Wenn man mich fragt,* ist das Problem mit der Fantasy in Deutschland weniger, dass es keine talentierten Schriftsteller_innen gäbe, sondern eher, dass wenig Raum für ambitionierte Projekte besteht.Wird an einem solchen Projekt getüftelt, ist es oft schwer, es auch zum Abschluss zu bringen: Ein groß angelegter Zyklus wie die Gezeitenwelt-Romane von Bernhard Hennen, Thomas Finn & Co. wurde nach den ersten fünf Bänden auf Eis gelegt. Micha Pansis hochinteressante Daimonentrilogie, eine epische Fantasy vor postapokalyptischem Hintergrund, wurde nie fortgesetzt. Da ist es nicht verwunderlich, wenn solche Projekte in der deutschsprachigen Fantasy noch einen vergleichsweisen Seltenheitswert haben.
Näher liegt es für viele Autor_innen daher sicherlich, statt großer, komplex angelegter und mythologisch unterfütterter Zyklen auf die bewährte Formel »1 Idee = 1 Buch« zurückzugreifen. Eine zündende Idee soll dann konsequent den ganzen Roman tragen, Charaktere und Handlungselemente zieht man rein nach dem Funktionalitätsprinzip heran und widmet ihnen ansonsten keine weitere Aufmerksamkeit. Dem ersten Band von Thomas Plischkes gemeinsam mit Ole Johan Christiansen entwickelten Zyklus Die Zerrissenen Reiche kann man das dagegen kaum vorwerfen. Der Roman ist ein wahres Feuerwerk an Ideen und Spannungstriggern.
Zentral für Plischkes und Christiansens Weltenbau ist der Versuch, einem verbreiteten Lapsus der Sekundärwelt-Fantasy eine fundierte Alternative entgegenzusetzen: Die typische Zwergenkultur in der generischen Fantasy ist technologisch hochentwickelt, aber seltsamerweise völlig randständig, was politischen und ökonomischen Einfluss angeht. Die typischen Fantasy-Menschenvölker stagnieren dagegen meist irgendwo zwischen Früh- und Hochmittelalter,** dominieren aus unerklärlichen Gründen aber trotzdem die gesamte terra cognita. Diesem bedauerlichen Mangel an Materialismus setzen Plischke und Christiansen ein nicht nur technologisch höchst fortgeschrittenes, sondern auch politisch hegemoniales zwergisches Gemeinwesen entgegen.
Im auf einem polaren Kontinent angesiedelten Zwergenbund haben die »Kurzbeine« ein industrielles Paradies errichtet, in dem Arbeitsethos, Pflichterfüllung und Dienst an der Gemeinschaft groß geschrieben werden. Politisch ist der Zwergenbund eine eigentümliche Mischung aus preußelndem Sozialismus und Ständegesellschaft: Einerseits gibt es ein starkes Gemeinschaftsgefühl, andererseits kommt viel darauf an, welcher Familie man angehört und in welche Gesellschaftsschicht man hineingeboren wird. Das »Brudervolk« der Halblinge (mit einer nicht ganz durchsichtigen Vergangenheit ausgestattet) kontrolliert die Bürokratie auf unangefochtene Weise, und die ebenfalls von den Halblingen unterhaltene Geheimpolizei, die Gestapo-ähnliche Bundessicherheit, bringt von Anfang an ein Element des Schreckens in die vorgeblich so wohlgeordnete Gesellschaft.
Südlich des Zwergenkontinents liegen die titelgebenden Zerrissenen Reiche, die von Menschen bewohnt werden. Hier gibt es keinen vergleichbar strammen Fortschritt. Die politischen Entitäten zerfleischen sich gegenseitig in nicht endenwollenden Kriegen und Auseinandersetzungen. Den Begründungszusammenhang für das Blutvergießen liefert die in unzählige Sekten zersplitterte Religion der Menschen, der »Herrenglaube«. Zahlreiche Menschen sind vor den Religionskriegen auf der Flucht und versuchen, in den Zwergenbund zu migrieren, wo sie sich Arbeit und Wohlstand erhoffen oder auch einfach nur ihr Überleben auf etwas würdevollere Art organisieren wollen. Es muss kaum erwähnt werden, dass sie stattdessen mit Rassismus und Ausbeutung konfrontiert werden. Jede Menge Konfliktstoff also. Nicht ganz klar geworden ist mir beim Lesen dieses ersten Bandes übrigens, ob die kriegerischen Auseinandersetzungen unter den Menschen genuiner Fanatismus sind, oder ob es sich eher um religiös kaschierte ökonomische und politische Verteilungskämpfe handelt.
Zur Story des Auftaktbandes, Die Zwerge von Amboss: Garep Schmied, ein vom Leben gebeutelter Großstadtbulle, wird an den Schauplatz eines Mordes gerufen, der nicht der einzige bleiben soll. Garep stößt schnell darauf, dass die Morde lediglich ein Mittel zum Zweck sind: Sie sollen den im Zwergenbund lebenden Menschen untergeschoben werden, um sie unter Generalverdacht zu stellen und einem bevorstehenden Krieg gegen die Zerrissennen Reiche die nötige ideologische Unterfütterung zu verleihen. Garep ist jedoch zu eigensinnig, das Spiel widerspruchslos mitzuspielen, und ermittelt auch dann auf eigene Faust weiter, als die Morde offiziell bereits menschlichen Täter_innen angelastet wurden. Zum Verhängnis wird ihm dabei sein ambitionierter Kollege Bugeg, der bis zur Schädeldecke angefüllt ist mit fanatischen Ideen über die zwergische Überlegenheit. Diejenigen, die hinter den Kulissen die Fäden ziehen, merken nämlich alsbald, dass Bugeg sich hervorragend als willfähriges Werkzeug für ihre Pläne eignet.
Das zugrundeliegende Garn ist also das vom zynischen, aber aufrichtigen Schnüffler, der gegen seinen Willen in einen höchst urbanen Strudel aus Politik, Gewalt und Verbrechen gerät, bis er alle drei nicht mehr zu unterscheiden vermag. Auch für den Plot gilt: Viele Autor_innen hätten sich auf die Formel »1 Idee = 1 Buch« zurückgezogen. Bei Plischke blieb es jedoch nicht dabei, Hardboiled-Motive für die Fantasy zu verwursten. Hinzu kommen nämlich noch verschiedene Rollenspielelemente, die hier und da in die Handlung gepackt werden, und mit dem Monsterjäger Siris von Wolfenfurt wird ein zentraler Charakter eingeführt, der als spielerisch-klischeehafte Hommage an typische Fantasy-Maskulinismen gelten kann. Als ob es damit nicht genug wäre, hat sogar – wann hat es das zuletzt gegeben? – ein waschechter mad scientist einen zentralen Auftritt.
Solcher Anspielungen zum Trotz ist die Grundstimmung des Romans eher ernst und düster, wie zum Ende hin immer deutlicher wird. Nur spaßige Unterhaltung will dieser Zwergenroman nicht sein. Das große Thema, das sich im Hintergrund abzuzeichnen beginnt, ist nichts geringeres als die Transformation eines politischen Systems in eine von Rassismus, Intrige und Paranoia geprägte Diktatur.
Geschildert wird all dies auf eine Weise, die stets Lust zum Weiterlesen macht. Mir scheint, dass dieser erste Band zwar seinen eigenen Spannungsbogen hat, vorrangig aber zur Aufstellung des Figurenensembles und zur Andeutung der großen Erzähllinien und Motive dient. Stichwort Andeutungen: Erschwert wurde mir die Lektüre der Zwerge von Amboss dadurch, dass allzuviele Geschehnisse im Halbdunkel bleiben, zahlreiche mysteriöse Charaktere eingeführt werden und man gelegentlich das Gefühl hat, der Plot in seiner Vordergründigkeit stehe etwas unverbunden vor den sich nur schemenhaft abzeichnenden Entwicklungen im Hintergrund der geschilderten Sekundärwelt. Man erfährt als Leser_in des ersten Bandes nicht so viel über Welt und Story, wie man sich das gewünscht hätte. In diesem Fall würde ich aber bedenkenlos sagen: Ein Grund mehr, sogleich zum zweiten Band zu greifen, in dem man hoffentlich mehr erfährt!
Die Zwerge von Amboss von Thomas Plischke (492 Seiten) ist 2008 bei Piper erschienen.
* Mich fragt natürlich niemand. Aber man verzeihe mir diese rhetorische Schwäche.
** Wobei dies nicht hundertprozentig zutreffend ist. Häufig blühen – wie seltsame Pilze – mitten in der Dark-Age-Pastorale renaissanceartige Städte auf, deren materielle Existenzgrundlage in der Regel unklar bleibt.
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