Dienstag, 30. Mai 2023

The Finders

Die Satanic Panic ist aktuell wie eh und je. Als hätte es den Taxil-Schwindel, die moralische Panik um Kindertagesstätten in den USA der achtziger Jahre und die Debatte um Erinnerungsverfälschung nie gegeben, blühen heute Verschwörungserzählungen über den angeblichen Satanismus der »globalen Eliten«. In der Schweiz decken Fernsehjournalist*innen auf, wie in psychiatrischen Kliniken Menschen manipuliert und gegen ihren Willen festgehalten werden, um sie vor der Entführung durch (der Phantasie entsprungene) satanische Kulte zu schützen. In Deutschland berichten das Y-Kollektiv, Vollbild und der Spiegel (mit Bezahlschranke) über ähnliche Vorkommnisse. 

Das alles gab es schon vor 40 Jahren in den USA und vor 30 Jahren in Deutschland, könnte man sagen. Aber es ist eben noch nicht vorbei. Und damals wie heute passiert es Menschen, die an der Existenz hochgeheimer, übermächtiger, einflussreicher Satanskulte zweifeln, dass sie zur Antwort ein »Und was ist mit den Finders?« bekommen. Um diese ominöse Gruppierung soll es hier gehen.

Am 4. Februar 1987 erhielt die Polizei von Tallahassee in Florida einen Anruf: Auf einem Spielplatz beaufsichtigten zwei Männer eine Gruppe von sechs Kindern beim Spielen. Die Kinder wirkten verwahrlost. Sie waren hungrig, schmutzig und übersäht mit Flohstichen. Die beiden Männer hatten dagegen ein gepflegtes Äußeres. Von der Polizei in Gewahrsam genommen, behaupteten die Männer, sie seien Lehrer und begleiteten die Kindergruppe zu einem Internat für Hochbegabte in Mexiko – offenkundig eine frei erfundene Geschichte. Es war die Hochzeit der Satanic Panic, und die beiden Männer waren sich wahrscheinlich sehr bewusst, dass sie des Kindesmissbrauchs und des human trafficking verdächtigt wurden. Nachdem einer der beiden noch versuchte, einen Ohnmachtsanfall vorzutäuschen, gaben sie schließlich zu, aus Washington D.C. gekommen zu sein. Dort fänden sich auch die Eltern der Kinder.
 
Auf diese Weise begann eine der bizarrsten Episoden in der Geschichte der Satanic Panic. An ihr lässt sich zeigen, wie das Gerücht des Satanic Ritual Abuse (SRA) – im deutschen Sprachraum meist rituelle Gewalt genannt – durch Einzelpersonen befördert wurde, die bereits mit Verschwörungsdenken und der Satanic Panic vertraut waren. Ebenso spielte es eine Rolle, dass die mit der Satanic Panic verbundenen Phantasien bereits weit verbreitet waren und gewissermaßen ›in der Luft lagen‹.

So richtig ins Rollen kamen die Ereignisse, als die Polizei von Tallahassee gegenüber der Presse behauptete, die Kinder seien sexuell missbraucht worden. Zu diesem Zeitpunkt hatte noch keine gründliche medizinische oder psychologische Untersuchung der Kinder stattgefunden. Als später ein von der Floridaer Gesundheitsbehörde bestellter Arzt die Kinder begutachtete und erklärte, sie wiesen zwar Anzeichen von Verwahrlosung auf, Hinweise auf Missbrauch habe er jedoch nicht erkennen können, korrigierte die Polizei ihre Aussage. Da war es aber schon zu spät. Die Geschichte, in Tallahassee sei ein Fall von organisiertem Missbrauch aufgeflogen, war in die Welt gesetzt.

Von der Polizei befragt, erklärten die Kinder, ihre erwachsenen Aufsichtspersonen gehorchten einem Mann, den sie den »Game Caller« nannten. Die Metropolitan Police von Washington D.C., die in den Fall eingeschaltet wurde, konnte mit diesem Hinweis offenbar etwas anfangen. Der »Game Caller« war Marion Pettie (1920–2004), der charismatische Gründer einer Kommune, die sich The Finders nannte. Pettie vertrat eine Art Weltanschauung des learning by doing. Selbst Autodidakt und Schulabbrecher, war er überzeugt, dass sich Wissen und Erfahrung nur durch Ausprobieren gewinnen ließen. Schon Ende der dreißiger Jahre hatte er begonnen, nach Gleichgesinnten zu suchen. In Fahrt kamen die Finders zu Beginn der siebziger Jahre, als zahlreiche Menschen auf der Suche nach alternativen Lebensformen waren.

Pettie verglich den Menschen mit einem Schnellkochtopf: Sein Potential könne er nur entfalten, wenn man Druck in ihm aufbaue. Und Menschen unter Druck setzen, war eine Fertigkeit, die Pettie vorzüglich beherrschte. Er erteilte seinen Anhänger*innen Aufträge, die er als »games« bezeichnete. Wer von Pettie zu einem »game« aufgerufen wurde, hatte sofort alles stehen und liegen zu lassen und den Auftrag auszuführen. Ein »game« konnte beinhalten, eine Stelle in einem weit entfernten Bundesland anzunehmen. Es konnte auch beinhalten, sich mit nur zwei Stunden Vorlaufzeit in einen Passagierflug nach Japan einzubuchen, einen Eindruck von der japanischen Kultur zu gewinnen und wieder nach Washington zurückzukehren.

Die Finders sahen sich als Mitglieder einer Familie. Geld wurde in eine Gemeinschaftskasse eingezahlt. Die Kinder wurden nicht zur Schule geschickt und gemeinschaftlich erzogen. In der Praxis hieß das, dass sie weitgehend auf sich allein gestellt waren, sich meistens draußen aufhielten und manchmal sogar unter freiem Himmel schliefen. Man kann sich also gut vorstellen, warum die sechs Kinder von Tallahassee so vernachlässigt wirkten. Allerdings ist weder 1987 noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt nachgewiesen worden, dass es bei den Finders sexuellen Missbrauch gab. Sicherlich werden einige Finders-Kinder mit ihren Eltern, die sie in diese Gruppe schleppten, später ein Hühnchen zu rupfen gehabt haben. Insgesamt scheint es ihnen aber nicht besser oder schlechter ergangen zu sein als Kindern in anderen zeittypischen Kommune-Experimenten.

Die Finders sind also eher nicht mit Gruppierungen wie dem Peoples Temple oder den Children of God gleichzusetzen. Tatsächlich waren sie bis 1987 weitgehend unter dem Radar geflogen und wurden selbst von Sekten-Expert*innen für harmlos gehalten. Dazu trug wahrscheinlich bei, dass die erwachsenen Finders (im Unterschied zu den Kindern) betont ›seriös‹ in dunkle Anzüge gekleidet auftraten und wenig redeten. Aber 1987 kippte diese Wahrnehmung in ihr genaues Gegenteil: Wortkarge Männer in Anzügen, die umherreisten und mit geheimnisvollen Aktivitäten beschäftigt waren? Und dabei auch noch Kinder mit sich schleppten? Stoff für eine Verschwörungserzählung. Außenstehende konnten ja nicht wissen, dass das emsige Tun der Finders lediglich aus Petties abstrusen »games« bestand.¹

Dank der phantasievollen Öffentlichkeitsarbeit der Polizei von Tallahassee kam es in der Presse zu Spekulationen, der mysteriöse »Game Caller« sei das Oberhaupt eines satanischen Kults, der Kinder entführte, Gehirnwäsche² praktizierte und Menschenopfer darbrachte. Wie gesagt, die Satanic Panic lag in der Luft. Die Metropolitan Police in Washington D.C. wollte da nicht untätig erscheinen. Im Garten eines Finders-Hauses im Stadtteil Glover Park fanden die Beamten einen Ring aus Steinen, den sie offenbar sofort als Ritualstätte interpretierten. Ausgrabungen wurden vorgenommen, um die Überreste der vermeintlichen Menschenopfer zu finden – vergeblich. Und die Finders behaupteten hartnäckig, mit Satanismus nichts am Hut zu haben.

Als die Behörden anschließend ein Lagerhaus der Kommune in Washington durchsuchten, sahen sie sich dann aber doch in all ihren Befürchtungen bestätigt. Sie stellten nicht nur fest, dass die Finders eine erstaunliche Anzahl von Computern besaßen.³ Sie fanden auch ein Fotoalbum mit kinderpornografischen Aufnahmen und solchen, die Erwachsene und Kinder beim gemeinschaftlichen Schlachten von Ziegen zeigten. Damit schien nun alles klar zu sein: Die Finders waren in organisierten Missbrauch verwickelt und feierten Rituale mit Kindern, bei denen Ziegen geopfert wurden. Satanisch!

Zu diesem Zeitpunkt meldeten sich allerdings die Mütter der Kinder von Tallahassee zu Wort. Sie waren vorübergehend zum Arbeiten nach Kalifornien gereist (zweifellos eines von Petties »games«) und hatten ihre Kinder in der Obhut der Kommune in Washington zurückgelassen. Die beiden Männer, die in Tallahassee verhaftet worden waren, hatten unterdessen die Idee gehabt (oder waren von Pettie dazu gebracht worden), mit den Kindern einen »Abenteuerurlaub« in Florida zu machen. Die Ziegen waren von der Gruppe geschlachtet worden, um sie zu essen. Die Kinder seien dabei gewesen, weil man ihnen beibringen wollte, dass das Schlachten und Essen von Tieren nichts ist, was man leichtfertig tun sollte. Die Frauen zeigten auch die angeblichen kinderpornografischen Aufnahmen: Fotos von Kommune-Kindern, die in der Badewanne planschen.

Die beiden inhaftierten Männer wurden freigelassen. Die Kinder wurden ihren Müttern zurückgegeben. Die beteiligten Behörden räumten kleinlaut ihren Irrtum ein. Das hätte es gewesen sein können. Und doch war es erst der Anfang.

An den Hausdurchsuchungen beteiligt war Ramon Martinez, ein Beamter des US Customs Service. Der war offenbar unzufrieden damit, dass die Finders so einfach davonkommen sollten. Er verfasste ein Memorandum voller Tippfehler und wüster Anschuldigungen gegen die Kommune.⁴ Es hätten sich, so Martinez, zahlreiche Unterlagen gefunden, die die Verwicklung der Finders in großangelegten Menschenhandel und Devisenschmuggel belegten. Jedoch wollte keiner der anderen Zoll- und Polizeibeamten, die bei den Durchsuchungen zugegen waren, sich Martinez’ Vorwürfen anschließen. Nach Beweisen gefragt, behauptete Martinez schließlich, die belastenden Unterlagen seien nicht mehr einsehbar. Die CIA habe den Finders-Fall zur Verschlusssache erklärt.

Für Anhänger*innen der Satanic Panic müssen Martinez’ Ausführungen unwiderstehlich gewesen sein: Eine öffentlichkeitsscheue Gruppierung. Von ihren Eltern getrennte Kinder. Abgeschnittene Ziegenköpfe. Ein ausgefeiltes Computernetzwerk. Und jetzt schien auch noch die CIA in die Sache verwickelt zu sein. Waren die Finders etwa eine Tarnorganisation des Geheimdienstes und mit dessen Hilfe dem Gefängnis entgangen? Die CIA stritt ab, etwas mit der Kommune zu tun zu haben. Doch wer glaubt schon der CIA?

Unwiderstehlich fand die Sache auch ein Privatdetektiv aus Florida, Skip Clements. Er war bereits an den Ermittlungen gegen den Leiter einer Montessori-Schule, dem ritueller Missbrauch vorgeworfen wurde, beteiligt. Clements fügte Martinez’ Behauptungen noch eine eigene hinzu: In dem Lagerhaus der Finders in Washington (bei dessen Durchsuchung Clements gar nicht zugegen war) habe sich ein voll ausgestattetes Studio zur Herstellung von Pornofilmen befunden. Der Verdacht gegen die Finders ließ Clements offenbar nicht los. 1993 (über sechs Jahre nach dem Vorfall in Tallahassee) legte er zwei Mitgliedern des Repräsentantenhauses Martinez’ Memorandum vor und überzeugte sie, eine offizielle Untersuchung durch das FBI zu fordern.
 
Mit Erfolg. Das FBI befindet sich traditionell in einem verbissenen Konkurrenzkampf mit der CIA. Die G-Men machten sich mit Begeisterung an die Aufgabe, Verbindungen zwischen Finders und CIA aufzudecken. Und noch jemand zeigte sich begeistert: Marion Pettie.

Die Finders erholten sich nicht von den Verdächtigungen, die 1987 gegen sie erhoben (und unweigerlich Goatgate genannt) wurden. Zum Zeitpunkt ihrer Konfrontation mit der Satanic Panic hatte die Kommune etwa 40 Mitglieder. Doch bald darauf verließen die meisten Frauen die Gruppe und nahmen ihre Kinder mit. Verständlicherweise. Pettie, der »Game Caller«, reagierte darauf mit zunehmend autoritärem Gebaren. Das vergraulte weitere Mitglieder, die die Gruppe verließen. Bald kam es zu Streitereien um Finanzen, die auch vor Gericht landeten. In den neunziger Jahren befanden sich die Finders in Auflösung. Pettie gab das Hauptquartier der Kommune in Washington auf und zog mit einer kleinen Schar von Getreuen in seinen Heimatort Culpeper in Virginia um.

Kurz vor dem endgültigen Aus der Finders hatte Pettie jedoch einen letzten großen Auftritt. Dass ihm Kontakte zum Geheimdienst nachgesagt wurden, schmeichelte ihm offenbar. Und er offenbarte, dass es tatsächlich eine Art Kontakt gab: Petties verstorbene Frau Isabelle war einige Jahre lang Mitarbeiterin der CIA gewesen. Die Neugierde, was der FBI-Bericht sonst noch zu Tage fördern würde, stieg.

Doch die Untersuchung, als sie beendet war, konnte nicht mit dramatischen Enthüllungen aufwarten. Isabelle Petties Tätigkeit für die CIA (ein weiteres »game«?) lag Jahrzehnte zurück. Darüber hinaus hatte das FBI nur feststellen können, dass einige CIA-Leute Computerkurse bei einer Firma belegt hatten, die zeitweilig ein Mitglied der Finders bei sich beschäftigte. Belege für Menschenhandel, rituellen Missbrauch, Opferzeremonien oder Kinderpornographie fanden sich auch diesmal nicht. Statt dessen hielt der Bericht fest, dass es bei den 1987er Ermittlungen gegen die Finders keine Einmischungen irgendwelcher Geheimdienste gab. Seit 2019 sind die FBI-Akten zu den Finders zum größten Teil öffentlich einsehbar

Die Mythen um die die Finders haben sich indessen längst verselbständigt. Bis heute werden sie in den immer wieder aufflackernden Auseinandersetzungen um Satanismus, rituellen Missbrauch und Mind Control als Beleg angeführt, dass es so etwas tatsächlich gibt: Mächtige, bestens vernetzte Kulte mit Überschneidungen zur organisierten Kriminalität und zum Geheimdienstmilieu. Auch in Deutschland existiert diese Vorstellung bis heute. Denn schon wenige Tage nach dem Zwischenfall in Tallahassee meldeten deutsche Zeitungen, dass in Florida gegen eine »Satanssekte« ermittelt werde. Und noch 1997 nannte Luise Mandau, laut Autorinnenporträt »eine der führenden deutschen Sekten-Expertinnen«, in ihrem Buch Satanismus. Die neue Bedrohung wie selbstverständlich die Finders-Kommune als Beispiel für real existierenden Satanismus.

Wie kam es dazu, dass sich um ein paar Dutzend Ex-Hippies mit zweifelhaften Erziehungsmethoden ein solcher Mythos bildete? Die entscheidende Verantwortung liegt bei den Polizeibehörden von Tallahassee und Washington D.C. Beide setzten vorschnell Behauptungen in die Welt, die sie anschließend wieder zurücknehmen mussten: In Tallahassee ging es um sexuellen Missbrauch und Menschenhandel, in Washington um blutige Opferrituale und Kinderpornografie. Die Vermutung liegt nahe, dass die Polizei in beiden Fällen bereits von der im Zuge der Satanic Panic entstandenen Stimmung beeinflusst waren. Bis heute sehen Verschwörungsgläubige den Ablauf der Ereignisse als Indiz dafür, dass die beiden Polizeibehörden einer brisanten Wahrheit auf der Spur waren, die kurz darauf unterdrückt wurde.

Nach Einstellung der Ermittlungen 1987 waren es zwei Einzelpersonen, die weitere Verschwörungserzählungen um die Finders verbreiteten, der Zollbeamte Ramon Martinez und der Privatdetektiv Skip Clements. Ersterer behauptete, bei den Durchsuchungen der Finders-Immobilien Beweismittel gesehen zu haben, die später von der CIA unterdrückt wurden. Der zweite spann Martinez’ Geschichte weiter aus und schaffte es schließlich, Kongressabgeordnete und in der Folge das FBI für die Finders zu interessieren. Flankiert wurde diese immer weiter eskalierende Entwicklung von der Berichterstattung in den Medien, die wie selbstverständlich von einem »Satanic cult« bzw. einer »Satanssekte« sprachen.

Aber wie viele Verschwörungserzählungen krankt auch die um die Finders an ihrer schieren Unmöglichkeit: Hätte es wirklich etwas zu ›unterdrücken‹ gegeben, dann hätten das Tallahassee Police Department, das Florida Department of Health, das Metropolitan Police Department, der US Customs Service, die Virginia State Police und das FBI sich an der Vertuschung beteiligen müssen. Schließlich waren all diese Behörden in die Ermittlungen von 1987 und 1993 involviert. Und von allen beteiligten Personen hätte nur eine einzige, Ramon Martinez, die Wahrheit ausgeplaudert, während alle anderen eisern schwiegen.

Die Finders waren, wie schon erwähnt, bereits Anfang der Neunziger in Auflösung begriffen. Marion Petties Tod im Jahr 2004 dürfte das endgültige Ende der Gruppe bedeutet haben – sofern es sie da überhaupt noch gab. Der Verschwörungsmythos um die Finders hat sich schon lange zuvor vom selbsternannten Game Caller und seinen Spielchen abgelöst und verselbständigt.

¹ Es liegt auf der Hand, dass es sich dabei um eine typische Methode charismatischer Scharlatane handelt, die nicht nur von Pettie angewendet wurde. Wer ständig beschäftigt ist, hat keine Zeit, sich die Frage zu stellen, ob er einem Schwindel aufgesessen ist.
² Damals sagte man noch Gehirnwäsche statt Mind Control.
³ Die Finders hatten ihre Computer über das Telefonnetz miteinander verbunden und kommunizierten per E-Mail. Für die achtziger Jahre eine erstaunliche Leistung, denn es handelte sich bei den Finders ja nicht um IT-Profis. Die Tatsache, dass sie sich in ihren Mails in einem kryptischen Kommune-Jargon austauschten, machte sie in den Augen der Ermittlungsbehörden natürlich nur noch verdächtiger.
⁴ Der Stil des Dokuments lässt vermuten, dass Martinez eine Affinität zum Verschwörungsdenken hatte.


Weiterführende Links

Montag, 23. Januar 2023

Tales Before Tolkien: Ludwig Tieck

In seiner Anthologie Tales Before Tolkien: The Roots of Modern Fantasy (2003) unternimmt Douglas A. Anderson den ambitionierten Versuch, Tolkien in eine literarische Tradition zu stellen. Kein selbstverständliches Unterfangen, denn von Tolkien wird ja gern behauptet, er habe die moderne Fantasy im Alleingang erfunden. Bei mir rennt Anderson damit offene Türen ein, denn ich bin schon seit längerer Zeit der Auffassung, dass die moderne Fantasy mit dem deutschen romantischen Kunstmärchen beginnt. Dieses wanderte, vermittelt durch Thomas Carlyle und andere, im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nach England und entfaltete dort ein Eigenleben, wie es in der recht kurzen Epoche der deutschen Romantik allein kaum möglich gewesen wäre.

Der Beweis für diese These sind umfangreiche Veröffentlichungen wie Popular Tales and Romances of the Northern Nations (1823, übersetzt u.a. von Thomas de Quincey)¹ und German Romance (1827, herausgegeben von Carlyle). Diese und andere präsentierten Erzählungen z.B. von Hoffmann, Fouqué, Tieck, Musäus dem englischen Publikum und hatten (neben Übersetzungen von Grimms Märchen) einen profunden Einfluss auf Autoren wie John Ruskin und George MacDonald, aber auch auf Charles Dickens.

Tolkien seinerseits war zwar äußerst misstrauisch gegenüber Versuchen, ›Quellen‹ und ›Einflüsse‹ seines Werks zu identifizieren. Das hat nicht wenige Fans und Nachahmer*innen in ihrer Überzeugung bestärkt, Tolkien habe den Hobbit und den Lord of the Rings quasi aus dem Nichts erschaffen. Er selbst hat dergleichen aber nie behauptet, sondern war sich der Tatsache bewusst, dass er Teil einer Tradition war. Er nannte in diesem Zusammenhang u.a. Lord Dunsany, Andrew Lang, William Morris, MacDonald und die Brüder Grimm. Oft stand Tolkien deren Werken ausgesprochen ambivalent gegenüber. Anfängliche Bewunderung konnte bei ihm in heftige Ablehnung umschlagen. Um so schwerer wiegt, dass Tolkien sich dennoch zu ihnen als Vorläufer bekannte.

Natürlich will ich damit nicht behaupten, dass das Ganze ein monokausaler Vorgang war. Denn zum einen wurden Kunstmärchen nicht nur von Deutschen geschrieben. Hans Christian Andersen war in der englischen Literaturwelt seiner Zeit ebenso beliebt oder noch beliebter. Zum anderen müsste man präziser sagen, dass es hier in erster Linie um das geht, was heute High Fantasy genannt wird. Die Sword and Sorcery hat andere Wurzeln, nämlich im viktorianischen »Lost Civilization«-Genre. Drittens ist das Kunstmärchen nicht der alleinige Ursprung der High Fantasy. Adam Roberts z.B. argumentiert, dass dem historischen Roman Walter Scotts einige Bedeutung bei der Entstehung des Genres zukommt (allerdings eine verdrängte, würde ich hinzufügen). Vor allem aber ist es wichtig, bei der Betrachtung des Genres nicht so eurozentrisch zu bleiben, wie es bis heute meist der Fall ist. Der neben dem LotR international bedeutsamste Fantasy-Roman der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Ich würde stets und ohne zu zögern behaupten, dass diese Position Amos Tutuolas Palm-Wine Drinkard zukommt.

Einige der Geschichten, die Douglas Anderson für Tales Before Tolkien gesammelt hat, haben bei mir ein paar thinky thoughts ausgelöst. Dabei will ich mich nicht zu jedem einzelnen Beitrag äußern, sondern nur ein paar Bemerkungen zu Dingen machen, die mir aufgefallen sind.

Die Anthologie beginnt mit »Die Elfen« (»The Elves«) aus Ludwig Tiecks Phantasus (1812). Zu beachten ist, dass Anderson nicht nur solche Werke aufgenommen hat, die Tolkien nachweislich beeinflusst haben. Es geht ihm daneben auch allgemeiner um die Darstellung der Tradition, die zu Tolkien geführt hat:
Some of the stories that I have chosen can be seen specifically to have inspired Tolkien, and these connections are detailed in the headnotes to the appropriate stories. I have also selected some stories whose content seems especially Tolkienian, even though there is little or no evidence that Tolkien knew the writers. And I have also chosen other stories that Tolkien almost certainly did not know in order to show some of the diversity of fantasy as it existed before The Hobbit.
»Die Elfen« gehört zur dritten Gruppe, würde ich annehmen. Anderson hat sie ausgesucht, weil sie seinem Geschmack nach das beste (oder eines der besten) deutsche Kunstmärchen ist. In meinen Augen ist das beste deutsche Kunstmärchen überhaupt Der goldne Topf. Ich würde auch behaupten, dass allein unter den Erzählungen Tiecks »Die Elfen« nicht die beste ist. Die Atmosphäre des Erhabenen, der Waldeinsamkeit, die Tieck so gut erzeugen konnte, kommt in Geschichten wie »Der blonde Eckbert« und »Der Runenberg« besser zum Tragen.

Aber Anderson kommt es auf etwas anderes an. Er sieht »Die Elfen« als Beispiel für Tolkiens Auffassung von Faërie als »perilous realm« oder Reich der Fährnisse, das man nicht durchwandern kann, ohne sich Gefahren auszusetzen. Die Geschichte der kleinen Marie, die sich unter den Elfen aufhält und bei ihrer Rückkehr in die Menschenwelt entdeckt, dass sie sieben Jahre fort war, eignet sich dafür gut, kein Zweifel. Und dass Tieck das Elfenmotiv mit sozialem Außenseitertum verknüpft, macht die Geschichte gleich noch mal interessanter.²

Obwohl ich mich Andersons Bewertung von »Die Elfen« nicht ganz anschließen kann, finde ich seine Wahl nachvollziehbar. Zudem ist die Geschichte sowohl in den Popular Tales and Romances als auch in Carlyles German Romance vertreten, was sehr schön den Zusammenhang verdeutlicht, den ich oben zu beschreiben versucht habe. Eine andere Frage ist, ob Tolkien selbst Tiecks Darstellung der Elfen gefallen hätte. Wie ungnädig er in dieser Sache sein konnte, ist bekannt. In Bezug auf Tiecks Erzählung werden wir es leider nicht erfahren.

¹ Der Titel ist auffällig, denn die drei Bände dieser Anthologie enthalten ausschließlich Erzählungen aus Deutschland. Aber von einer »German Nation« zu reden sah man damals offenbar noch keinen Anlass, schon gar nicht im Singular. Die Anthologie enthält übrigens auch eine der ersten Vampirgeschichten, »Wake Not the Dead« von Ernst Raupach.
² Der landwirtschaftliche Reichtum von Maries Dorf beruht auf der Anwesenheit der Elfen. Trotzdem werden sie von den meisten Dorfbewohner*innen als arbeitsscheu und kriminell abgetan.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.