Wanja stand plötzlich direkt vor dem Diener, packte ihn am Kragen seines Gewandes und hob ihn mühelos hoch. Es war nicht zu erkennen gewesen, wie er von seinem Schlafplatz dorthin gekommen war. Den dazwischen liegenden Raum schien er nicht durchquert zu haben [...] er schleuderte den Diener zu Boden [...] Wanja stapfte hoch erhobenen Hauptes davon, während er sich sein Schwert wieder auf den Rücken band.Für mich Karl-May-Nerd ist es doch herzerwärmend, wenn ich einen Fantasy-Roman aufschlage und der Held sich gleich auf den ersten Seiten ganz im Stil eines Kara Ben Nemsi vorstellt. Wollte ich den ersten Band von Heike Korfhages canis lupus niger in einem Satz beschreiben, dann folgendermaßen: Es handelt sich um einen klassischen Abenteuerroman in der Tradition des 19. Jahrhunderts, der in einer Fantasy-Welt spielt.
Die Sekundärwelt von canis lupus niger ist dabei durchaus eine generische. Die Handlung des ersten Bandes spielt sich nahezu ausschließlich im – an das europäische Mittelalter angelehnten – Mittländischen Reich ab. Westlich davon gibt es ein Land, in dem die Pferdezucht als höchste Kunst gilt. Weit im Osten liegt Rajastan mit seinen märchenhaften Reichtümern, und hoch droben leben die Nordmänner in ihren Langhäusern. So viel sei an dieser Stelle nur gesagt, um einen groben Eindruck zu vermitteln, denn das eigentlich Interessante liegt im Detail.
Korfhages Held heißt Wanja Bajarin. Er stammt aus dem Nomadenvolk der Amudaren, welches östlich des Mittländischen Reiches lebt. Ihre Namen haben einen slawischen Klang, sie können hervorragend reiten und verfügen über ausgefeilte Kampfkünste, die sich in jedem Kung-Fu-Film sehen lassen könnten. So weit, so bekannt. Die Beschreibung scheint bis zu dieser Stelle den Eindruck zu vermitteln, als handele es sich um den neuesten Aufguss eines ausgetretenen Fantasy-Motivs: kampfwütiger, naturverbundener Barbar aus dem Osten gelangt in eine pseudo-mittelalterliche (oder gern auch pseudo-antike) Kultur und mischt diese kräftig auf. Man erzähle mir nicht, dass dieses beliebte Schema aus den heutigen epischen Fantasies, mit all ihren Grautönen und ihrer Komplexität, völlig verschwunden sei. Mit George R.R. Martins Khal Drogo und R. Scott Bakkers Cnaiür wurde es sogar eher wieder aufgewärmt.
Korfhage stellt dieses Klischee – welches mit tiefsitzenden kulturalistischen Vorstellungen darüber, was typisch »westlich« und »östlich« ist, korrespondiert – allerdings geschickt auf den Kopf: Ihre Amudaren leben in einem hochentwickelten, egalitär geprägten Gemeinwesen. Ihr Protagonist Wanja ist geradezu eine wandelnde Enzyklopädie, hochintelligent und jeder Situation gewachsen. Nach einem Zerwürfnis mit seinem Vater durchwandert er auf der Suche nach Bildung und Abenteuern die Welt und weiß höchstens eins nicht, nämlich was er mit seiner Zukunft anfangen soll. So ziemlich das Gegenteil zum archetypisch tumben Barbaren also, und auch nicht gerade der »edle Wilde«, wie er im Buch steht. Im Gegenteil, Wanja durchquert auf dem Weg zu den Pferdezüchtern des Westens das Mittländische Reich, in welchem der hochgebildete »Fremde« bestaunt wird wie ein Alien. In dem pseudo-mittelalterlichen Land liegt einiges im Argen: Die Barone schinden ihre Leibeigenen, die Dörfer sind vom Krieg verwüstet, überall grassiert die Korruption, Frauen sind rechtlos und werden aus dynastischen oder wirtschaftlichen Erwägungen verheiratet.
Auf seiner Reise wird Wanja in den Versuch des mittländischen Königs Karl, einen aufständischen Lehnsmann zu bezwingen, verwickelt und berät ihn, wie die Kampfhandlungen möglichst schnell zu beenden sind. In den sich anschließenden Wirren wird Valeria, eine junge Adelige, von fliegenden Ungeheuern entführt. Wanja nimmt ohne zu Zögern die Verfolgung auf und begibt sich in die lange und abenteuerliche Unternehmung, Valeria zu befreien und in ihre Heimat zurückzubringen. Natürlich verliebt er sich dabei, nur um sogleich von seiner Vergangenheit, in der es einige Finsternisse gibt, eingeholt zu werden.
So viel zur Haupthandlung, über die zwecks Spoilervermeidung nicht zu viel gesagt werden soll. Sie dient auch eher als eine Art übergreifender Hintergrundplot, an dem wie Perlen auf einer Schnur zahlreiche kleinere Episoden aufgereiht sind, in denen Wanja sich ein ums andere Mal in teilweise recht alltäglichen Angelegenheiten als Held beweisen muss. Korfhage schildert diese Episoden mit beträchtlicher Liebe zum Detail, so dass ich gerne in den Roman eingetaucht bin und mitgefiebert habe. (Überhaupt war es ganz angenehm, nebenbei gemerkt, mal eine Fantasy zu lesen, in der nicht gleich die ganze Welt zu retten ist.) Es ist vor allem diese Erzählweise, die Haupthandlung als Anlass und Hintergrund für allerhand Abenteuer zu nutzen – die eigentlich nur barocke Ausschmückung sind, andererseits aber auch den Reiz des Buches beträchtlich verstärken –, die mich eingangs zu dem Vergleich mit der oft ganz ähnlich angelegten klassischen Abenteuerliteratur angeregt hat.
Für mich ist Der Fremde zugleich das gekonnte Auf-den-Kopf-Stellen eines nervigen Fantasy-Klischees und eine nette Erinnerung an Leseerlebnisse von Karl May bis C.S. Forester. Klar dürfte aber auch sein, dass Der Fremde ein Roman ist, der einem Haufen Erwartungen, die aktuell vielleicht gängiger sind als meine, genau nicht entspricht. Korfhages Romandebüt konterkariert vieles, was in der Fantasy derzeit angesagt ist. So sind z.B. breit aufgefächerte Handlungsverläufe mit einer Vielzahl von Viewpoint-Charakteren heute die Regel, wohingehen Korfhage in jedem Moment ihren Protagonisten Wanja in den Mittelpunkt stellt. Gut und Böse sind klar unterschieden. Magie, ja reine Fantasy-Elemente überhaupt, setzt die Autorin sehr sparsam ein. Mir gefällt das, aber ob es derzeit gängigen Fan-Interessen entspricht? Korfhages Vorgehen stellt die in Deutschland sehr eifersüchtig überwachte Grenzziehung zwischen historischem Mittelalterroman und Fantasy in Frage, und viele Leser_innen wissen es nicht unbedingt zu goutieren, wenn ihre Erwartungen an ein Genre nicht erfüllt werden.
In jedem Fall hat die Autorin sichtlich Spaß daran, so zu erzählen, wie sie es in Der Fremde tut. Darin liegt ihre Stärke, und ich hoffe sehr, dass sie gerade mit ihrer Eigenständigkeit viele begeisterte Leser_innen findet. Schwächen des Romans sehe ich persönlich eher darin, dass Wanja Bajarin dazu neigt, im Verlauf der Handlung ein zu starker Held zu werden, der in jeder Gefahr souverän bleibt. Seine Schwächen sind eher die Personen um ihn herum – sei es, dass er sie missversteht; sei es, dass sie durch ihn in Gefahr geraten. In der Tat liegt ein auffälliger Kontrast zwischen Wanjas Geschicklichkeit und Intelligenz einerseits und seiner Naivität in Bezug auf die Entscheidungen und Motive der weiteren Charaktere andererseits, der manchmal die Glaubwürdigkeit der Geschichte zu gefährden droht. Insgesamt ist Der Fremde jedoch ein Debütroman, zu dem der Autorin zu gratulieren ist.
Obwohl Der Fremde mehr oder weniger in sich abgeschlossen ist, bleibt der Haupthandlungsfaden offen. Was hinter dem Rätsel von Valerias Entführung steht, deutet sich zwar an, ist aber am Ende noch nicht aufgelöst. Die Autorin schreibt gerade am zweiten Band von canis lupus niger, auf den ich mich sehr freue.
Der Fremde von Heike Korfhage (521 Seiten) ist 2009 im Noel-Verlag erschienen.
4 Kommentare:
Hallo, Anubis,
dass mich Deine unglaublich schmeichelhafte Rezension sehr bewegt und beglückt hat, weißt Du bereits. Ich hätte niemals erwartet, für mein objektiv mit so vielen Schwächen behaftetes Debütwerk jemals so lobende Worte zu lesen. Leider habe ich Deine E-Mail Adresse nicht mehr. Ich hatte ja versprochen, sie nicht zu archivieren oder weiter zu verkaufen, erinnerst Du Dich? ^^
Aber nun habe ich die Fortsetzung fertig und es zeichnet sich nicht ab, dass sie jemals gedruckt wird. Trotzdem würde ich Dir gerne ermöglichen, sie zu lesen, ... natürlich nur, wenn Du möchtest. Vielleicht bereitet es Dir ja Freude, und das würde ich gerne erreichen, um mich ein wenig dankbar zu zeigen. Falls Du Interesse hast, kontaktiere mich gerne über meine HP oder E-Mail.
Ganz herzliche Grüße
Heike
Hallo,
freut mich, dass meine Rezension als so schmeichelhaft empfunden wird. Ich habe dabei schon eher das herausgestellt, was mir gefallen hat, und mich nicht zu lange mit den natürlich auch vorhandenen Schwächen aufgehalten, aber ich fand das Buch einfach gut und wollte das genau so rüberbringen (gut ganz ohne mitgedachtes »für einen Debütroman« übrigens). Insofern besteht kein Grund zur Dankbarkeit, die liegt ganz meinerseits.
P.S.: Ich melde mich demnächst per Mail.
Nur eine kurze Anmerkung:
Band zwei von canis lupus niger wird 2012 vom Wiener KOIOS Verlag, der neuen Fantasy-Tochter des Praesens-Verlages herausgebracht.
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