Die deutsche Fantasy hatte über lange Jahre hinweg ein Problem, das Wolfgang Hohlbein hieß. Der Mann veröffentlichte in manchen Jahren ein Buch pro Monat, recyclete Plots, wärmte die — in der Fantasy selten allzu fernliegende — Gut-Böse-Dichotomie wieder und wieder neu auf und wurde gelesen, gelesen, gelesen. Es ist klar, dass man in Deutschland ein Vielschreiber sein muss, um als hauptberuflicher Fantasyautor leben zu können, und Hohlbein perfektionierte die Vielschreiberei geradezu, indem er sie als Familienunternehmen aufzog. Eine ganze Generation von Leser_innen fand durch das Jugendbuch Märchenmond, von Hohlbein gemeinsam mit seiner Frau Heike verfasst, zur Fantasy. Nach der Lektüre von Märchenmond teilten sich dann in der Regel die Geister: Während die einen auf Hohlbein schwören, ergebene Fans bleiben und die Vielschreiberei ihres Herrn und Meisters geradezu als Qualitätsmerkmal betrachten,* waren die anderen des vierten oder fünften Aufgusses — vom jugendlichen Helden, der Gut und Böse kennenlernt — irgendwann überdrüssig und entdeckten, dass es Fantasy jenseits von Hohlbeins gibt.
Nun soll es hier nicht um die Frage gehen, ob Hohlbeins Werk nur schlecht ist, oder ob der Mann sein Talent totgeschrieben hat. Für mich ist vielmehr interessant, welche Wirkung er auf das Genre in Deutschland ausübte. Märchenmond ist — vielleicht mehr noch als Die unendliche Geschichte — das Buch, das gewissermaßen die Fantasy in Deutschland als eigenständiges Genre etablierte, auch wenn es technisch gesehen schon vorher deutschsprachige Fantasies gab. Wahrscheinlich haben heute andere Bücher (von Hennen oder Hardebusch) diese auslösende Rolle eingenommen, die Massen junger Leser_innen dazu bringt, sich mit Fantasy als Genre zu befassen. Aber Märchenmond stellt in dieser Hinsicht doch eine Pionierleistung dar, die auch viele, die längst mit anspruchsvollerer Literatur beschäftigt sind, weiterhin eine gewisse Wertschätzung dem Buch gegenüber empfinden lassen.
Mir geht es übrigens anders. Ich habe Märchenmond nie gelesen, und meine beginnenden Fantasy-Leseerfahrungen waren neben Tolkien eher von T.H. White, Richard Adams, Lloyd Alexander und Marion Zimmer Bradley geprägt. Und genau deshalb lese ich es heute, aus literaturgeschichtlichem Interesse quasi, und bin dabei auf die bescheuerte Idee gekommen, eine Art Leseprotokoll anzufertigen.** Und damit fange ich jetzt auch gleich mal an. Massive Spoiler werden natürlich kaum zu vermeiden sein.
Wie ist das Ausgangsszenario? Der präpubertäre Protagonist Kim beschäftigt sich lieber mit strunziger Military SF, als seine Hausaufgaben zu machen. Für Märchen und Sagen hat er nichts übrig, die sind für kleine Mädchen. Nun liegt aber Kims vierjährige Schwester im Koma, weil ihr Geist in einer Sekundärwelt namens Märchenmond festgehalten wird und nicht in ihren Körper zurückkehren kann (scheint mir ein reichlich dualistisches Konzept zu sein). Also muss Kim nach Märchenmond reisen, um seine Schwester zu befreien. Da wird er wohl am Ende gelernt haben, dass Märchen für alle da sind, nicht nur für kleine Mädchen, schätze ich.
Einige Punkte, die mir als protokollierenswert aufgefallen sind:
S. 28: Kims Mutter ist Hausfrau. Kims Vater nimmt sich auch dann nicht von der Arbeit frei, wenn seine Tochter im Koma liegt, weil er im Büro besser abgelenkt ist. S. 32: Kims Mutter deckt den Tisch zum Abendessen, Kims Vater sitzt derweil am Fenster und raucht. Nachher spült sie das Geschirr, während er fernsieht. Bei Hohlbeins ist die Welt noch in Ordnung.
S. 40: Der Zauberer Themistokles, der Kim auffordert, nach Märchenmond zu kommen, ist »Gandalf, Merlin und der Mann im Mond«. Sagt er selber. Klar, keine Fantasy für Jugendliche ohne Mentor.
S. 71f.: Der Zauberer Boraas, der Kims Schwester gefangenhält, ist ein Bösewicht. Das merkt man gleich daran, dass er schwarze Kleidung trägt und blaue, knisternde Blitze mit den Händen verschießt. Außerdem legt er Kim dringlich nahe, ihn zu hassen, und der Hass ist natürlich die stärkste Waffe des Bösen.
S. 79: Kim ist ein Held, denn wenn es drauf ankommt, handelt er »rein instinktiv« und macht Boraas' gepanzerte und schwer bewaffnete Gardisten im Akkord platt. Die leiden aber auch an einem besonders schweren Fall des principle of evil marksmanship (wobei, in diesem Fall eher evil swordsmanship), dass sie sich von einem Dreizehnjährigen, dessen Kampferfahrungen sich auf Auseinandersetzungen über nicht gemachte Hausaufgaben beschränken, so dermaßen übers Knie legen lassen.
So weit die erste Protokollrunde. Bis jetzt geht Märchenmond mir ja ganz gut runter. Ist irgendwie nett, als ob man einen Heftroman läse. Auf anstrengende, von vornherein zum Scheitern verurteilte Versuche, Charaktere und Stimmungen zu schildern, verzichten die Hohlbeins dankenswerterweise. Statt dessen gibt's flotte Plotentwicklung. Ich melde mich dann wieder, wenn ich weitergelesen habe.
* Unglaublich, aber wahr: Siehe hier eine Rezension zu Die Nacht des Drachen.
** Eine Rezension zu Märchenmond zu schreiben wäre wohl ein eher müßiges Unterfangen.
2 Kommentare:
Kerle, Kerle. Da haste Dir aber was ans Bein genagelt. Ich gebe zu, dass ich als junger Teen ein ganz großer Hohlbein-Fan war. Märchenmond hab ich damals auch gelesen, fands aber nicht soooo doll. Richtig heftig gut fand ich aber die Enwor-Bücher, auch wenn ich da nur die ersten 4 gelesen habe. -- Die kompletten Heftchenvon "Der Hexer" hüte ich nach wie vor als Schatz meiner Sammlung und will die irgendwann auch mal wieder lesen.
Och, falls ich keine Lust mehr habe, höre ich einfach auf. Wollte in Märchenmond aber auf jeden Fall mal reingeschaut haben, um sozusagen einen historischen Blick auf Hohlbein zu werfen. Und bisher klappt's ja recht gut. Normalerweise würde ich bei Hohlbein nämlich über die ersten 20 Seiten nicht hinauskommen...
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