzusetzen. Vielleicht misstraute Tolkien Krimis, weil er der Ansicht war, dass sie keinen angemessenen Rahmen für eine Queste abgeben? Immerhin mag eine Verbrecherjagd im Vergleich zu Sams und Frodos Suche nach den Schicksalsklüften recht banal erscheinen. Beweisen lässt es sich wahrscheinlich nicht, dazu sind Tolkiens Bemerkungen zum Krimigenre zu zerstreut und zufällig. Aber sollte ich auf der richtigen Spur sein, dann ließe sich das, was King mit Joyland demonstriert, als geradezu maliziös bezeichnen – wenn dies auch schwerlich Kings Absicht gewesen sein dürfte.

Aber warum sollte King überhaupt ein tiefergehendes Interesse an Tolkien und Fantasy haben? Gewöhnlich wird nur ein vergleichsweise kleiner Teil seines umfangreichen Werks der Fantasy zugerechnet: Der Zyklus The Dark Tower sowie die Romane The Eyes of the Dragon und The Talisman (letzterer gemeinsam mit Peter Straub verfasst). Ich würde jedoch sagen, dass sich gerade an Kings Werk die Willkürlichkeit der Unterscheidung von Fantasy und Horror demonstrieren lässt: Bücher wie Insomnia, Rose Madder oder Hearts in Atlantis würden sicherlich für Fantasy gehalten, stünde nicht Kings Name auf dem Titel, sondern etwa der von Neil Gaiman.

Während die Biographie eines Autors (oder einer Autorin) in der Regel wenig über sein (oder ihr) Werk aussagt, sagen die Lesegewohnheiten oft umso mehr. Joyland spielt 1973. Es besteht Anlass zu der Vermutung, dass King in den 70er Jahren Tolkien gern und oft gelesen hat. Rateliff offeriert in seinem Blogpost, dass eine Schlüsselszene in dem 1977 erschienenen Roman The Shining von Gollum in den Schicksalsklüften beeinflusst sein könnte. Ein Jahr nach The Shining veröffentlichte King seine erste Storysammlung, Night Shift, zu der John D. MacDonald (sic!) eine Einleitung beisteuerte. Eine der darin versammelten Geschichten, »Strawberry Spring«, enthält eine direkte Anspielung auf The Lord of the Rings. In seinem Vorwort zu Night Shift erwähnt King Tolkien mehrfach, und zwar im Zusammenhang mit der eigentümlichen Genretheorie, die er daselbst entwickelt:
Great horror fiction is almost always allegorical: sometimes the allegory is intended, as in Animal Farm and 1984, and sometimes it just happens – J.R.R. Tolkien swore up and down that the Dark Lord of Mordor was not Hitler in fantasy dress, but the theses and term papers to just that effect go on and on [...] The works of Edward Albee, of Steinbeck, Camus, Faulkner – they deal with fear and death, sometimes with horror, but usually these mainstream writers deal with it in a more normal, real-life way. Their work is set in the frame of a rational world; they are stories that ‘could happen’. They are on that subway line that runs through the external world. There are other writers – James Joyce, Faulkner again, poets such as T.S. Eliot and Sylvia Plath and Anne Sexton – whose work is set in the land of the symbolic unconsciousness. They are on the subway line running into the internal landscape. But the horror writer is almost always at the terminal joining the two, at least if he [sic!] is on the mark. When he is at his best we often have that weird sensation of being not quite asleep or awake, when time stretches and skews, when we can hear voices but cannot make out the words or the intent, when the dream seems real and the reality dreamlike. That is a strange and wonderful terminal. Hill House is there [...]; the woman in the room with the yellow wallpaper is there, crawling along the floor with her head pressed against that faint grease mark; the barrow-wights that menaced Frodo and Sam are there; and Pickman’s model; the wendigo; Norman Bates and his terrible mother. No waking or dreaming in this terminal, but only the voice of the writer, low and rational, talking about the way the good fabric of things sometimes has a way of unravelling with shocking suddenness.
Das etwas umständliche, da umfangreiche Zitat lässt aufhorchen: Warum nennt King ausgerechnet Orwell und Tolkien an erster Stelle, wenn es um Horror geht? Die meisten Leser_innen würden die anderen Autor_innen, die Kings »strange and wonderful terminal« bevölkern, viel eher mit der Genrebezeichnung Horror in Verbindung bringen: Shirley Jackson, Charlotte Perkins Gilman, H.P. Lovecraft, Algernon Blackwood und Robert Bloch – sie alle kann man im Buchladen oder in der Bibliothek in der Abteilung Horror finden. King scheint es jedoch weniger auf Vermarktungskategorien anzukommen als auf das Seltsame und Wundervolle selbst, das in seinen Augen die Werke der aufgezählten ›Horror‹-Autor_innen miteinander verbindet. Horror ist hier einfach nur Kings Wort für das, was in der Literaturtheorie sonst Phantastik oder Fantasy genannt wird: Unglaubliche Dinge, die mit ruhiger und rationaler Erzählstimme vorgetragen werden, so dass man fast – mit einer »weird sensation« – an sie zu glauben beginnt. Aber nur fast.

Stephen King, Night Shift, Hodder 2007 (Erstausgabe 1978); Joyland, Hard Case Crime 2013.

* An dieser Stelle, muss ich in aller Schärfe anmerken, wandelt King stark auf ausgetretenen Pfaden. Ein Kind, dessen Behinderung durch eine übernatürliche Gabe ›kompensiert‹ wird, und eine Frauenfigur, die tatsächlich nichts anderes tut, als auf den Helden zu warten? Wahnsinnig originell. 

3 Kommentare:

Wulfila hat gesagt…

Was Tolkien und die Wimsey-Reihe angeht, ist es ganz interessant, dass er in einem Brief seine Meinung nicht an der Tatsache, dass es sich um Krimis handelt, sondern an einer handfesten Ablehnung der Hauptfiguren und nicht zuletzt der Autorin selbst festmacht. Nach einem reinen Genreproblem klingt das für mich nicht.

Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

Danke für den Hinweis, da schaue ich noch mal nach.

Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

Ich hab das mal geändert. Meine Vermutung, Tolkien habe keine Krimis gemocht, stützte sich tatsächlich auf den besagten Brief, und da ich mir gerade unsicher bin, ob sich meine Vermutung auch auf weitere Quellen stützte, lasse ich sie erstmal weg.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.