Dienstag, 10. April 2012

Deppenranking

Günter Grass hat ein Gedicht »Was gesagt werden muss« in der Süddeutschen Zeitung, in La Repubblica und in El País veröffentlicht. Der Inhalt des Gedichts, so der Text selbst, unterliege einem Verdikt allgemeinen Schweigens, dessen Missachtung bestraft werde – eine Art Zensur also. Dies von einem Text zu behaupten, der in führenden Tageszeitungen dreier europäischer Länder erscheint, würde an sich schon ausreichen, um zu erkennen, dass sein Verfasser nicht mehr alle Tassen im Schrank haben kann. Da es sich aber um einen politische Stellungnahme zum Nahostkonflikt handelt, muss man auf solche Idiotien gefasst sein. Es ist ja nicht so, dass Grass, was dies betrifft, der erste wäre. Seine fast schon zirkulär zu nennende Entwicklung vom SS-Mann über den schwadronierenden Erfinder von sechs Millionen ermordeten Deutschen zum als »Freund Israels« getarnten Antisemiten ist nur besonders folgerichtig. Aber wer sind seine Vorläufer, was zeichnet sie aus und für wie bescheuert muss man sie halten?
  1. An erster Stelle ist der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago zu nennen. Der meinte 2002, als die israelische Armee (aufgrund der zweiten Intifada) die Stadt Ramallah abriegelte, diese Blockade geschehe »im Geiste von Auschwitz« und verwandle den Ort in ein Konzentrationslager. In Saramagos Worten werden die Opfer des industriellen Judenmords zu seinen Vollstreckern. Diese Vertauschung ist die Fortsetzung des Holocaust mit anderen Mitteln. Wer Opfer zu Tätern ihrer eigenen Vernichtung macht, will nichts anderes, als diese Vernichtung auf besonders perfide Weise zu rechtfertigen und zu glorifizieren. Mit seiner Aussage hat Saramago sich zum Erfüllungsgehilfen des eliminatorischen Antisemitismus gemacht.
  2. Dicht auf liegt der norwegische Autor Jostein Gaarder, der bekannte Verfasser von Sofies Welt. Mit Bezug auf den Libanonkrieg 2006 (der durch bewaffnete Übergriffe der Hisbollah auf israelisches Gebiet ausgelöst wurde) behauptete er in der Zeitung Aftenposten, der Staat Israel führe diesen Krieg, weil er »als Gottes auserwähltes Volk« handele. Dem Judentum einen fehlgeleiteten »Erwählungsstolz« vorzuwerfen, folgt einem uralten Topos des christlichen Antijudaismus.* Später behauptete Gaarder, er habe lediglich die religiöse Legitimation politischer Handlungen kritisieren wollen. Dabei vermischt er selber religiöse und politische Größen: Die religiöse Überzeugung des Judentums, mit Gott in einem besonderen Bund zu stehen, setzt er mit politisch-militärischen Entscheidungen der israelischen Regierung gleich. Wie jeder gute Antisemit wirft Gaarder seinem Feindbild das vor, was er selber betreibt. Zudem bezeichnete er in seinem Ausgangsartikel die Zugehörigkeit zum Judentum als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Damit verwendet er einen Begriff, der zur Bezeichnung der NS-Untaten geschaffen wurde, in einem schockierend unpassenden Kontext und setzt zwar nicht wie Saramago Opfer und Täter des Holocausts, dafür aber das Judentum mit dem Faschismus gleich.
  3. An dritter Stelle kommt nun Günter Grass. Er will weder den Holocaust rechtfertigen noch dem christlichen Antijudaismus Auftrieb geben, sondern behauptet irrlichternderweise sogar, dem Land Israel verbunden zu sein. Indem er aber (ohne jeden Anhalt in der realen politischen Lage) behauptet, Israel wolle in einem nuklearen Erstschlag das iranische Volk auslöschen, dreht auch er die Opfer-Täter-Relation um. Und indem er dem jüdischen Staat unverhohlen Mord- und Blutgier unterstellt, stellt er sich in die bis ins 20. Jahrhundert reichende Tradition der Ritualmordlegenden, mit der dem Judentum vornehmlich zur Osterzeit vorgeworfen wurde, Menschen zu entführen und rituell zu schlachten. In diesem Sinne sind auch Grass’ Äußerungen eindeutig antisemitisch, stehen in antisemitischer Tradition und führen diese ahnungs- und bedenkenlos fort.
  4. Auf dem vierten Platz folgt, nicht weit abgeschlagen, der schwedische Krimi-Autor Henning Mankell. Mankell ist der klassische Linksliberale, der die Dritte Welt, die schwedische Gesellschaft und alle möglichen anderen Leute und Orte retten oder mit seinen Ansichten beglücken will. Das ist auch der Grund, weshalb er niemals eine echte kritische Haltung entwickeln wird. Zu Israel meint er, dass seine Gründung völkerrechtlich illegitim sei und sanktioniert werden müsse.** Mankell ist entsetzlich dumm, hat keine Ahnung von der Geschichte des Nahen Ostens und glaubt sich moralisch im Recht. Indem er rein politisch gegen die Existenz des jüdischen Staates argumentiert, ermöglicht er den anderen Schreibtischtätern erst ihre antisemitischen Ausfälle.
Betrachtet man nun die Plätze von eins bis vier, ergibt sich also eine Abstufung, die bei offener Dreistheit anfängt und bei grenzenloser Dummheit aufhört. Offensichtlich ist aber auch, dass Dreistheit und Dummheit sich wechselseitig bedingen und der jeweils anderen das Feld bereiten können. Man könnte die Rangfolge umkehren und fände das Ergebnis nicht weniger deprimierend. Auf unterschiedliche Weise, vielleicht auch mit individuell unterschiedlichen Beweggründen, halten es alle genannten Autoren für unter ihrer Würde, sich die Welt mit dem Judentum und dem jüdischen Staat zu teilen. Deshalb sind bzw. waren sie*** die intellektuelle Speerspitze des gegenwärtigen Antisemitismus – Mankell nicht weniger als Saramago.

* Vgl. dazu z.B. Christhard Hoffmann, Das Judentum als Antithese. Zur Tradition eines kulturellen Wertungsmusters, in: Werner Bergmann/Rainer Erb (Hgg.), Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Opladen 1990, S. 20–38.
** Da Israel zu über 160 weiteren Staaten diplomatische Beziehungen unterhält und in den maßgeblichen supranationalen Organisationen vertreten ist, kann an seiner völkerrechtlichen Legitimität eigentlich nicht gezweifelt werden. Mankell scheint zu glauben, dass Israel irgendwelche Sonderkonditionen zu erfüllen habe, um völkerrechtliche Anerkennung zu genießen. Warum das so sein sollte, bleibt sein Geheimnis.  
*** José Saramago ist 2010 gestorben.

4 Kommentare:

Susanne Gerdom hat gesagt…

... obwohl man das auch so sehen kann: http://www.juedische-stimme.de/?p=687

Wer sich Äußerungen der israelischen Friedensbewegung ansieht, wird erkennen, dass die auch nicht sehr viel anders darüber denken als Grass. Aber ich muss zugeben, dass sie in der Regel etwas besser formulieren. *veg*
Und die Frage, ob Grass sich nicht besser einfach geschlossen gehalten hätte - na gut. Darüber kann man wirklich diskutieren.

Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

Wobei ich jetzt nicht überraschend finde, dass die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost das so sieht, und ähnlich die sonstige Friedensbewegung in Deutschland.

Ich will nicht verschweigen, dass ich solche Positionen als extrem einseitig empfinde und auch den Eindruck habe, dass ihre Einseitigkeit sich steigert (besonders im letzten Aufruf, der auf friedenspolitische Forderungen an den Iran gleich komplett verzichtet und die ständigen Vernichtungsdrohungen gegen Israel einfach verschweigt).

Letztlich ging es mir mit meinem Beitrag aber gar nicht um die Situation im Nahen Osten an sich, sondern um die Art und Weise, wie Intellektuelle im Westen sich mit antizionistischen Äußerungen positionieren und dabei verbreitete antisemitische Ressentiments aufnehmen. Das vor allem gilt es m.E. kritisch zu hinterfragen.

Susanne Gerdom hat gesagt…

Das ist und bleibt ein verdammt heißes Eisen, und wer sich dazu äußert, läuft sehenden Auges Gefahr, als Antisemit dazustehen. Das ist einfach so. Es wäre interessant, mal darüber zu diskutieren, auf welcher Basis man hier überhaupt über die Situation im Nahen Osten reden kann, ohne gleich mit sämtlichen Füßen in allen erreichbaren Fettnäpfen zu stehen.
Aber Grass hat da denkbar ungeschickt gehandelt und ich frage mich ehrlich, was er bezweckt hat. Es musste ihm doch klar sein, dass das einen Aufschrei gibt, den man bis in die Antarktis hören kann ... Aber vielleicht war ihm langweilig.

Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

Was Grass antreibt, ist meiner Einschätzung nach eine Mischung aus uninformierter Besserwisserei und einer Haltung, wie sie typisch für seine Generation ist. Die Angehörigen der letzten aktiv am Nazi-Krieg beteiligten Jahrgänge glaubten, sie könnten ihren Antisemitismus »überwinden, indem sie sich formal von ihm distanzieren und sich ordentlich zerknirscht geben« (Klaus Bittermann). Paradigmatisch dafür könnte man das Vorgehen des Springer-Konzerns sehen: Jeder alte Nazi durfte für Springer-Zeitungen schreiben, wenn er eine Erklärung unterzeichnete, mit der er sich zum »Herbeiführen einer Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen« verpflichtete (die Hintergründe beschreibt dieser Artikel ganz gut). Der Begriff Aussöhnung impliziert ja nun irgendwie, auch die Juden seien den Deutschen gegenüber zu einem Entgegenkommen verpflichtet. So erklärt sich die Haltung eines Günter Grass: Wir Deutsche haben doch ganz doll bereut und sind geläutert, jetzt müsst ihr Juden aber auch auf uns hören, wenn wir euch mit erhobenem Zeigefinger entgegentreten.

Notwendig wäre m.E. zuallerst, den Antisemitismus zu analysieren und ihn politisch zu bekämpfen, sonst werden deutsche Debatten über den Nahostkonflikt immer wieder in die verlogene Dialektik aus falscher Demut und erhobenem Zeigefinger verfallen, wie alle möglichen aufdringlichen »Freunde Israels« (von Gabriel bis Grass) sie perfektioniert haben.

In meinen Augen ist die andauernde Empörung über das angeblich den Weltfrieden gefährdende Israel halt auch alles mögliche, nur keine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Situation im Nahen Osten. Basis für eine solche wäre (neben dem kritischen Wissen um Antisemitismus) vielleicht vor allem ein breiteres Wissen über die Region und den Konflikt, damit es gar nicht erst zu solchen perfide herbeifabulierten Untergangsszenarien wie dem »Erstschlag, der das [...] iranische Volk auslöschen könnte« kommen kann.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.