Sonntag, 5. Februar 2012

Tanglewreck

Die Waise Silver wächst in ihrem uralten Familiensitz Tanglewreck in der Nähe von London auf, gegängelt und ausgebeutet von ihrem fiesen Vormund Mrs. Rokabye. Die Zeiten, in denen Silver aufwächst, sind im wahrsten Sinne seltsam, denn die Zeit selbst scheint aus den Fugen zu geraten: Mal läuft sie schneller, mal steht sie still. London wird regelmäßig von Zeittornados heimgesucht – wer in einen hineingerät, verschwindet aus seiner/ihrer Zeit. Unter diesen prekären Umständen interessieren sich sowohl der Alchimist Abel Darkwater als auch die eiskalte Konzernchefin Regalia Mason sehr für Silver, ihr Elternhaus und den geheimnisvollen Zeitwächter, der darin verborgen liegen soll. Die Frage ist eigentlich nur, wer von beiden mehr Unheil stiften kann: Darkwater mit seiner Magie oder Mason mit ihrer quantenphysikalischen Forschung.

Tanglewreck – Das Haus am Ende der Zeit liest sich ein bisschen so, als hätten Philip Pullman und Alan Garner sich regelmäßig zur gemeinsamen Foucault-Lektüre getroffen, nebenher ein wenig über Quantenphysik diskutiert und schließlich ein Buch geschrieben. Silver und Regalia Mason erinnern schon mehr als nur ein wenig an Lyra und Mrs. Coulter aus His Dark Materials, und an einer Stelle von Tanglewreck wird wie nebenbei Alderley Edge erwähnt, der mythisch aufgeladene Handlungsort von Garners Debütroman The Weirdstone of Brisingamen. Aber Tanglewreck ist nichts weniger als ein Abklatsch, dafür schreibt Jeanette Winterson einfach zu gut und versteht es viel zu sehr, unbekümmert und je nach den Erfordernissen der Handlung zwischen Fantasy und SF hin- und herzuspringen.

Das Buch kocht förmlich über vor Ideen. Vieles klingt bereits an, was Winterson im ein Jahr später veröffentlichten The Stone Gods (2007) weiter ausgeführte – vor allem die Vorstellung eines nicht-determinierten Universums, in dessen Abläufe man durch Liebe intervenieren kann. Aber das 2006er Buch ist mitnichten nur ein Präludium. In Tanglewreck leben die flüchtigen Insass_innen der Irrenanstalt Bedlam in der Londoner Kanalisation, aus der Zeit gefallen und noch immer verfolgt von ihrem Anstalts-Albtraum, der für andere Menschen seit Jahrhunderten Vergangenheit ist, gegen Ende des Buches auf einem anderen Planeten als »Bethlehem-Klinik« aber eine unheimliche Wiederbelebung erfährt. Regalia Masons Megakonzern Quanta versucht die Zeit selbst zur Ware zu machen, während beständig sterbende und auferstehende »Quantenkatzen« als Haustiere verkauft werden. Und Killerkaninchen, ein Roboterhund sowie jede Menge Päpste kommen auch noch vor.

Für ein Jugendbuch ist das alles fast ein wenig zu viel. Es ist chaotisch, Nebenhandlungen verlaufen sich ins Nichts. Winterson macht erzählerische Sprünge, die Schwindel erregen können. Und doch ist jeder Satz aus ihrer Feder einfach unwiderstehlich, sprüht vor Charme und Witz. Meine Lieblingsstelle ist die, in der Abel Darkwaters Schläger versehentlich den Piraten Sir Roger alias Rotbart, der seit dem 16. Jahrhundert im Haus Tanglewreck gefangen sitzt, befreien und sogleich nach Piratenart von ihm gestellt werden:
»Antwortet vernünftig und ich lass Euch am Leben. Wer regiert das Land?«
Don Brutalo hielt es für ratsam, zu antworten. »Königin Elisabeth.«
Rotbart nickte und wirkte zufrieden. »Dann ist doch weniger Zeit vergangen, als ich befürchtet hatte. Es besteht noch die Chance, meine Freiheit und meinen Besitz wiederzuerlangen ...«
Das Lesen nicht zu knapp vergällt hat mir allerdings die Übersetzung von Monika Schmalz, die oft holprig und schwer verständlich ist. Gelegentlich kommt es sogar zu richtigen Patzern, bei denen man sich schwern vorstellen kann, dass sie aus dem Originaltext stammen – wenn es etwa heißt, dass jemand »an Händen und Füßen geknebelt« sei. Dieses Manko hat mich allerdings lediglich darin bestärkt, Wintersons Prosa bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit lieber wieder im Original zu genießen.

Tanglewreck – Das Haus am Ende der Zeit von Jeanette Winterson (335 Seiten) ist 2006 bei Bloomsbury erschienen und wurde von Monika Schmalz ins Deutsche übertragen.

13 Kommentare:

Susanne Gerdom hat gesagt…

Danke, gekauft. :-)
Klingt nach meinem Beuteschema (bin allerdings ein bisschen beunruhigt, weil mein WiP ein paar Parallelen dazu aufzuweisen scheint. Aber es gibt ja nichts Neues unter der Sonne. Von daher ...)

Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

Hast du denn schon mal etwas von Winterson gelesen? Ich könnte mir nämlich (gegen jede Chronologie) vorstellen, dass The Stone Gods ein besserer Einstieg in ihr Werk ist ... und ich frage mich, warum ich Wirrkopf das eigentlich nicht gleich in die Rezension geschrieben habe. :-/

Susanne Gerdom hat gesagt…

Ich habe mal was von Winterson gelesen - und jetzt kannst du mich schlagen, mir fällt nicht ein, was es war. Ist aber schon ewig+3 Tage her, irgendwann in den Neunzigern. Etwas mit Obst im Titel? Müsste ich jetzt googlen. Hab ich im Frauenbuchladen gekauft, war also irgendwie feministisch und/oder lesbisch verdächtig. *g*
Ich habe nur eine schwache, aber durchaus positive Erinnerung an das Buch. Stone Gods hab ich jetzt auch mal notiert, danke!

Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

Oranges Are Not the Only Fruit. ;-)

Susanne Gerdom hat gesagt…

:-) Sexing the cherry. Der andere "Obsttitel". Wobei ich nicht sicher bin, ob ich die Orangen nicht auch gelesen habe ...

Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

Oh, mir war gar nicht bewusst, dass es mehrere Obsttitel von Winterson gibt. Ich muss auf jeden Fall noch mehr lesen von ihr.

Susanne Gerdom hat gesagt…

Das Buch ist da, hab schon reingeblättert, das wird mir gut schmecken! (Muss aber erst noch das "Geheimnis des Weißen Bandes" auslesen ... Conan Doyle reinkarniert in Anthony Horowitz.
Noch mal danke für den Tipp!

Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

Bitte schön. Und viel Spaß damit!

Susanne Gerdom hat gesagt…

Das war ein guter Tipp. Ich habe mich köstlich amüsiert (bin selbst ein Fan von Quantenphysikverwurstungen im Fantasyrahmen, von daher war das Buch schon ein Volltreffer.) Sie schmeißt einen ja mit Ideen zu - war fast ein bisschen zu viel - aber dafür war es in keiner Zeile langweilig oder zäh. Bunt, turbulent, witzig und am Schluss sogar recht spannend (auch wenn ich schon ab Mitte geahnt habe, was es mit dem Zeitwächter auf sich hat ...)
Wirklich amüsiert hab ich mich über das Tosca-Zitat (der "Palmieri"-Ausweis) ... und wahrscheinlich hab ich einen Haufen anderer Anspielungen komplett überlesen.

Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

Ich bin mir sicher, die Anspielungen in dem Buch nur zum Teil verstanden zu haben. Ein Grund mehr, es noch mal im Original zu lesen. Ein Jugendbuch, das einige Parallelen zu Tanglewreck aufweist (Fantasy, aber von einerm Mainstream-Autor geschrieben, intelligent und ideenreich) ist übrigens Michael Chabons Sommerland. Ist nicht so turbulent, sondern eher gechillt.

P.S.: Ich hoffe, du musst jetzt nicht dein WiP umschreiben. ;-)

Susanne Gerdom hat gesagt…

Seufz. Schon wieder ein Buch für den SuB ... Danke. :-)

Nein, es war unähnlich genug. Glück gehabt ...

Rodolfo Mangosta Peferbaum hat gesagt…

Chabon ist toll! :-)

Susanne Gerdom hat gesagt…

Hab ihn auch schon gekauft. (Ich liebe justbooks.de ... :-))

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.