Donnerstag, 28. September 2017

Lest alte Fantasy: The Castle of Iron

Heute gibt es einen Post, der den Titel dieser Reihe konterkariert: The Castle of Iron von Fletcher Pratt und L. Sprague de Camp ist ein Buch, das ich eigentlich lieber nicht lesen möchte, bzw. einmal angefangen ungefähr nach der Hälfte abgebrochen habe. Da es aber einen Ruf als Klassiker hat, lohnt es sich meines Erachtens doch, einige Worte darüber zu verlieren.

The Castle of Iron ist der zweite Band von Pratts und Sprague de Camps Harold-Shea-Zyklus. Der erste Band, The Incompleat Enchanter, besteht aus zwei Erzählungen, die 1940 zunächst im Fantasy-Magazin Unknown erschienen, bevor sie im Jahr darauf als Buch gedruckt wurden. Im gleichen Jahr, 1941, erschien auch The Castle of Iron in Novellenlänge in Unknown. Für die Buchausgabe (erstmals 1950) erweiterten die beiden Autoren ihre Geschichte zum Roman. Mit Wall of Serpents erschien 1960 ein dritter Band über Harold Shea, der wiederum aus zwei Erzählungen besteht.

Das Konzept der Harold-Shea-Geschichten ist schnell erklärt. Shea ist ein hemdsärmeliger Psychologe aus den USA, der mit Hilfe »symbolischer Logik« ein »Syllogismobil« heraufbeschwören kann, das als eine Art Portal in sämtliche mythologischen und fiktionalen Welten fungiert. (Man kennt diese Vorstellung aus anderen Werken der US-amerikanischen Fantasy, u.a. von John Myers Myers und Robert A. Heinlein.) Mit seinen Kollegen Reed Chalmers, Walter Bayard und Vaclav Polacek erlebt Shea in diesen Welten alle möglichen und unmöglichen Abenteuer. Der erste Band spielt in der Welt der Eddas und der Faerie Queene, der zweite in der des Orlando Furioso (mit einem kurzen Abstecher nach Xanadu), der dritte in der irischen Mythologie und der Kalevala. Die Nomenklatur finde ich übrigens ziemlich unglücklich: Mir ist nicht klar, was das Ganze mit symbolischer Logik und mit Syllogismen zu tun haben soll.

Die Harold-Shea-Geschichten sind das Produkt einer spezifischen Entwicklung in der US-amerikanischen Fantasy. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatte es auf der einen Seite Pulp-Übermenschen wie Tarzan, John Carter oder Conan den Cimmerier gegeben, auf der anderen Seite Geschichten à la Lovecraft, die von »mystical rhapsodies, crabbed lore, and deep dark dreads« (David Pringle) handeln. In den dreißiger und vor allem den vierziger Jahren verloren diese Geschichten (auch wenn sie nicht verschwanden) etwas von ihrem Appeal. Ich vermute, das Problem lag darin, dass die Pulp-Heroen quasi jedes Problem mit roher Kraft lösen konnten, während auf der anderen Seite die Lovecraftschen Protagonisten Abenteuer erlebten, die »never stories of triumph, [but] merely of surviving the confrontation« waren, wie Raymond E. Feist es einmal ausdrückte. Das kann man in der Tat als einen Mangel sehen. Vor dem Hintergrund der Great Depression und des Zweiten Weltkriegs kam ein Bedürfnis nach Heldinnen und Helden auf, die dem Übernatürlichen als Allerweltstypen entgegentreten und dank ihres sturen Rationalismus schnell merken, dass Magie auch nur eine etwas verquere Art von Ingenieurswissen ist. Dank dieser Erkenntnis sind kaugummikauende all-American boys dann auch schnell in der Lage, die Geschöpfe der Magie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. In der Tat gründete John W. Campbell sein Fantasy-Magazin Unknown (1939–43), um exakt diese Ideologie zu verbreiten.

Geschichten dieses Typs weisen in der Regel eine Schlagseite zum Klamauk auf. The Castle of Iron wird deshalb bis heute als ein Meisterwerk humoriger Fantasy gepriesen. Ich würde allerdings das genaue Gegenteil behaupten: Etwa zur gleichen Zeit mit der Harold-Shea-Reihe entstanden Werke wie die Geschichten James Thurbers oder Tolkiens Farmer Giles, die bis heute nichts von ihrem Witz verloren haben – weil sie auf einer ernsthaften Grundlage ruhen. Eine solche geht The Castle of Iron völlig ab. Das Buch liest sich wie eine Aneinanderreihung bierseliger Einen-hab-ich-noch-Schenkelklopfer, bei denen man höchstens vor Ungläubigkeit lacht.

Das heißt, wenn es nicht völlig in die Geschmacklosigkeit abdriftet. Ludovico Ariostos Orlando Furioso oder Rasender Roland (1516) ist bekanntlich eine Version der matière de France, d.h. es geht um den Kampf Kaiser Karls und seiner Paladine gegen spanische Muslime. So wird man in The Castle of Iron gleich zu Beginn informiert, dass Muslime Menschen mit »eigenartigen moralischen Maßstäben« und einer Vorliebe für Sodomie sind, und wenig später erklärt Shea auch, warum: »Nach allen bekannten Korrelationen müßten in einer vollkommenen Moslemgesellschaft, in der alle ehrenwerten Frauen eingeschlossen werden, abnormales Sexualverhaltensweisen die Regel sein.«* Besonders dümmlich wird es immer dann, wenn es um Sheas Kollegen Vaclav Polacek geht. Der ist Tscheche, trägt den Spitznamen »Votsy« und tätigt Ausrufe wie »Bei Sankt Wenzel!«. Teil der Handlung ist er nur deshalb, damit er sich in jeder Situation wie ein vollkommener Idiot verhalten kann. Seine Kollegen nennen ihn »the Rubber Czech« – ein Wortspiel mit einem rubber cheque oder geplatztem Scheck, das in der deutschen Übersetzung gnädigerweise verloren geht.

Kurz gesagt: In meinen Augen wäre es für ein Buch wie dieses ein Glücksfall, vergessen zu werden. Schon allein deshalb, weil es schade wäre, wenn das Gesamtwerk Fletcher Pratts hinter diesem schlechten Witz verschwinden würde.

* Ich zitiere die deutsche Übersetzung von Bernd W. Holzrichter. Das Original liegt mir derzeit leider nicht vor.

Montag, 25. September 2017

Gibt es die faschistische Fantasy? (Zwischenstand)

Teil 1 · Teil 2 · Teil 3 · Teil 4

Es ist Zeit für eine kurze Rekapitulation. Die Frage ist immer noch, wie faschistische Fantasy aussehen und woher sie kommen könnte. Dabei habe ich die Bezeichnung Fantasy aus Gründen der Griffigkeit gewählt. Angemessener wäre es, von mythopoetischer Literatur zu sprechen.* Bisher habe ich mich vor allem mit den nationalsozialistischen Neo-Mythen sowie der völkischen und nazistischen Rezeption der germanischen Mythologie befasst. Das wird auch noch weitere Auseinandersetzung erfordern. Ich möchte aber von jetzt an den Argumentationsgang gelegentlich unterbrechen, um ich einzelnen Autor_innen und Werken zuzuwenden.

Bisher kamen folgende literarischen Strömungen, Traditionen und Einflüsse vor:

1. Märchen

Nur beiläufig erwähnt habe ich, dass in der Weimarer Republik eine äußerst lebendige Märchenszene existierte. Im Dritten Reich kam die Märchenproduktion fast zum Erliegen. Ihre Nachfolge wurde von einer »ideologischen Rezeption des Volksmärchens« angetreten, die in ihm »Zeugnisse nordischer Weltanschauung« entdecken wollte.** Einzelne nationalsozialistische Autoren, die dennoch eigene Märchen schrieben, waren Hans Friedrich Blunck, Hermann Stehr und Will Vesper. Diesen spezifisch völkischen Märchen wird noch Aufmerksamkeit zu schenken sein.

2. Heftromane

Im Dritten Reich gab es abenteuerlich-phantastische Heftromanserien. Als Beispiel habe ich Sun Koh, der Erbe von Atlantis von Paul Alfred Müller alias Lok Myler genannt. Es hat sich gezeigt, dass die angebliche Herkunft der arischen ›Rasse‹ aus Atlantis fast so etwas wie ein Glaubensartikel im Nationalsozialismus war. Zudem war Müller/Myler nur allzu gern bereit, seine Serie entsprechend der ideologischen Vorgaben des Regimes zu gestalten. Dennoch war die angeblich jugendschädigende Wirkung von Heftromanen fester Bestandteil der NS-Propaganda.

3. Die Welteislehre

Die Welteislehre (WEL) oder Glazialkosmogonie ist eine pseudowissenschaftliche Doktrin, die von dem österreichischen Ingenieur Hanns Hörbiger entwickelt wurde. Sie behauptet, das Universum sei aus Eis als Urstoff entstanden. Führende Repräsentanten des NS-Regimes, insbesondere Heinrich Himmler, förderten die Welteislehre nach Kräften. Auf Grundlage der WEL entstanden im Dritten Reich verschiedene phantastische Romane. Diese konnten sich als Wissenschaft im unterhaltsamen Gewand darstellen und wurden offenbar auch so rezipiert. Einen zentralen Autor aus der WEL-Bewegung habe ich bereits genannt: Edmund Kiss. Auf ihn und sein Werk möchte ich noch detaillierter eingehen.

(Es geht weiter.)

* In den 1930er Jahren entwickelten J. R. R. Tolkien und C. S. Lewis den Begriff Mythopoeia für die Art von Literatur, die heute Fantasy genannt wird.
** Mathias Meyer/Jens Tismar, Kunstmärchen (Sammlung Metzler 155), Stuttgart/Weimar ³1997, 150.

Freitag, 8. September 2017

Modern Fairy Tales: John Ruskin

Einen Moment Aufmerksamkeit bitte für meine Reihe über das Oxford Book of Modern Fairy Tales. Im letzten Eintrag ging es um Nathaniel Hawthorne. Nun einige Worte über The King of the Golden River or The Black Brothers von John Ruskin.

Ruskin schrieb dieses Märchen 1841 für die damals zwölfjährige Effie Gray, die Ruskin später heiratete. In Buchform veröffentlicht wurde es erst 1851. The King of the Golden River stellt mich an dieser Stelle vor ein Problem: Es wäre viel (sehr viel) darüber zu sagen, was hier nicht möglich ist, ohne den Rahmen zu sprengen. Ich beschränke ich deshalb, anders als in den vorhergehenden Einträgen, auf ein paar allgemeine Hinweise und gebe keinen Interpretationsversuch von Ruskins Text. Zu John Ruskins Leben und Werk, sozialgeschichtlich eingebettet, empfehle ich den zweiten Teil der auf Skalpell und Katzenklaue erschienenen Artikelreihe über den romantischen Antikapitalismus.

Mein Vorgehen rechtfertige ich zudem damit, dass The King of the Golden River eines der Werke ist, das man am besten zunächst einfach liest, wenn man es in die Geschichte des modernen Kunstmärchens und der Fantasy einordnen möchte. Die Bezüge springen ins Auge, deshalb gebe ich nur einige thesenhafte Hinweise:
  1. The King of the Golden River ist, viel mehr als die meisten anderen Kunstmärchen, vom Vorbild der Brüder Grimm geprägt. Es lässt sich als Versuch lesen, dem Ton des folk-haften, den die Grimmschen Märchen in die Literatur eingebracht haben, so nahe wie möglich zu kommen.
  2. Ruskin selbst verfasste später ein Vorwort zu einer englischen Ausgabe der Grimmschen Märchen, in dem er eine distanzierte Haltung zum Kunstmärchen einnimmt, das nie wirklich an das ›echte‹ Märchen herankommen könne. Indem er selbst zunächst ein Kunstmärchen verfasste, konterkarierte Ruskin also seine eigene Haltung.
  3. Mit vielen heutigen Märchenforscher_innen gehe ich davon aus, dass die strikte Unterscheidung zwischen Volks- und Kunstmärchen nicht aufrecht erhalten werden kann. Es gibt immer eine Überlieferung auf der einen Seite, den Beitrag kreativer Individuen (ob man sie namentlich kennt oder nicht) auf der anderen Seite.
  4. Ruskin war aber einer richtigen Sache auf der Spur. Kunstmärchen wirken schnell gekünstelt, wenn sie sich ignorant gegenüber der Folklore verhalten. Das Kunstmärchen wie die Fantasy leben davon, dass sie ihre Schlösser aus echten Steinen bauen, wie Daniel Kehlmann es einmal auf den Punkt brachte.
  5. Von besonderem Interesse für die nachfolgende Geschichte der Fantasy ist, dass in The King of the Golden River mit South West Wind, Esquire eine Gestalt auftaucht, die bereits (gerade in ihren Umgangsformen) an die exzentrischen Mentorenfiguren Tolkiens wie Gandalf und Bombadil erinnert – übernatürliche Helfer, die stets Rat wissen, aber auch ihre eigenen verborgenen Pläne wirken.
Und eine persönliche Anmerkung zum Schluss: Zwerge! In The King of the Golden River tritt ein Zwerg auf. Ich bin ein kleiner Zwergenfan.

Hier findet man The King of the Golden River im Project Gutenberg. Nächstes Mal geht es weiter mit Frances Browne.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.