Dienstag, 10. Dezember 2013

Merkwürdige Geschöpfe

Zwei Zitate von US-amerikanischen Fantasy-Autor_innen, die eine gewisse Diskrepanz zwischen der nordamerikanischen und der europäischen Tolkien-Rezeption offenbaren. Man beachte, dass Tolkien, als der Lord of the Rings erschien, in Großbritannien als Autor ohne Publikum galt:
Im Jahre 1965 planten mein Mann und ich, mit dem Zelt nach Europa und dem Mittleren Osten zu reisen und dort zu bleiben, solange unser Geld reichte. Es gelang mir, eine britische Hardcover-Ausgabe des ›Herrn der Ringe‹ zu erstehen und ich las sie auf unserer Überfahrt nach England. [...] Zehn Tage später legten wir in Southampton an, und ich war nicht im geringsten überrascht, daß alle Häuser wie Hobbithöhlen aussahen. Ich mußte mich zurückhalten – und ich schaffte es nur mit Mühe –, einen Gastwirt zu bitten, seine Schuhe auszuziehen, damit ich die Oberseite seiner Füße sehen und die darauf wachsenden Haare betrachten konnte.
Tolkien war ein höchst merkwürdiges Geschöpf, nämlich ein britischer christlicher Mystiker, und als solcher verfügte er über persönliche Anschauungen, die seine Kosmologie klar erkennbar beeinflusst haben, darunter der Glaube an den ewigen Konflikt zwischen den elementaren Kräften von Gut und Böse und die Auffassung, dass selbst die unschuldigsten und reinsten Menschen nicht gegen die Verlockungen dunkler Mächte gefeit sind. Gleichzeitig war jedoch klar, dass am Ende das Gute triumphieren würde. [...] Er schuf eine Welt, die sowohl fremdartig als auch vertraut wirkte. Das Auenland bedeutete ›Heimat‹. Selbst wenn der Leser weit entfernt von den grünen Wiesen der westlichen Grafschaften Englands lebte oder noch nie vom Ufer der Themse aus die Sonne hatte untergehen sehen, vermittelte das Auenland ihm ein Heimatgefühl.
Das erste Zitat ist von Jane Yolen (aus der Einleitung zu Martin H. Greenbergs Anthologie Die Erben des Rings), das zweite von Raymond E. Feist (aus dem von Karen Haber herausgegebenen Aufsatzband Tolkiens Zauber). Nach der darin vertretenen Auffassung ist es die natürlichste Sache der Welt, dass Europäer_innen Tolkien lesen, denn sie leben in Hobbithöhlen, und wenn sie mal geistlichen Beistand brauchen, finden sie sicherlich einen christlichen Mystiker, der im nächstgelegenen Wald in seiner Klause haust. Und wer zwischen Southampton und der Themse, gemütlich vor der Tür der Hobbithöhle sitzend, des Abends den Sonnenuntergang betrachtet, sieht bestimmt auch keinen Widerspruch zwischen dem Glauben an einen ewigen Kampf zwischen Gut und Böse und der Auffassung, dass am Ende das Gute triumphieren wird. Lieber noch ein paar Rauchringe blasen, statt sich über so etwas den Kopf zu zerbrechen.

Man ist versucht, an George R.R. Martin zu denken, der in Deutschland und Schottland von Burgruine zu Burgruine reist, und fühlt sich an die Romantiker Wackenroder und Tieck erinnert, die sich in den historischen Gassen Nürnbergs Träumereien über die Vergangenheit hingaben – nur träumten die beiden frühreifen Genies aus Berlin vor 200 Jahren, als die Grenzen zwischen Geschichtsbewusstsein und Fiktion noch etwas verschwommen waren, während Yolen, Feist und Martin heute leben und schreiben. Ich bin doch immer wieder ein bisschen überrascht darüber, wie oft US-amerikanische Fantasy-Autor_innen rein gar keine Hemmungen zeigen, ihre romantischen Vorstellungen auf Europa zu projizieren. Allerdings ist dies eine Haltung, die die phantastische Literatur der USA von Anfang an begleitete. Henry James schrieb in seiner Nathaniel-Hawthorne-Biographie über die Schwierigkeiten, die ein Autor erfahren musste, der in den USA im ›gotischen‹ Stil schreiben wollte und in seiner Umgebung nach Inspiration suchte:
No sovereign, no court, no personal loyalty, no aristocracy, no church, no clergy, no army, no diplomatic service, no country gentlemen, no palaces, no castles, nor manors, nor old country houses, nor parsonages, nor thatched cottages, nor ivied ruin; no cathedrals, nor abbeys, nor little Norman churches ...
In der US-amerikanischen Phantastik des 19. Jahrhunderts wurde immer wieder versucht, dieses Problem zu lösen und eigenständige Inspirationsquellen zu finden. Das ist auch durchaus gelungen, z.B. durch die Psychologisierung des Unheimlichen in den Kurzgeschichten Edgar Allan Poes – das berühmte Dictum über den Schrecken, der nicht aus Deutschland, sondern aus der Seele kommt. So ganz kam man von Europa aber nicht los. Poe selbst benutzte immer wieder typische Schauplätze, wie man sie aus der europäischen Schauerromantik kennt: Deutsche Adelsschlösser (»Metzengerstein«), das mittelalterliche London (»King Pest«) oder die Kanäle von Venedig (»The Assignation«). Mochte der Schrecken auch aus der Seele stammen, das Material, um ihn zur Darstellung zu bringen, holte man sich oft genug doch wieder aus Deutschland oder anderen europäischen Kontexten. Im Laufe der Zeit hat sich in den USA dann doch so etwas wie eine ›gotische‹ Topographie entwickelt, die von den brütenden Sümpfen und verfallenden Herrenhäusern des Südens bis zu den Hexenjagden in den alten Städten Neuenglands reicht. Aber es bleibt doch bemerkenswert, dass die vielleicht bekannteste auf Americana basierende Fantasy, American Gods, von dem Europäer Neil Gaiman geschrieben wurde.

Das Bild des pseudomittelalterlichen Europa, das die epische Fantasy der Post-Tolkien-Ära nach wie vor dominiert, scheint in seiner Wirkmächtigkeit ungebrochen zu sein. Doch wird es noch verwickelter, wenn man sich den ersten US-amerikanischen Fantasy-Mehrbänder, der nicht nur in Reaktion auf Tolkien geschrieben wurde, sondern auch mit einem explizit pseudoamerikanischen Setting aufwartet, genauer ansieht: The Dark Tower von Stephen King. Im Vorwort der überarbeiteten Fassung des Auftaktbandes The Gunslinger schreibt King erwartungsgemäß, dass ihn die Lektüre des Lord of the Rings zu einer eigenen epischen Fantasy angeregt hat, er aber schnell gemerkt habe, dass mit Tolkien über Hobbits und Elben alles gesagt sei. Überraschend wird es dann, als King auf die alternativen Inspirationsquelle zu sprechen kommt, die er sich gesucht habe: Sergio Leones Spaghettiwestern. Nicht etwa John Ford oder Sam Peckinpah – nein, italienische Schauspieler_innen, die in spanischen Landschaften den amerikanischen Westen imitieren, spenden die Bilder für einen der ersten großen US-Gegenentwürfe zu Tolkien. Wer gerne darüber schimpft, dass wir in Europa nur noch japanische Autos fahren und jeden Abend Filme aus Hollywood im Fernsehen laufen, kann den Einfluss des Italowesterns auf Stephen King als unseren ureigenen europäischen Kulturimperialismus ansehen. Er dürfte sogar weitaus erfolgreicher sein als der in umgekehrter Richtung verlaufende, denn während vermutlich niemand ernsthaft an die Authentizität des Dornröschen-Schlosses in Disneyland glaubt, gibt es sicherlich gar nicht so wenige Menschen, deren Vorstellung vom Wilden Westen von Clint Eastwood geprägt ist, der in den ariden Landschaften von Almería herumstiefelt, oder von Franco Nero, der einen Sarg durch eine Schlammgrube im Latium zerrt.

Übrigens erwähnt Raymond E. Feist in dem eingangs zitierten Essay ganz nebenbei (als ob es nicht weiter bemerkenswert wäre), dass die Zwerge seiner Sekundärwelt Midkemia von »den hart arbeitenden schottischen Bergleuten, die sich im Westen Pennsylvanias niedergelassen haben« inspiriert seien. Merkwürdige Geschöpfe, diese Amis.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.