Frank Weinreich, bekannt als Tolkien-Forscher und Verfasser von Fantasy. Einführung, veröffentlichte zunächst einen »Äxte am Stamm der Moderne« betitelten Artikel auf den Seiten der Phantastik-Couch. Die Autoren Christoph Hardebusch und Markolf Hoffmann verfassten, ebenfalls für die Phantastik-Couch, Repliken auf Weinreichs Artikel, die man hier bzw. hier finden kann. Auf seiner Website veröffentlichte Weinreich daraufhin eine erweiterte Fassung seines Artikels unter dem Titel »Fantasy im Aufbegehren gegen die Moderne«, in der er auf Hardebuschs und Hoffmanns Kritik eingeht. Sehr lesenswerte Ausführungen zum Thema bietet auch eine auf Skalpell & Katzenklaue erschienene Reihe von Blogposts: »J.R.R. Tolkien und das Erbe der Englischen Romantik«.
Weinreich konstruiert eine Verbindung zwischen Romantik und Fantasy, die nicht primär literaturgeschichtlicher Natur ist, sondern eher auf der These beruht, dass Romantik und Fantasy die gleiche Geisteshaltung zugrunde liege. Die romantische Auffassung, dass hinter den Erscheinungen der Welt eine dem Menschen verloren gegangene, nichtsdestotrotz aber höchst erstrebenswerte All-Einheit – das berühmte Lied, das in allen Dingen schläft – verborgen liege, lässt sich Weinreich zufolge auch in der Fantasy finden. Allerdings mit einem bedeutenden Unterschied: Während die Romantiker_innen wirklich an ihre Weltanschauung glaubten, gehe die Fantasy mit dem romantischen Projekt der Wiederverzauberung der Welt sozusagen in unernster Weise um. Sie greife das romantische Projekt auf, ohne daran zu glauben.
Ich halte es für ein Missverständnis sowohl der Romantik als auch der Fantasy, beide auf diese Weise miteinander in Beziehung zu setzen. Und ich glaube, dass dieses Missverständnis dadurch zustande kam, dass Weinreich eine bestimmte Auffassung der Romantik (die Rüdiger Safranskis) mit seiner eigenen Auffassung der Fantasy kombiniert.
Doch zunächst einige Worte zu den Repliken auf Weinreichs Artikel. Christoph Hardebusch geht nur flüchtig auf dessen Inhalt ein, u.a. indem er die »sehr enge Perspektive« kritisiert, die Romantik als »deutsches Phänomen« ansieht und ihr damit »in ihrer Nationalgrenzen überschreitenden Weitläufigkeit« nicht gerecht wird. Hardebuschs eigentlicher Punkt ist jedoch, was er als Motivation hinter Weinreichs Artikel vermutet:
Schon ein kurzer geschichtlicher Rückblick zeigt, dass Fantasy ein recht junges Genre ist. Benutzt man den Begriff im heutigen Sinne, kann man ihre Anfänge im angehenden 20. Jahrhundert verordnen [sic!]. Der Beginn von dem, was auch Weinreich „moderne Fantasy“ nennt, kann sehr grob mit dem Erscheinen der amerikanischen TB-Ausgabe von Der Herr der Ringe in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts veranschlagt werden, wobei hier nicht ältere Klassiker des Genres wie E.R. Eddison, Mervyn Peake oder auch Fritz Leiber und Robert E. Howard unterschlagen werden sollen.Markolf Hoffmann geht ausführlicher als Hardebusch auf das Bild ein, das Weinreich von der Romantik zeichnet, und weist zudem auf die literaturgeschichtlichen Lücken in dessen Argumentation hin:
Diesem jungen Genre wird eine Skepsis entgegen gebracht, die durchaus verständlich ist. [...] Im Zusammenhang mit dieser Skepsis ist Weinreichs Essay problematisch. Denn es hat den Anschein, als ob versucht wird, eine Blöße der Fantasy zu verdecken, und ihr das Mäntelchen der romantischen Legitimation umzuhängen. [...] Aber die Fantasy sollte sich nicht ihre eigene Deutungshoheit nehmen lassen und sollte nicht Idealen hinterher hecheln, die sie per definitionem nicht erreichen kann. Es gibt die China Miévilles, die R. Scott Bakkers, die Peter S. Beagles, die Tobias O. Meißners und viele mehr. Wenn diese Autoren der Fantasy nicht Anspruch geben, wird keine noch so eloquent herbei gewünschte Verbindung zur Romantik das tun.
[D]ie literaturhistorischen Spuren, die sich zwischen Fantasy und deutscher Romantik erkennen lassen, sind ausgesprochen dünn. Die Fantasy entstammt der angloamerikanischen Phantastiktradition; allenfalls läßt sich eine Beeinflussung durch die sogenannte „Schwarze Romantik“ einer Mary Shelley oder eines Lord Byron auf Autoren wie Howards [sic!], Leiber, Tolkien oder Lord Dunsany belegen. Inwieweit aber ein Spätromantiker wie E.T.A. Hoffmann, dessen Werk häufig als Ursprung moderner Phantastik angesehen wird, auf die Fantasy einwirkte, sei dahingestellt. Die Fantasy nur als Spielart der Phantastik und damit als verlängerten Zweig der Romantik zu begreifen, hieße auch ihre Entwicklung in den letzten drei Jahrzehnten zu unterschätzen; vielmehr hat diese Gattung längst ihre eigenen Motive, Stereotypen und Traditionen entwickelt. Aus dem gleichen Grund halte ich auch wenig davon, den Terminus „Fantasy“ im deutschen Sprachraum durch „Phantastik“ zu ersetzen, da so die Eigenheiten der Gattung und ihre angloamerikanischen Wurzeln verleugnet werden. Wenn heute deutsche Autoren Fantasy schreiben, berufen sie sich eben nicht auf Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann oder Achim von Arnim, sondern auf englische und amerikanische Vorbilder – bewusst oder unbewusst.Ich stimme Hardebusch und Hoffmann in diesen Punkten zu, bin aber dennoch der Ansicht, dass etwas dran ist an der Verbindung zwischen Romantik und Fantasy. Hoffmann hat völlig recht, wenn er sagt, dass die heutige deutschsprachige Fantasy in unmittelbarer Kontinuität zur angloamerikanischen Fantasy steht, wie sie von den (in den beiden Zitaten genannten) Autoren Dunsany, Eddison, Howard, Tolkien, Peake und Leiber begründet wurde. Ein vergleichbarer Bezug zur Phantastiktradition der deutschen Romantik besteht dagegen nicht. Der Hinweis auf die Terminologie sagt alles: Wer in Deutschland von Fantasy spricht, meint eine Sache, und wer von Phantastik spricht, eine andere – das scheint instinktiv klar zu sein, auch wenn oft überhaupt nicht klar ist, wo genau denn der Unterschied liegen soll.
Andererseits ist es (so paradox es klingen mag) wiederum eine sehr deutsche Perspektive, das angloamerikanische Vorbild so stark zu machen, wie Hoffmann es tut. Denn die englischsprachige Literaturwissenschaft, die sich mit Fantasy auseinandersetzt, ist durchaus bereit, die Phantastik Ludwig Tiecks, E.T.A. Hoffmanns und anderer als Teil ihres Forschungsgebiets anzusehen. Der 2012 erschienene Cambridge Companion to Fantasy Literature führt in seiner Chronologie wichtiger Werke, die der Entwicklung der modernen Fantasy vorausgehen, Friedrich de la Motte Fouqués Undine, »Die Elfen« von Ludwig Tieck sowie Der goldne Topf, »Nußknacker und Mausekönig« und »Der Sandmann« von E.T.A. Hoffmann an.* Gary K. Wolfe, der einen der literaturgeschichtlichen Artikel für dieses wichtige Handbuch beisteuerte, hebt außerdem die Bedeutung der Brüder Grimm hervor.** Damit ist natürlich weder Frank Weinreichs Sicht bestätigt, noch sind die Einwände Christoph Hardebuschs und Markolf Hoffmanns entkräftet. Aber Grund genug, die Frage nach dem literaturgeschichtlichen Verhältnis von (deutscher) Romantik und Fantasy noch einmal zu stellen, ist doch vorhanden.
In der Tradition Tiecks und Hoffmanns, also des romantischen Kunstmärchens, steht auch der deutsche Märchenroman des 20. Jahrhunderts. Werke wie Die Zauberlaterne von Wolfheinrich von der Mülbe, die Romane Hans Bemmanns und Michael Endes, Der Blaue Kammerherr von Wolf von Niebelschütz oder Otfried Preußlers Krabat kann man durchaus als eine deutschsprachige Parallelentwicklung zur angloamerikanischen Fantasy ansehen. Allerdings handelt es sich um eine abgebrochene Entwicklung, die aufgrund des lange Zeit die deutsche Literatur beherrschenden Realismusdogmas zu einem vorzeitigen Ende kam, und deren Bekanntheitsgrad auch in ihrem Heimatland heute nicht einmal mehr ansatzweise an den von vergleichbaren englischsprachigen Autor_innen wie Tolkien, Lewis, Rowling oder Pullman herankommt. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dieser Literaturtradition und der englischsprachigen Fantasy sind meines Wissens noch kaum erforscht – was möglicherweise damit zu tun hat, dass die Phantastikforschung in Deutschland und Österreich jahrzehntelang über Fantasy (sowohl der Tolkienschen als auch der Howard–Leiberschen Variante) naserümpfend hinwegsah. Als Beispiel mag eine 1981 von Kalju Kirde herausgegebene Anthologie genügen, die Beiträge von Jean Paul und Ludwig Tieck ebenso wie von Michael Ende enthält, und im Klappentext folgende hochmütig-chauvinistische Bemerkung fallen lässt: »Zweihundert Jahre deutscher phantastischer Literatur [....] das haben deutsche den angelsächsischen Fantasy-Autoren entgegenzusetzen.« Auf angelsächsischer Seite hat man weniger Berührungsängste. Als Neil Gaiman einmal in einem Interview gefragt wurde, welche deutschen Fantasywerke er schätze, nannte er ganz selbstverständlich die Brüder Grimm und Krabat.
Es lässt sich also der vorläufige Schluss ziehen, dass die Situation einigermaßen verworren ist. Frank Weinreich behauptet, zwischen (deutscher) Romantik und zeitgenössischer Fantasy bestünden weitreichende Übereinstimmungen. Zwei deutsche Fantasyautoren erwidern ganz zu recht, dass die heutige deutschsprachige Fantasy eindeutig auf angloamerikanische Vorbilder zurückgeht. Die akademische Forschung, die sich in Großbritannien und den USA mit Fantasy (sic!) befasst, ist aber durchaus bereit, den phantastischen Erzählungen der deutschen Romantik einen Platz in der (Vor-)Geschichte der Fantasy einzuräumen. Auf der anderen Seite gibt es hierzulande eine akademische Forschung, die sich mit Phantastik (sic!) befasst und lange Zeit nicht zugeben wollte, dass der Gegenstand ihres Interesses irgendetwas mit der als blutrünstig und reaktionär verschrienen Fantasy zu tun haben könnte – obwohl besagter Gegenstand die selben Erzählungen der deutschen Romantik umfasst, auf die sich auch die englischsprachige Forschung bezieht.
Die naheliegenden Fragen lauten an dieser Stelle: Was ist eigentlich Fantasy, und wann ist sie entstanden? Wieso verortet Christoph Hardebusch die Anfänge dieses Genres »im angehenden 20. Jahrhundert«, während Gary K. Wolfe in dem bereits erwähnten Handbuch sagen kann, die Ursprünge der Fantasy als Genre lägen im ausgehenden 18. Jahrhundert?*** Es ist offenbar völlig unklar, ob man überhaupt legitimerweise davon reden kann, dass es um 1800 herum (also in der Hochzeit der Romantik) etwas der heutigen Fantasy vergleichbares gegeben hat. Im nächsten Teil dieses Blogposts soll es deshalb darum gehen, ob Frank Weinreichs Vergleich zwischen Romantik und Fantasy etwas zur Lösung dieses Problems beisteuern kann.
* The Cambridge Companion to Fantasy Literature, hg. v. Edward James u. Farah Mendlesohn, S. XVf.
** A.a.O., S. 13.
*** A.a.O., S. 11.
Literatur:
- James, Edward/Mendlesohn, Farah (Hgg.), The Cambridge Companion to Fantasy Literature, Cambridge/New York 2012.
- Kirde, Kalju, In Laurins Blick. Das Buch deutscher Phantasten, Bern/München 1981.
- Safranski, Rüdiger, Romantik. Eine deutsche Affäre, München/Wien 2007.
- Weinreich, Frank, Fantasy. Einführung, Essen 2007.
4 Kommentare:
Sehr schöner Artikel, danke hierfür. Ich hatte damals schon überlegt, ob ich in die Debatte einsteige, mich aber dagegen entschieden, weil ich nicht recht die Zeit und den Willen für die definitorischen Feinheiten hatte, die vielleicht dazu nötig wären.
Im Großen und Ganzen sehe ich aber auch ehrlich gesagt auch die Widersprüche nicht. Ich gebe Frank Weinreich recht, wenn er die von Dir zitierten Parallelen in der Geisteshaltung von Fantasy und Romantik sieht, unabhängig von der Frage, ob wir es hier nun mit einer "Tradition" zu tun haben. Ich gebe den anderen recht, wenn sie betonen, dass "Fantasy" eigentlich erst im frühen zwanzigsten Jahrhundert wirklich begann. Und volle Zustimmung an Dich, wenn Du vom Bruch unserer Tradition durch das vorherrschende Realismusdogma sprichst.
Natürlich sind Fantasy und Phantastik verwandt, meinen aber zumindest in der deutschen literaturwissenschaftlichen Tradition meist verschiedene Spielarten imaginativer Literatur. Während die "supernatural fiction", um einmal diesen Begriff zu verwenden, vornehmlich an einer Verunsicherung des Lesers interessiert ist (grob vereinfacht: Todorov, Caillois, Lovecraft), erzählt die Fantasy ihre Geschichten, ohne sich um deren Unmöglichkeit oder Realitätsferne zu kümmern (grob vereinfacht: Encyclopedia of Fantasy). Damit sich so etwas als moderne Tradition etablieren kann, brauchen wir also erst einmal einen Realitätsbegriff, der zu unserem halbwegs passt, und der entweder gebrochen oder ignoriert werden kann. Damit ist Fantasy für mich etwas, das erst nach der Entzauberung der Welt durch die Wissenschaft (Darwin, Nietzsche, Freud, vielleicht Einstein) seine ganze Wirkmacht entfalten kann. Eines der wichtigsten Genre-Kriterien schiene mir weiterhin die Betätigung des Autors als "Nebenschöpfers" (Tolkien); als einer der wichtigsten Meilensteine Lord Dunsany mit der Schöpfung Pegānas.
Dass man fantastische Elemente in der Literatur ebenso gut bis zur Renaissance oder der Antike zurückverfolgen kann, ist geschenkt. Ich würde aber behaupten, dass sie damals noch nicht im einem vergleichbaren Konflikt zur vorherrschenden Auffassung der Dinge-wie-sie-eben-sind stand.
Ich habe im ersten Teil meiner Dissertation (http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/10106/) versucht, eine -- sehr vereinfachte -- Entwicklungsgeschichte der fantastischen Spielarten und ihrer Verwandtschaftsverhältnisse nachzuzeichnen. Natürlich bin ich da nicht der Erste, und wer sich schon länger eingehend mit diesen Fragen beschäftigt, wird darin wahrscheinlich auch wenig Neues finden. Hervorheben möchte ich aber die Ähnlichkeiten "im Geiste" der Fantasy zur Schäferdichtung. In ihrer Klage auf eine verlorengegangne bessere Welt, die eigene Kindheit oder ein Goldenes Zeitalter ähnelt die moderne Fantasy meines Erachtens tatsächlich der schwärmerischen Nostalgie der Romantik. Im Gegensatz zu vorherrschenden Realismusbegriffen (s.o.) tut sie aber so, als ob man diese verlorenen Welten oder Zeiten wieder erreichen, oder die eigene Welt revitalisieren, wiederverzaubern könne. Das, so scheint es mir, ist ihr wichtigstes Beitrag (ihr "novum" gewissermaßen ;)) zur Literarurgeschichte gewesen.
Danke für den ausführlichen Kommentar.
Ich muss gestehen, meine Motivation für diesen Blogpost (und seine Nachfolger, von denen ich den ersten hoffentlich noch heute fertig kriege) ist, die fein säuberliche Unterscheidung zwischen Supernatural Fiction/Phantastik/Horror einerseits und Fantasy/(Kunst-)Märchen andererseits mal so richtig durcheinander zu schütteln.
Wobei ich jederzeit zugeben würde, dass diese Unterscheidung sich nicht ohne Grund entwickelt hat und ihre Anwendung viel für sich hat. Was mich aber interessiert, ist, wie sie ihren Anfang nahm. Damit meine ich weniger das übersetzerische Missverständnis, das aus E.T.A. Hoffmanns Phantasiestücken (statt contes de fantaisie o.ä.) contes fantastiques gemacht hat und damit die begriffliche Dualität von Phantastik und Fantasy überhaupt erst in die Welt gesetzt hat, sondern die jeweils prägenden Definitionsversuche.
Auf der einen Seite hat Roger Caillois vom Märchen gesagt, dass es in einer einheitlich wunderbaren Welt spiele, während er in Bezug auf die Welten der Phantastik von dem berühmten Riss sprach, der durch die Wirklichkeit gehe. Damit definierte Callois die Phantastik in Abgrenzung zum Märchen – mit weitreichenden Folgen, denn noch heute kann man in Einführungen zur Märchenforschung die Formulierung finden, Phantastik sei ihrem Wesen nach »märchenfeindlich«. Diese Abgrenzung wurde von einer ganzen Reihe einflussreicher Definitionen beibehalten. Ob man mit Lovecraft meint, es ginge der Phantastik um die Erzeugung von Angst, ob man mit Todorov von hésitation über den Realitätsstatus der geschilderten Ereignisse spricht oder mit Durst einen Konflikt zwischen verschiedenen Realitätssystemen annimmt: Immer war das Kriterium, wie du sagst, das der Verunsicherung, die mal extradiegetisch bei den Leser_innen, mal intradiegetisch bei den Figuren angesiedelt wurde, während im Märchen (und in der Fantasy) gegenüber dem Übernatürlichen keine Verunsicherung, sondern eine geradezu traumwandlerische Sicherheit herrsche. (Mittlerweile ist allerdings die Märchenforschung so weit, dass sie das Bild, das die Phantastiktheorien vom Märchen zeichnen, als grob vereinfacht kritisiert.)
Auf der anderen Seite hat Tolkien in »On Fairy-Stories« die Fantasy nicht als Gegenteil, sondern als Fortführung des Märchens definiert. Auch daran schließt sich eine Reihe von Definitionen an, z.B. die Michael Maars, wenn er Fantasy als zum Roman ausgewachsene Märchen bezeichnet.
Das in meinen Augen Paradoxe daran ist nun, dass beide Theorietraditionen sich zu erheblichen Teilen auf den gleichen Textkorpus beziehen. Das kann man an der jeweiligen Bezugnahme auf die Gothic Novel sehen, am Umgang mit Autoren wie Poe und Stoker, insbesondere aber, was die Einschätzung der (deutschen) Romantik betrifft. Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann gelten auf der einen Seite als Parade-Vertreter des Phantastischen und müssten demnach »märchenfeindlich« sein. Auf der anderen Seite werden sie als Mitbegründer der in die Fantasy mündenden Kunstmärchentradition angesehen. Dieser Widerspruch ist es, auf den ich vor allem hinaus will.
Sicherlich ist dir all das, was ich jetzt lang und breit ausgeführt habe, bestens bekannt. Ich erkläre mich vor allem deshalb so ausführlich, damit das alles hier eine gewisse Nachvollziehbarkeit auch für diejenigen behält, die sich mit den Theoriedebatten um Fantasy und Phantastik nicht en detail auskennen (und auch für mich selbst; bin ja selber kein Literaturwissenschaftler).
P.S.: Deine Diss habe ich bisher leider nur in kleinen Auszügen gelesen, aber ich werde mir den ersten Teil mal ansehen.
Nun, Du bist auf diesem Gebiet aber wahrscheinlicher belesener als viele Literaturwissenschaftler ;) Das mit Hoffmann wusste ich auch nicht.
Freue mich auf den zweiten Teil -- gerade Caillois hat es meines Erachtens durchaus verdient, mal gut durcheinandergeschüttelt zu werden. Ich fand seinen Aufsatz "Das Bild des Phantastischen (De la Féerie ...)" zwar immer sehr inspirierend, aber vor allem, weil ich in so vielen Punkten nicht damit einverstanden war ;)
Ich muss zugeben, mit Caillois habe ich mich bisher gar nicht direkt beschäftigt, sondern tatsächlich nur seinen Einfluss auf gängige Verhältnisbestimmungen von Phantastik und Märchen wahrgenommen. Muss ich bei Gelegenheit mal ändern.
Gestern habe ich aber noch Anfang (I.2) des Phantastiktheorie-Teils in deiner Diss gelesen. Ich finde dein Vorgehen darin sehr begrüßenswert, insbesondere den Ausgangspunkt von Fantasy als dem allgemeineren Begriff gegenüber dem Phantastikbegriff der kontinentaleuropäischen (nenne ich jetzt einfach mal so) Theorietradition. Ein Blick in die Literaturgeschichte der Neuzeit zeigt, dass es eher die Ausnahme als die Regel ist, wenn das Wunderbare oder Übernatürliche zum Gegenstand des Erschreckens über seine Realitätsinkompatibilität gemacht wird – bzw. wenn die Realitätsinkompatibilität zum zentralen Thema wird, denn in vielen Geschichten kommt sie zwar am Rande vor, aber letztlich nur, um den Leser_innen den Einstieg zu erleichtern.
Auf der anderen Seite haben die (tendenziell angloamerikanischen) Theorien, die Fantasy/Phantastik über die unterschiedlichen Konstruktionsweisen der fiktiven Welt bestimmen, den in meinen Augen entscheidenden Vorteil, dass sie der »Familienähnlichkeit« von historischen Gattungen wie Märchen, Phantastik, Horror, Fantasy etc. Rechnung tragen können, weil ihnen allesamt die Konstruktion einer fiktiv-imaginären Welt gemein ist. Damit vermeidet man die starre Gegenüberstellung von Märchen als einheitlich wunderbaren »immobilen« Texten und Phantastik als zwischen Realimus und Wunderbarem changierenden »mobilen« Texten, die ohnehin nur auf einen kleinen Teil der entsprechenden historischen Gattungen zutreffen.
Bin gespannt, was du in I.4 noch zu sagen hast.
Kommentar veröffentlichen