Donnerstag, 13. März 2014

Sibyllinisch, dieses Onanieverbot

Ich finde es empörend, wie mit Sibylle Lewitscharoff umgegangen wird. Schließlich hat sie nur gesagt, was sie dachte, und das wird man ja wohl dürfen. Lewitscharoff, das dürfte mittlerweile klar sein, ist Opfer eines Missverständnisses. Und dennoch wird weiter auf ihr rumgehackt, statt dass es ihr einfach mal jemand erklärt.

Lewitscharoff ist Fundamentalistin, wird gesagt. Das ist ein Begriff, der häufig in einer sehr vagen und allgemeinen Weise gebraucht wird, um besonders konservative Anhänger_innen einer jeglichen Religion zu bezeichnen. Historisch gesehen ist der Fundamentalismus jedoch eine Strömung innerhalb des protestantischen Christentums. Die so verstandenen Fundamentalist_innen glauben an eine wörtliche Auslegung der Bibel und daran, dass sich die staatliche Gesetzgebung an dieser Auslegung zu orientieren habe. Lewitscharoff sagte in ihrer Dresdner Rede: »Früher habe ich mich über das drastische biblische Onanieverbot gern lustig gemacht, inzwischen erscheint es mir geradezu als weise.« Im FAZ-Interview vom 6. März verteidigte sie diese Aussage mit den Worten, »dass manchmal bestimmte Dinge, die in der Bibel vorhergesagt sind, in dem Moment, in dem sie zu einer so katastrophalen Entwicklung führen können, plötzlich eine ganze andere Dimension bekommen«. Sie glaubt also, dass das »biblische Onanieverbot« nicht einfach so, sondern in weiser Voraussicht erlassen wurde. Zu biblischen Zeiten gab es etwas so Teuflisches wie künstliche Befruchtung noch nicht, aber Gott hat die Fortschritte der Reproduktionsmedizin vorausgesehen und deshalb präventiv Maßnahmen ergriffen. Zwar betont Lewitscharoff im Interview sehr, niemandem das Onanieren verbieten zu wollen, aber das nimmt ihr zu Recht niemand ab. Die Onanie ist ihr suspekt, weil auf diesem Wege Samen gespendet werden kann, der anschließend zur Zeugung von Kindern qua künstlicher Befruchtung verwendet wird. Diese Möglichkeit findet sie nicht nur »absolut widerwärtig«, wie sie in der Rede sagte, sondern auch katastrophal, wie das Interview präzisiert. Wer künstliche Befruchtung für eine Katastrophe hält, muss auch was dagegen tun. Männliche Onanie gehört konsequenterweise verboten. Lewitscharoff wird also durchaus zutreffend als Fundamentalistin charakterisiert.

Allerdings ist es mit der wörtlichen Auslegung der Bibel so eine Sache. Im Grunde ist es nämlich unmöglich, Erzähltexte zu verstehen, indem man sie wörtlich nimmt. Ich zitiere als Beispiel die ersten Sätze von Wolfgang Koeppens Tauben im Gras: »Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel. Der Lärm der Motoren war Donner, war Hagel, war Sturm. Sturm, Hagel und Donner, täglich und nächtlich, Anflug und Abflug, Übungen des Todes, ein hohles Getöse, ein Beben, ein Erinnern in den Ruinen.« Wenn das jemand ›wörtlich‹ verstehen möchte, kann ich nur sagen: Viel Vergnügen. Eine aufschlussreiche Lektüre wird das nicht. Aber Fundamentalist_innen sind meistens nicht so dumm, wie sie aussehen, und wenden sofort ein: Das ist natürlich nicht gemeint mit wörtlicher Auslegung. Auch in der Bibel sind literarische Stilmittel wie Metaphern und Personifikationen zu finden. Wenn Jesus sagt »Ich bin der Weg«, dann ist damit nicht gemeint, er sei ein Feldweg oder eine Schotterstraße. Wichtig ist, den Inhalt der Bibel wörtlich zu verstehen. Nur: Was ist Stilmittel, was ist Inhalt? Im Zweifel sind der Kulanz der Fundamentalist_innen, was symbolische Rede angeht, ziemlich enge Grenzen gesetzt. Heißt es etwa beim Propheten »Wölfin und Lamm werden einträchtig weiden, der Löwe wird wie das Rind Stroh fressen« (Jesaja 65,25), dann kann das laut fundamentalistischer Auslegung durchaus bedeuten, dass Gott dereinst mit einem Fingerschnipsen dafür sorgen wird, dass Wölfin und Löwe mit einem herbivoren Verdauungstrakt ausgestattet werden (während prosaischer gesinnte Menschen zumeist annehmen, der Prophet habe mit diesem Vers einfach nur seiner Hoffnung auf ein Zusammenleben ohne Gewalt Ausdruck verleihen wollen).

So ist das also mit der wörtlichen Auslegung: Die Bibel wird als eine Ansammlung von Fakten gelesen. Wenn es im Buch Genesis heißt, Gott habe die Welt in sechs Tagen geschaffen und am siebten geruht, dann ist das eine Tatsache und lässt sich nicht etwa damit erklären, dass die Zahl Sieben symbolisch für Vollendung steht. Und wenn Wölfin und Löwe kein Gras, sondern Fleisch fressen, dann liegt das nur daran, dass die Zeit für die Bewahrheitung dieser biblischen Aussage noch nicht gekommen ist. Zum rechten Zeitpunkt wird Gott schon bewirken, dass Wölfin und Löwe auf vegetarische Ernährung umsteigen. Ähnlich verhält es sich mit den ethischen Aussagen der Bibel. Das Onanieverbot ist Gott nicht ohne Grund schon vor langer Zeit in den Sinn gekommen. Er wusste einfach damals schon, dass im 20. Jahrhundert mad scientists etwas so Perverses wie die künstliche Befruchtung erfinden würden.

Aber da fängt auch schon das Missverständnis an. Ich studiere Theologie und kenne daher die Bibel recht gut. Das Problem ist: Es gibt kein Onanieverbot in der Bibel. Das Alte Testament enthält drei große Gesetzessammlungen, namentlich das Bundesbuch in Exodus 20,22–23,33, das Heiligkeitsgesetz in Leviticus 17–26 und das Buch Deuteronomium. Daneben gibt es die berühmten Zehn Gebote, die in zwei voneinander abweichenden Fassungen – in Exodus 20,2–17 und Deuteronomium 5,6–21 – überliefert sind. Die Zehn Gebote verbieten Ehebruch (Exodus 20,14 bzw. Deuteronomium 5,18).* Im Bundesbuch wird Sex mit Tieren verboten (Exodus 22,18). Im Heiligkeitsgesetz, in Leviticus 18 und 20, wird Inzest, Analsex unter Männern, Sex während der Menstruation und abermals Ehebruch und Sex mit Tieren verboten. Onanie wird nicht erwähnt. Und ich würde es zwar nicht beschwören wollen, aber ich bin mir doch ziemlich sicher, dass auch außerhalb der Gesetzessammlungen nirgendwo in der Bibel von Masturbation die Rede ist. Selbstbefriedigung wird schlicht und einfach nicht erwähnt. Kennt die Fundamentalistin Lewitscharoff am Ende die Bibel nicht?

Ganz so verhält es sich nicht. Wenn Lewitscharoff von einem biblischen Onanieverbot spricht, spielt sie damit wahrscheinlich auf die Geschichte von Onan (Genesis 38) an, nach dem die Onanie schließlich benannt ist. Ich gebe mal die Essentials der Handlung wieder: Juda, der Stammvater eines der zwölf Stämme Israels, und seine Frau Schua haben drei Söhne namens Er, Onan und Schela. Er, der Erstgeborene, heiratet eine Frau namens Tamar, doch er stirbt, bevor Tamar schwanger wird. Der Familienchef Juda bestimmt daraufhin, dass der zweitgeborene Sohn Onan mit Tamar Nachwuchs zeugen soll, damit sie nicht kinderlos bleibt. Onan praktiziert jedoch Coitus interruptus mit Tamar. Zur Strafe lässt Gott auch Onan sterben.

Es kommt nicht selten vor, dass die fundamentalistische Bibelauslegung in ihr vermeintliches Gegenteil umschlägt. Anstelle von ›wörtlicher‹ Interpretation hat man dann plötzlich ein völlig willkürliches Hineinlesen aller möglichen Bedeutungen in den Text. Klar ist, dass es sich bei der Geschichte von Tamar und Onan um eine simple cautionary tale handelt: Onan stirbt, weil er unmoralisch gehandelt hat. Aber angekreidet wird ihm nicht Masturbation, sondern dass er außerhalb von Tamars Vagina ejakuliert: »Und wenn er dann zur Frau seines Bruders kam, ließ er ihn [den Samen] auf der Erde verkommen, um nur ja keinen Samen zu spenden für seinen Bruder. Was er da tat, war böse in den Augen Adonajs und so ließ Adonaj auch ihn sterben.« (Genesis 38,9f.) Liest man die Geschichte als Onanieverbot, ergibt sie keinen Sinn. Liest man sie als Verbot von Samenspende, ergibt sie erst recht keinen Sinn. Das heißt aber nicht, dass sie sinnlos wäre. Um die Geschichte zu verstehen, muss man mit einer Eigenheit der gesellschaftlichen Organisation im alten Israel vertraut sein.

Man lebte in Sippen und Stämmen zusammen. Die Zugehörigkeit zu Sippe und Stamm war patrilinear geregelt, d.h. man gehörte zu der Sippe, zu der auch der Vater gehört hatte. Ging es um den Erhalt der Sippe und des Stammes, kam also alles darauf an, die väterliche Linie fortzuführen. Dieses System versetzte kinderlose Witwen wie Tamar in eine ziemlich heikle Position. Sie hatten nichts zum Erhalt der väterlichen Linie beigetragen und deshalb ihre soziale Rolle nicht ausgefüllt. Oft blieb kinderlosen Witwen nichts anderes übrig, als zu betteln. Um das Problem zu lösen, wurde die in der Geschichte beschriebene Regelung eingeführt: Starb ein Mann und ließ eine Frau kinderlos zurück, dann war der Bruder des Verstorbenen verpflichtet, mit seiner Schwägerin ein Kind zu zeugen. Der dadurch entstandene Nachwuchs galt offiziell als das Kind des Verstorbenen, seine Linie wurde fortgesetzt und die Mutter entsprach ihrer gesellschaftlichen Rolle. Onan drückt sich davor, Tamar zu schwängern, weil er dann ein Kind zu versorgen hätte, das rein rechtlich gesehen nicht mal seins wäre, sondern das seines verstorbenen Bruders. Die Geschichte soll wahrscheinlich eine Ermahnung für Männer sein, die so egoistisch dachten wie Onan und ihren Schwägerinnen ihr gutes Recht vorenthielten.

Allgemein lässt sich von der biblischen Ethik sagen: Geht es um Fortpflanzung, ist jedes Mittel recht. Sara ist unfruchtbar und schlägt deshalb ihrem Mann Abraham vor, mit seiner Sklavin Hagar ein Kind zu zeugen. Als Lot mit seinen zwei Töchtern aus dem zerstörten Sodom in die Wildnis flieht, machen sich die beiden Sorgen, dass keine Männer für sie da sein könnten. Nachts füllen sie Lot mit Wein ab, haben Sex mit ihm und werden so zu Stammmüttern von Moab und Ammon, zwei Nachbarstaaten Israels. Kurzum, die Bibel fordert reproductive freedom um jeden Preis. Wären künstliche Befruchtungsmethoden in alttestamentlicher Zeit bereits vorhanden gewesen, hätte Gott Onan wahrscheinlich sterben lassen, weil er die Samenspende für die In-vitro-Fertilisation verweigerte.

Ich hoffe deutlich gemacht zu haben, dass Lewitscharoff einem tragischen Irrtum aufgesessen ist. Die vermeintlich so bibelfeste Fundamentalistin hat das Buch Genesis schlichtweg falsch verstanden. Auf das Hier und Heute übertragen, lautet die biblische Botschaft: Recht auf Fortpflanzung für alle, und zwar sofort! Her mit den Reagenzgläsern! Falls Lewitscharoff in Zukunft noch einmal Reden über Reproduktionsmedizin halten will, dann wäre sie gut beraten, vorher die Schrift genau zu studieren. Andernfalls sollte sie besser ihre eigene Religion gründen, die sich meinetwegen auf das Evangelium nach Sibylle beruft, aber bitte nicht mehr auf die Bibel. 

* Ehebruch bedeutet in diesem Fall, dass Männer nicht mit Frauen Sex haben sollen, die anderen Männern ›gehören‹. Man merkt diesen Verboten schon an, dass sie in ausgesprochen patriarchalen Zeiten entstanden sind.

6 Kommentare:

simifilm hat gesagt…

Schließlich hat sie nur gesagt, was sie dachte, und das wird man ja wohl dürfen.

Ja, man darf sagen, was man denkt. Aber wenn etwas Dummes denkt, dann muss man auch mit den Konsequenzen leben.

Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

»Ja, man darf sagen, was man denkt. Aber wenn etwas Dummes denkt, dann muss man auch mit den Konsequenzen leben.«

Der zweite Satz wird von den Vertreter_innen der »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen«-Fraktion leider konsequent ausgeblendet.

Jakob hat gesagt…

Ich bin immer wieder hingerissen davon, was für tolle Schnurren in der Bibel erzählt werden! Vielleicht sollte ich mir diese klassische Fantasy-Saga doch endlich mal komplett zu Gemüte führen. Bei diesen ganzen archaisch-patriarchalen Beischlafgeschichten muss ich gleich wieder an R. Scott Bakker denken, bei dem es einem ja auch so schön gruseln kann (obwohl oder weil er doch so toll schreibt ...).

Wobei ich sagen muss: So schön diese Bibel-Lehrstunde war, letztlich dürfte christlicher Fundamentalismus wenig mit Lewitscharoffs Sorgen zu tun haben - ich denke eher, dass sie das Biblische einfach als kulturelles Kapital zur Untermauerung ihrer Position hernimmt, von wegen "Ich vertrete hier eine Ansicht, die vielleicht aus der Mode gekommen ist, aber dafür lange Tradition hat." Aus ihrer Rede und den nachfolgenden Interviews wird ziemlich deutlich, dass die politische Position, von der sie da kommt, ganz banaler Antifeminismus ist. Sie findet es halt schlimm, dass die patriarchale Kleinfamilie mit ihren klaren Geschlechterrollen nicht mehr die unhinterfragbare gesellschaftliche Norm darstellt. Dass gerade diese Mama-Papa-Kind-Konstruktion nicht unbedingt viel mit biblischen Geboten zu tun hat, hast du ja sehr schön dargelegt.
Lewitscharoff vertritt keinen christlichen Fundamentalismus, sondern einfach eine ganz stumpfe konservative Haltung, aufgebrezelt mit ein bisschen Gott und weitgehend bereinigt um die bürgerliche Aufklärung.
Was mich interessieren würde, ist, woher dieser ganze reaktionäre, homophobe Backlash gerade eigentlich kommt. Der ist ja schon etwas verstörend.

Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

Ich glaube auch nicht ernsthaft, dass Lewitscharoff Fundamentalistin in irgendeinem religionssoziologisch tragfähigen Sinn ist. Ich würde sogar sagen, dass die Bezeichnung »fundamentalistisch« in den meisten Fällen dazu dient, extrem reaktionäre Haltungen als eine Art Pathologie abzutun und sie damit in möglichst sicherem Abstand vom »aufgeklärten« Mainstream zu verorten (der gleiche Mainstream, der vorher so entzückt war über die »Streitbarkeit« und die »Querdenkerei« von Figuren wie Lewitscharoff und Matussek).

Daran mache ich mich natürlich ein Stück weit mitschuldig, indem ich die Rede von Lewitscharoff als Fundamentalistin aufgreife. Mir geht es damit aber wirklich nur darum, aufzuzeigen, dass die Interpretationstheorie, die sie da verwendet, der blanke Unsinn ist. Sie verwendet sie natürlich als rhetorische Masche, nicht aus dem unbedingten Glauben an ihre Wahrheit, wie echte Fundamentalist_innen das tun würden. Trotzdem, würde ich sagen, gilt auch in ihrem Fall: Wer Texte so liest, vergeht sich an ihnen. (Vielleicht habe ich ja einen saviour complex, aber ich finde, manchmal müssen Texte gerettet werden vor denen, die aus ihnen kulturelles Kapital zu schlagen versuchen.)

Jakob hat gesagt…

Gegen die Bibel-Textrettung wollte ich auch gar nicht gegenreden. Und auch nicht gegen die schöne Dekonstruktion von Lewitscharoffs christlichem Gestus, im Gegenteil, daran sieht man ja ganz wunderbar, wie viel heiße Luft an den großen Worten ist und wie sehr sich ihre Position auf ein schlichtes konservatives Familienideal herunterbrechen lässt. Von daher: Sehr erkenntnisreich und wie gesagt auch unterhaltsam, dein Beitrag, vielen Dank!

Frank Böhmert hat gesagt…

Simifilm hat gesagt: Wenn etwas Dummes denkt

Boah, voll menschenverachtend! :-D

Wäre aber ein cooler Titel für einen Artikel.

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Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.