Montag, 2. Mai 2011

Kraken

China Miévilles Kraken ist weniger die Geschichte eines Monsters, als vielmehr die Geschichte von Menschen, die mit Monstern machen, was sie wollen – und meistens machen sie sie zu Göttern. Hier einige Andeutungen zur Handlung des Buches:

Billy Harrow macht Führungen in einem Londoner Naturkundemuseum, dem Darwin Centre. Größte Attraktion – nun ja, oberflächlich (!) betrachtet die einzige – ist ein präparierter Riesenkalmar (Architheutis dux). Das beeindruckende Biest verschwindet eines Tages spurlos. Billy, der den Diebstahl entdeckt hat, wird von einer Polizeibehörde in die Mangel genommen, die für übernatürliche und okkulte Fälle zuständig ist. Er erfährt, dass es in London eine Church of God Kraken gibt, die den verschwundenen Kopffüßer als Gott verehrt. Von da an verschwindet Billy mit Haut und Haaren im brodelnden Magie-Untergrund der Metropole. Schmerzhaft bekommt er am eigenen Leibe zu spüren, dass Tattoo, der Chef eines okkulten Verbrechersyndikats, mit allen Mitteln nach der präparierten Gottheit sucht; und plötzlich scheinen alle hinter dem Tintenfisch her zu sein. Nicht nur die Kirche, sondern auch die Okkult-Bullen und der Orden der Londonmancers (der sich eigentlich völlig neutral der thaumaturgischen Pflege des Stadtkörpers und der Orakelschau der Londoner Eingeweide widmet – ja, das ist durchaus wörtlich zu verstehen) ahnen, dass der Kopffüßer ein Ende (έσχατον) über die Stadt bringt, sein Verschwinden das Vorspiel zur Apokalypse ist. Ähm, richtig, ein Ende unter mehreren möglichen. Wir leben bekanntlich in einer pluralistischen Gesellschaft, und in einer solchen kann es durchaus konfligierende Vorstellungen vom Ende der Zeiten geben …

Miéville ist vielleicht einer der beeindruckendsten Schriftsteller der letzten zehn Jahre. Für mich wird dies in folgender Weise besonders deutlich: Es gibt Autor_innen, die alle zwei Jahre ein gutes Buch abliefern. Man liest die Neuerscheinungen dieser Autor_innen nicht unbedingt sofort, weil man weiß, was man an ihnen hat. Ihre Bücher kann man sich für den geeigneten Lesemoment aufsparen, wenn man Lust und Muße hat. Andere Autor_innen sind dagegen immer wieder für eine Überraschung gut. Man neigt mitunter dazu, ihre Bücher fasziniert anzulesen, um sie eine Weile beiseitezulegen und später mal wieder darin zu blättern. Anders Miéville. Ein Buch von ihm wird man keinesfalls mit dem Werk einer anderen Person verwechseln. Man verschlingt es und hat das Gefühl, es noch viele Male lesen zu wollen.

Kraken ist erklärtermaßen eine Hommage an Nerd-Kultur(en), und Miéville verarbeitet darin Ideen, die normalerweise höchstens noch für einen beiläufigen Witz taugen: die Sonderabteilung der Polizei, die sich mit übernatürlichen Kriminalfällen befasst. Der Star-Trek-Fanartikel, mit dem man plötzlich ›in echt‹ Leute umnieten kann. Nicht witzig? Lies mal Kraken, dann reden wir weiter. Geht man über solche nerdigen Gedankenblitze und Hoffnungsschimmer hinaus, entwickelt dieser Roman Miévilles eine ob ihres Scharfsinns beeindruckende Tiefendimension. Dass diese Geschichte in einer wahnwitzigen dialektischen Einheit aus Stil und Plot, Form und Inhalt, Theologie und materialistischer Wissenschaft erzählt wird, bringt Miévilles kluge Gedanken über Erfahrungen des Heiligen, über den Klassenkampf und was beide miteinander zu tun haben erst richtig zum Vorschein.* Theologisch gesehen seit langem die einfallsreichste und anregendste Verarbeitung des Themas Religion, die mir in der Fantasy untergekommen ist. Besser noch als Pullmans diesbezüglicher Versuch, würde ich behaupten. Und dass dieser hier von einem Marxisten stammt, bringt gleich doppelt Spaß. Gerade deshalb für mich ein Roman, den man nicht einmal, sondern viele Male genießen kann.

Zwei Dinge, die mir aufgefallen sind, habe ich noch nicht untergebracht, will sie aber nicht unerwähnt lassen:
  • Miéville hat finsterste Schurkengestalten geschaffen. Wenn man mit nuancierten, tragischen Bösewichtern übersättigt ist, sollte man sich dieses Buch vornehmen und Goss & Subby aus vollstem Herzen hassen lernen.
  • In einer Hinsicht hat ist Kraken nahezu ein Wunder zu nennen: Ich bin der Überzeugung, dass es gewöhnlicherweise nur eine definitive Geschichte zu einer bestimmten Idee gibt – Ausnahmen sind gerade deshalb sehr begehrt bei mir. Der Normalfall sieht aber eher so aus: Nach Harry Potter habe ich eigentlich keine Lust mehr, weitere Zauberschulen literarisch zu erkunden.** Und warum sollte ich mich mit weiteren Romanen über Verschwörungstheorien und Okkultismus abmühen, wenn ich Das Foucaultsche Pendel gelesen habe. Ähnliches könnte auch in diesem Fall gelten, denn mit Neverwhere hat Neil Gaiman bekanntlich eines seiner besten Bücher geschrieben und die Idee, dass sich im Londoner Untergrund Monster und Magie tummeln, rundum gelungen umgesetzt. Und gerade deshalb spricht es für sich, dass Miévilles Kraken, obgleich auf einem ganz ähnlichen Konzept beruhend, kein bisschen langweilig, vorhersehbar oder schon-mal-dagewesen ist.
Fazit: Miéville schafft es, gleichermaßen sich selbst und andere zu übertreffen. Damit lege ich Kraken allen ans Herz, die’s noch nicht gelesen haben, und wünsche allen anderen viel Vorfreude auf Embassytown!

Kraken: An Anatomy (509 Seiten) ist 2010 bei Del Rey erschienen.

* Die hier gelobte Klugheit hindert Miéville leider nicht daran, sich in anderer Hinsicht mit Überzeugung zum absoluten Deppen zu machen. Das betrifft in meinen Augen hauptsächlich seine Boykottaufrufe gegen Israel.
** Ersichtlich aus meinem misslungenen Leseversuch von Jenny Nimmos erstem Charlie-Bone-Buch.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.