Freitag, 17. September 2010

Die Geisterseher

Bemerkenswert ist an Kai Meyers Die Geisterseher aus dem Jahre 1995 vor allem eines: Meyer dürfte — neben Cornelia Funke — der in der englischsprachigen Welt bekannteste deutsche Fantasy-Autor der Gegenwart sein, seine frühen Romane (zu denen Die Geisterseher zählt) verraten aber ausgerechnet den profunden Einfluss deutschsprachiger Trivialliteratur auf Meyers Werk.* Sein frühes Werk, sollte ich vielleicht präzisieren, denn die YA-Trilogien, mit denen Meyer gegenwärtig Erfolge feiert, habe ich gar nicht gelesen.

Stichwort Trivialliteratur. Angesichts der Tatsache, dass deutschsprachige Fantasy überwiegend tief im Schatten angloamerikanischer Vorbilder steht, und nur ab und an mal augenblinzelnd ein paar Schritte ins grelle Licht hinauswagt, lohnt es sich vielleicht, etwas näher darauf einzugehen. Die Geisterseher ist zunächst eine Imitation der sogenannten Bundesromane, von denen Ende des 18. Jahrhunderts etwa 200 Stück erschienen und eine heute kaum mehr beachtete Popularität entwickelten. Es handelte sich gewissermaßen um die deutsche Variante der englischen Schauerromane. Ihren Namen haben sie daher, dass die Handlung meist von einem mächtigen, im Hintergrund agierenden Geheimbund vorangetrieben wird. Die Wirkungsgeschichte des Bundesromans sollte germanistische Nasen zum Rümpfen bringen: An dem Genre entzündete sich nämlich nicht nur E.T.A. Hoffmanns Schreiblust, der gleich zwei Bundesromane im Manuskript verfasste, bevor er als Schriftsteller bekannt wurde, sie aber nie veröffentlichte. Darüber hinaus inspirierten sie auch Schiller zu seinem einzigen Romanfragment Der Geisterseher (das natürlich Meyers Vorbild ist) und beeinflussten Goethes Wilhelm Meister.

Auch die Abenteuer- und Kolportageromane des 19. Jahrhunderts haben bei Meyer ihren Niederschlag gefunden. Ähnlich ist hier vor allem das umfangreiche Figurenensemble, die mit Vorliebe in die Handlung eingeflochtenen historischen Personen (na ja, bei Meyer sind es häufig eigentlich eher historische Wachspuppen) und die oberflächliche Charakterzeichnung, die die handelnden Figuren nur in ihrer Funktion für die Handlung beleuchtet und ihre Motivation dabei oft genug im Halbdunkeln lässt. Letzteres ist etwas, was sich in einigen späteren Romanen Meyers erhalten hat.

Der Autor verhehlt seine Einflüsse nicht, lehnt sich sich eher durch einen bewusst archaisierenden Schreibstil noch enger an die Tradition an. Dieser Stil fällt bei ihm übrigens weniger peinlich aus, als das oft der Fall ist. Um Authentizitätseffekte kümmert er sich ansonsten aber herzlich wenig, und so ist sein klassisches Deutschland besiedelt von Crossdressern, polnisch-patriotischen Schwarzkünstlern und Cagliostro-Fans, die mitten in Warschau in ihrer nicht ganz geheimen Loge eine ägyptisch geschminkte Scharade aufführen und in Las-Vegas-mäßigen Pharaonengewändern den Geheimrat Goethe in Weimar besuchen.**

Auf den Plot will ich hier nicht näher eingehen, das wäre ohne Spoiler schwer möglich. Es kommen Giftmorde, begehrte Manuskripte, kaltblütige Killer und jede Menge Geheimgesellschaften vor. Das eigentliche Thema des Romans ist jedoch, würde ich sagen, der Literaturbetrieb und das Schriftstellersein, von Meyer bissig und unterhaltsam dargestellt: Am Ende entwirft er eine trivialliterarische Utopie des Schreibens und tritt damit jeglichem Geniekult und der feuilletonistischen Kritikerbourgeoisie mit Schmackes gegen’s Schienbein. Allein deshalb lohnt es sich, Die Geisterseher zu lesen.

Meyers Charakterzeichnungen haben es dagegen so rein gar nicht in sich. Die im Roman auftretenden historischen Persönlichkeiten werden meist auf eine einzige Eigenschaft reduziert geschildert: Hoffmann ist der unzuverlässige Säufer, Jacob Grimm ist der kühl kalkulierende Logiker, sein Bruder Wilhelm dagegen spontan und impulsiv etc. Das macht wenig Spaß. Trostpflaster ist lediglich die Darstellung von Literaturplatzhirsch Goethe, der als eiskalter, für seine ›höheren Ziele‹ über Leichen gehender Strippenzieher geradezu zum Proto-Nazi gerät. Ein ganz netter Seitenhieb ist auch der Gastauftritt von Carl Grosse, der — als Unterhaltungsschriftsteller geschmäht — in deutschen Literaturgeschichten eher selten auftaucht.

Mit Die Winterprinzessin ist 1997 eine Fortsetzung erschienen, die aber dem Stoff nichts mehr abgewinnen kann und an dem zunehmend unübersichtlichen Figurenensemble krepiert. Muss man sich nicht reinziehen. Erwähnenswert ist vielleicht eher, dass es mittlerweile auch ein preisgekröntes Geisterseher-Hörspiel gibt. Für Hörspielfans — was ich leider nicht bin — sicherlich eine feine Sache.

Die Geisterseher. Ein unheimlicher Roman aus dem klassischen Weimar ist 1995 bei Rütten & Loening (Hardcover) und neu 2003 bei Bastei (Taschenbuch) erschienen. 1996 und 2009 gab es auch Ausgaben im Aufbau-Taschenbuchverlag. Der Roman hat 361 Seiten.

* Auch innerhalb des deutschen Sprachraums wird Meyer häufig als Beispiel für einen Fantasy-Autor genannt, der bereit ist, in seinem Werk ungewöhnliche Wege zu beschreiten. So z.B. in der SFF-Rundschau des Standard. Ich stimme dem zumindest insoweit zu, als dass ich Meyer jedenfalls für einen lesenswerteren Vertreter der deutschsprachigen Fantasy halte. Allerdings kann ich nicht finden, dass allein schon ein vom ausgefransten pseudo-mittelalterlichen Setting abweichendes Worldbuilding ausreichend ist, um der deutschsprachigen Fantasy neue Impulse zu geben.

** Die rassistische Tradition, die hinter dem Motiv der als Afrikaner_innen kostümierten Weißen steht, scheint Meyer zu entgehen, oder — was schlimmer wäre — er ignoriert sie bewusst.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.