»Dem Manne, der mir einen neuen Himmel und eine neue Erde gab« – mit diesen Worten widmet Edmund Kiss seinen Roman Das gläserne Meer dem großen Idol Hanns Hörbiger. Die Anspielung auf die Johannesoffenbarung (»Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der erste Himmel und die erste Erde vergingen. Das Meer war nicht mehr.« – Offb 21,1) ist Programm. Der in der Offenbarung den neuen Himmel und die neue Erde bringt, ist der zum Endgericht wiedergekehrte Christus. Indem Kiss dies auf Hörbiger überträgt, schreibt er dem österreichischen Spintisierer messianische Qualitäten zu.
Aber Kiss machte sich noch weitere Gedanken über die Offenbarung. Anscheinend beschäftigte ihn die Aussage, dass mit der Heraufkunft des neuen Himmels und der neuen Erde das Meer verschwinden würde. Religionsgeschichtlich lässt sich das recht einfach erklären: Gemäß dem biblischen Weltbild (nach dem Schöpfungsbericht in Gen 1) ist die Welt in Himmel, Erde und Meer aufgeteilt. Im Himmel thront Gott, in der Mitte erhebt sich die Erde wie eine Insel aus dem umgebenden Meer. Das Meer gilt dabei als Heimstätte des Chaos, das die Wohnungen der Menschen bedroht. Dem Meer entsteigen Ungeheuer wie der Leviatan und die Tanninim. Wenn es in der Offenbarung heißt, dass nach dem Endgericht das Meer nicht mehr sein werde, dann ist gemeint, dass die Gefahr durch die Chaosmacht nicht mehr besteht.
Doch Kiss hatte anderes im Sinn, als er sich mit der Offenbarung beschäftigte. Zunächst nahm er sie nicht als Vision über das (noch ausstehende) Ende der Welt, sondern als Bericht über die ferne Vergangenheit. Die Offenbarung, meinte Kiss, erzählt von einer der zahlreichen kosmischen Katastrophen, die die Erde laut Hörbigers Welteislehre zu Urzeiten heimgesucht hätten. Sie berichtet nicht vom Ende der Welt, sondern ähnlich wie Platons Atlantismythos vom Untergang einer Welt.
In Kapital 4 der Offenbarung wird der Thron Gottes anschaulich beschrieben. In Vers 6 heißt es: »Vor dem Thron war eine Art gläsernes Meer, wie Kristall.« Kurz darauf, in Kapitel 6, kommt es zur Öffnung der sieben Siegel, die jeweils mit einer Katastrophe verbunden sind. Als das sechste Siegel geöffnet wird, »da entstand ein großes Beben, die Sonne wurde schwarz wie Ziegenhaarstoff, der ganze Mond wie Blut, die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie ein Feigenbaum, von einem großen Wind erschüttert, seine Spätfeigen abwirft, der Himmel wurde gespalten, wie eine Buchrolle gerollt, und jeder Berg und jede Insel von ihren Orten fortbewegt.« (Offb 6,12–14)
Für Kiss war der Fall klar. Das gläserne Meer war ein von der Erde angezogener Himmelskörper, so genannt, weil er wie eine gigantische Kristallscheibe am Himmel stand. Er stieß mit der Erde zusammen und löste einen gewaltigen Kataklysmus aus. Und wenn im vorletzten Kapitel der Offenbarung gesagt wird, dass das Meer nicht mehr ist, dann bezieht sich das natürlich auf das gläserne Meer, das nach dem Einschlag auf der Erde selbstverständlich nicht mehr zu sehen ist. So beginnt Kiss’ Roman auf den Abessischen Inseln, die aufgrund des sich nähernden gläsernen Meeres zunehmend von Erdbeben heimgesucht werden. Was Kiss allerdings nicht verrät: Woher sollten die Menschen seiner Abessischen Inseln, die auf steinzeitlicher Kulturstufe leben, den Werkstoff Glas kennen?
Die Anhänger_innen der WEL stürzten sich mit Begeisterung auf mythologische Erzählungen von kosmischen Katastrophen. Stetig frustriert durch wissenschaftliche Entdeckungen, die mit ihrem Weltbild nicht kompatibel waren, suchten und fanden sie in der Mythologie Bestätigung. Die Offenbarung, die Sintflut, der Untergang von Atlantis, der losgelassene Fenriswolf – waren das nicht untrügliche Zeugnisse dafür, dass die Erde immer wieder allumfassenden Katastrophen ausgesetzt war? Aber wenn es auf der Erde untergegangene Zivilisationen gab, die von der herkömmlichen Geschichtsschreibung gar nicht erfasst wurden, dann mussten diese materielle Spuren hinterlassen haben.
Wie bereits erwähnt, gab es im Dritten Reich (wie auch davor schon) eine völkische Archäologie, die dazu neigte, den alten German_innen eine Hochkultur zuzuschreiben, die derjenigen Ägyptens mindestens ebenbürtig war. Sie arbeitete eng zusammen mit einer Volkskunde, die in (echten oder erfundenen) folkloristischen Bräuchen Überbleibsel uralter germanischer Spiritualität sehen wollte. Aus diesem Konglomerat entstand ein eigenes pseudowissenschaftliches Fach, das von einem seiner Protagonisten, Wilhelm Teudt (1860–1942), als »germanische Vorgeschichte« bezeichnet wurde. Himmler interessierte sich sehr für derartiges. Seine Schwärmerei für Fruchtbarkeitsrituale, die sich angeblich jahrtausendelang in deutschen Dörfern erhalten hätten, arteten mitunter in regelrechte Porno-Fantasien aus. Folgerichtig wurde die von Teudt gegründete Zeitschrift Germanien 1936 zu einem offiziellen Publikationsorgan des Ahnenerbes; Teudt selbst wurde als Leiter der Abteilung für »Germanenkunde« übernommen.
Der WEL kam diese Nachbardisziplin sehr gelegen. Wo die WEL aufhörte, mit dem Untergang von Atlantis etwa, konnte die »germanische Vorgeschichte« mit ihrer germanischen Hochkultur einsetzen.
Himmler interessierte sich für beides. Insbesondere die von der WEL gehegte Vorstellung, der nordische Mensch sei nicht auf der Erde entstanden, sondern als kosmisches Protoplasma aus dem Weltall gekommen, gefiel ihm außerordentlich. Überhaupt haftet dem Komplex Welteis–Germanien ein kreationistischer, antidarwinistischer Zug an. Schon Teudt war mit Polemiken gegen Darwin und Haeckel hervorgetreten. Vorbildhaft war die »germanische Vorgeschichte« für die WEL aber auch durch ihre archäologische Schlagseite. Wie Teudt, der sich obsessiv mit den Externsteinen bei Detmold befasste (natürlich sah er sie als germanisches Heiligtum an), war auch Kiss als Hobby-Archäologe tätig.
Von Beruf war Kiss eigentlich Architekt. Archäologie hat er aller Wahrscheinlichkeit nach nie studiert. Mitte der zwanziger Jahre begann er Romane zu veröffentlichen. Nachdem er einen Literaturpreis gewonnen hatte, finanzierte er sich mit dem Preisgeld eine Reise nach Südamerika. Dort interessierten ihn präkolumbianische Ruinen im bolivianischen Hochland, in denen er Zeugnisse »nordischer Baukunst« sah. Seine entsprechenden Theorien veröffentlichte er 1937 just in Teudts Zeitschrift Germanien, und im gleichen Jahr auch in Buchform. Allerdings fand Kiss’ Südamerikareise viel früher, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre statt. Es fragt sich also, warum er mit der Veröffentlichung zehn Jahre wartete. Wartete er auf die Gelegenheit, in einem angemessenen Milieu publizieren zu können? Oder war er vielleicht während des Aufenthalts in Bolivien noch gar nicht auf die Idee mit der »nordischen Baukunst« in den Anden gekommen?
Spätestens zum Ende der zwanziger Jahre hin muss Kiss die WEL kennengelernt haben und schnell zum Gläubigen geworden sein. 1930 erschien Das gläserne Meer, 1933 dann sein erstes Sachbuch mit WEL-Thematik. Die WEL stattete ihn womöglich mit einer Erklärung bezüglich der Ruinen in den Anden aus: Wenn die Gestalt der Erde sich immer wieder auf kataklysmische Weise veränderte, dann könnte es doch einmal möglich gewesen sein, dass nordische Menschen nach Südamerika gelangten. Zu beweisen, wie sehr sich die Gestalt der Meere und Kontinente im Lauf der Erdgeschichte verändert hatte, wurde ihm zur fixen Idee. Und er fand einen Gönner, der ihm großzügig ermöglichte, dieser Idee nachzugehen: Kiss trat der SS bei und wurde in den persönlichen Stab Himmlers aufgenommen. Ab 1938 wurde seine Arbeit offiziell vom Ahnenerbe gefördert. Himmler versuchte sogar, Kiss’ Teilnahme an der deutschen Tibet-Expedition, die im gleichen Jahr in den Himalaya aufbrach, durchzusetzen. Der Expeditionsleiter Ernst Schäfer (1910–92) weigerte sich jedoch strikt, den WEL-Apologeten mit nach Tibet zu nehmen. Das entsprang keineswegs einer antifaschistischen Haltung. Schäfer war selbst SS-Mitglied und leitete die Expeditionsabteilung des Ahnenerbes. Gegen die Teilnahme des Rassenkundlers Bruno Beger (1911–2009) an seiner Expedition hatte er nichts. Schäfer fürchtete lediglich um das wissenschaftliche Ansehen seiner Expedition, wenn ein Adept der in Fachkreisen als Spinnerei bekannten WEL an ihr beteiligt würde.
Himmler hatte für Kiss prompt eine Entschädigung parat: Er übertrug ihm die Leitung einer Expedition nach Libyen, wo er den Verlauf von Küstenlinien erforschen sollte. Die Reise fand 1939 statt, und Kiss kehrte mit dem gewünschten Ergebnis zurück: Die Veränderungen im Küstenverlauf seien nicht zu erklären, ohne dass man die WEL zur Grundlage nehme. Himmler zeigte sich zufrieden und wollte Kiss mit einer Expedition nach Südamerika belohnen, wo er die Betrachtung seiner nordischen Baudenkmäler wieder aufnehmen sollte. Der Zweite Weltkrieg machte diesem Plan allerdings ein Ende. Kiss nahm als Offizier der Waffen-SS am Krieg teil. 1945 geriet er in Kriegsgefangenschaft, wurde aber schon nach zwei Jahren wieder entlassen und im anschließenden Entnazifizierungsverfahren als Mitläufer eingestuft. Danach verliert sich seine Spur.
Im Verlauf der 1930er war Kiss allerdings nicht nur als Forschungsreisender des Ahnenerbes äußerst aktiv gewesen. Auf Das gläserne Meer ließ er drei Fortsetzungen folgen: 1931 erschien Die letzte Königin von Atlantis, 1933 Frühling in Atlantis und 1937 Die Singschwäne von Thule. Die Romantetralogie weitete sich damit zu einer Art literarischen Kompendiums der WEL aus. Flankiert wurde sie von Sachbüchern, die nicht nur die »nordische« Architektur in Bolivien, sondern auch die Ursachen der Völkerwanderung auf Grundlage der WEL erklärten.
Es lohnt sich, an dieser Stelle einen Blick auf Kiss’ Debütroman Der Weg aus der Nacht (1926) zu werfen, gerade weil dieser noch nicht den Einfluss Hörbigers aufweist. Fritz, der Ich-Erzähler und zugleich eine Art Stand-in für Kiss, ist ein Veteran des Ersten Weltkriegs. Trotz einer Kriegswunde könnte es ihm eigentlich recht gutgehen, denn er ist Beamter und mit der Tochter eines preußischen Junkers verlobt. Sein Schwiegervater in spe ist drauf und dran, ihn zum Gutsverwalter einzusetzen. Aber Fritz hat viel zu jammern, denn: »Fliehen mochte ich vor dem häßlichen Parteigetriebe und der Politik, die in immer engeren Kreisen verkümmerten.« Diese Fluchtgedanken, des Mary-Sue-mäßigen Status zum Trotz, den Kiss seinem Alter ego andichtet, sind aufschlussreich.
Es ist darauf hingewiesen worden, dass Führer der Nazipartei wie Hitler, Göring und Röhm verkrachte Existenzen waren, unfähig, sich nach dem Ersten Weltkrieg ins bürgerliche Leben einzufinden. Kiss beschreibt seinen Protagonisten aber als bestens in die gute Gesellschaft integriert. Trotzdem ist er todunglücklich und entsetzt sich vor dem »häßlichen Parteigetriebe«. Das dürfte das Lebensgefühl des völkisch-nationalistischen Milieus in den zwanziger Jahren gut beschreiben. Eigentlich hatten diese Kreise ja allen Anlass, zufrieden zu sein: Der Pakt zwischen der Führung der Sozialdemokratie und der Reichswehr hatte sämtliche revolutionären Bestrebungen erstickt. Freikorps und Todesschwadronen machten ungehemmt Jagd auf Linke und wurden selbst für Morde nur milde bestraft. Weder war es zu einer grundlegenden Veränderung der Besitzverhältnisse, noch zu einem nennenswerten Statusverlust der alten Eliten gekommen. Aber anscheinend war für Menschen wie Kiss allein die Tatsache, in einer parlamentarischen Demokratie leben zu müssen, völlig unerträglich.
Der Clou von Kiss’ Roman ist: Fritz wurde im Krieg durch eine englische Kugel am Sehnerv verletzt und kann deshalb Gespenster sehen. Vor allem die deutschen Kriegstoten erscheinen ihm immer wieder. Sein bester Freund, ein gefallener Marineoffizier, wird ihm zum Führer durch die Geisterwelt. Er zeigt Fritz, warum die toten Soldaten keine Ruhe finden: Bevor Deutschland wieder zu neuer Größe findet, müssen die armen Gespenster Nacht für Nacht erneut die Weltkriegsschlachten durchkämpfen, in denen sie ihr Leben ließen. Der Höhepunkt des Romans besteht darin, dass Fritz Zeuge der von den Gefallenen aufgeführten Wiederholung der Skagerrakschlacht wird, in der sein Busenfreund mitsamt seinem Kanonenboot unterging.
Weil aber außer Fritz niemand sehen kann, was die toten Kameraden alles erleiden müssen, verzweifelt er zusehends. Sein gefallener Freund trägt ihm auf, einen Weg aus der Nacht zu finden, der die Kriegstoten erlöst und Deutschland zu neuem Morgenschein führt. Wie genau das passieren soll, hat der Roman übrigens noch gar nicht im Blick. Das Geschrei nach einer »nationalen Revolution«, das die diversen Fraktionen der Weimarer Rechten erhoben, spielt für die Handlung keine Rolle, die somit seltsam offen endet. Anscheinend wusste Kiss zu dieser Zeit noch nicht so recht, in welche Richtung der Marsch gehen sollte. Aufgrund seiner Demokratieverachtung und der Larmoyanz, mit der er Deutschland als das Opfer unter den Nationen darstellt, ist der Roman aber durchaus als protofaschistisch einzustufen. Und spätestens mit der Hinwendung zur WEL und zur SS dürfte Kiss seinen persönlichen Weg aus der Nacht der Demokratie ja gefunden haben.
Es ist eine schwer erträgliche Lektüre, mehr pseudoreligiöse Botschaft und völkische Heilssucht als Literatur. Der Stil ist geradezu peinlich schlecht. Hier etwa die Verlobungsszene am Anfang:
»Weißt du denn, was ich will? Ist es dir klar, daß ich dich heiraten möchte?«In diesem Aktenvermerkstil geht es knapp 200 Seiten lang weiter – seltsamerweise auch durch die tiefgründelnden Szenen hindurch, die von der Unerlöstheit der Kriegstoten handeln. Falls das Kiss’ Versuch sein sollte, komisch zu sein, ist es von ungewollter Komik jedenfalls nicht zu unterscheiden. Im Vergleich dazu lesen sich die späteren Welteisromane ungleich flüssiger und spannender. Die WEL eröffnete anscheinend Möglichkeiten des Fabulierens, die Kiss zuvor völlig abgegangen sind. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade aus Hörbigerschen Kreisen heraus eine mythopoetische NS-Literatur entstehen konnte.
Sie wußte es.
»Wann bist du auf diesen Gedanken gekommen?« fragte sie.
Ich erklärte, ich könne das gar nicht mehr gar so genau angeben; vermutlich, seit sie aus Berlin zurückgekommen sei.
1 Kommentar:
Insgesamt sehr interessant und informativ. Danke für den Beitrag.
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