Freitag, 21. Juli 2017

Phantastik vs. Fantasy: Erste Runde

Auf Twitter entspann sich ein Gespräch über Alessandra Reß’ amüsantes Glossar »Die Fee ist immer da: Genres der Phantastik«. Dabei stellte jemand die Frage, was denn eigentlich mit der old school supernatural fiction sei – also jenem Genre, das in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft als Phantastik bezeichnet wird, und zwar meist in einem exklusiven Sinn.

Man weiß ja, was gemeint ist: Die Erzählungen von Le Fanu, Poe, Blackwood, Machen, Lovecraft und anderen, neben einigen Werken der französischen Literatur wie Gautiers »Clarimonde« und Maupassants »Horla«. Das Problem ist nur, dass diese Literatur unter einem halben Dutzend verschiedener Bezeichnungen kursiert: In Frankreich nennt man sie conte fantastique (wovon sich das deutsche Wort Phantastik herleitet), auf Englisch waren mal Bezeichnungen wie weird story oder strange story gebräuchlich. Lovecraft schlug supernatural horror vor, verbreitet hat sich aber eher supernatural fiction (zumindest bei denen, die sich nicht für eine der anderen Bezeichnungen entschieden haben). Aber keiner dieser Begriffe ist wirklich in die deutsche Alltagssprache eingegangen.

Ist hierzulande außerhalb von literaturwissenschaftlichen Kreisen von Phantastik die Rede, dann wird dieses trügerische Wort meistens als eine Art Oberbegriff verwendet: Unter Phantastik fasst man verschiedene Genres wie Fantasy, Science Fiction und Horror zusammen. So wird es ja auch in Alessandra Reß’ Text gemacht. (In den USA ist es üblich, als Oberbegriff für Fantasy, SF und Horror von Speculative Fiction zu sprechen. Das ist aber höchst irreführend, denn ›spekulativ‹ ist eigentlich nur die SF.) Auch mit der Verwendung von Phantastik als zusammenfassende Bezeichnung für die Trias Fantasy, SF und Horror gibt es ein Problem: Während Fantasy und SF Genres sind, trifft das auf Horror nicht wirklich zu. Horror ist ein Begriff der Ästhetik, nicht der Poetik. Ästhetisch gesehen sind Terence Fishers Dracula, Roman Polanskis Rosemary’s Baby und William Friedkins The Exorcist Horror, genremäßig sind sie Fantasy. Ganz ähnlich ist Ridley Scotts Alien ästhetisch Horror und genremäßig SF, oder Jonathan Demmes Silence of the Lambs ästhetisch Horror, aber genremäßig ein Thriller. Fantasy, SF und Horror auf eine Ebene zu stellen, ist, als würde man Aprikosen, Erdbeeren und Obstkerne auf eine Ebene stellen.

Nun tritt die Literaturwissenschaft auf und verkündet, die Alltagssprache sei ohnehin verworren und untauglich, klare Definitionen zu treffen. Notwendig sei eine präzise Bestimmung der Phantastik in Abgrenzung zu anderen Genres. Ziemlich lange hat es in Frankreich nämlich niemand für nötig gehalten, eine wünschenswert präzise Definition von fantastique abzugeben. Den ersten wirklich folgenreichen Versuch dieser Art unternahm der Literaturwissenschaftler, Herausgeber und Übersetzer Roger Caillois 1966 in seinem Buch Images, Images. Darin findet sich ein Kapitel, das in der deutschen Übersetzung »Das Bild des Phantastischen« heißt.*

Caillois bestimmt kategorisch: »Es ist notwendig, die Eigenheiten des Phantastischen aus einer Konfrontation mit denen des Märchens zu bestimmen.« Er operiert also mit zwei Kategorien, dem Phantastischen und dem Märchen, die in Opposition zueinander stehen. Wie sieht diese Opposition aus?
Das Märchen ist ein Reich des Wunderbaren, das eine Zugabe zu unserer Alltagswelt ist, ohne sie zu berühren oder ihren Zusammenhang zu zerstören. Das Phantastische dagegen offenbart ein Ärgernis, einen Riß, einen befremdenden, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt.
Wenn wir ein Märchen lesen, meint Caillois, dann wissen wir, dass wir uns in einer fiktiven Welt bewegen, in der alles wunderbar und mithin nichts real ist. In einem gewissem Sinn hat Caillois recht. Im Märchen kann alles passieren: Menschen verwandeln sich in Tiere und wieder zurück, ohne dass dies große Überraschungen auslöst. Aber zugleich irrt sich Caillois total. Im Märchen ist keineswegs alles wunderbar. Ich skizziere kurz eine typische Märchenhandlung: Ein Kind lebt in einer Holzfällerhütte und wird von seiner Stiefmutter misshandelt. Die Hütte liegt am Rand eines tiefen Waldes. Das Kind flieht in den Wald, wo es auf sprechende Tiere und Hexenhäuser trifft. Am Ende könnte das Kind feststellen, dass im Herz des Waldes die Elben leben und dass es ein lang vermisster Sprössling des Elblands ist. Nun lesen wir das Märchen in einem deutlichen Abstand zur Zeit seiner Entstehung. Wir sind an industrielle Holzverarbeitung gewöhnt und ein Vater, der bemerkt, dass sein Kind von der Stiefmutter misshandelt wird, würde sich im Normalfall schleunigst scheiden lassen. Deshalb kommen uns die Holzfällerhütte und die böse Stiefmütter fast ebenso wunderbar vor wie die Hexen und sprechenden Tiere. In der Zeit, in der das Märchen vermutlich entstanden ist, gehörten Holzfällerhütten und böse Stiefmütter jedoch zum Alltag, die Hexen und sprechenden Tiere dagegen nicht. C. S. Lewis hat das klar erkannt. Im Vorwort zu seinem Roman That Hideous Strength schreibt er:
Ich habe dieses Buch ein Märchen genannt, in der Hoffnung, daß der Verächter phantastischer Erzählungen [...] nicht zum Weiterlesen verführt werde, um hinterher zu klagen, wie sehr er enttäuscht sei. Wenn Sie mich fragen, warum ich – wenn ich über Magier, Teufel, pantomimische Tiere und planetarische Engel schreiben will – dennoch mit so faden Szenen und Personen beginne, dann antworte ich, daß ich damit nur der Form des herkömmlichen Märchens folge. Wir erkennen diese Form nicht immer, weil die Hütten, Schlösser, Holzhacker und Kleinkönige für uns ebenso fernliegend geworden sind wie die Hexen und Ungeheuer, zu denen das Märchen hinführt. Doch den Menschen, die sie ersannen und die sich zuerst daran erfreuten, erschienen diese Geschichten ganz und gar nicht fernliegend.
Caillois würde That Hideous Strength wohl dem Phantastischen zuordnen, aber Lewis (der Caillois wahrscheinlich nicht kannte) führt die strikte Unterscheidung von Phantastischem und Märchen auf listige Weise ad absurdum. Einen Unterschied zwischem dem, was Caillois das Phantastische nennt, und dem klassischen Märchen gibt es meines Erachtens durchaus. Nur ist es eben kein kategorischer Unterschied, sondern ein dem Einsatz verschiedener narrativer Techniken geschuldeter. Zur Illustration führe ich eine Geschichte von Joseph Sheridan Le Fanu an: »Das Kind, das mit den Feen ging«.**

Die Geschichte spielt in Le Fanus Gegenwart, im ländlichen Irland des 19. Jahrhunderts. Die Kinder der Witwe Ryan spielen auf der Landstraße. Abends kehren die Kinder zum Haus zurück, aber der kleine Billy fehlt. Die Witwe und ihre älteste Tochter Nell machen sich sofort auf die Suche, ohne Erfolg. Schließlich erhalten sie von den Kindern folgenden Bericht über das Geschehene: Über die Landstraße sei eine prächtige Kutsche gekommen, mit Dienern, die »scharfe Gesichtszüge, kleine, ruhelose, wild dreinblickende Augen« und »ein schlaues boshaftes Lächeln« haben. In der Kutsche sitzen zwei schöne, unheimliche Damen, die den kleinen Billy zu sich locken und mit ihm davonfahren. Für die Witwe Ryan ist der Fall auf schreckliche Weise klar: Billy ist von Feen entführt worden. In der Nähe der Landstraße befindet sich ein Hügel, der nach dem Glauben des Landvolks der Wohnsitz der Feen ist. Sie sieht ihren kleinen Sohn nie wieder.

Diese Geschichte entspricht Caillois’ Definition des Phantastischen: Ein Kind verschwindet spurlos, auf einer Landstraße taucht plötzlich ein Wagen auf, der von übernatürlichen Wesen gefahren wird. Das stellt zweifellos einen »befremdenden, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt« dar. Und doch erzählt Le Fanus Geschichte letztlich nichts anderes als mein hypothetisches Märchen: Ein Kind verlässt sein Zuhause und geht zu den Feen oder Elben. Der Unterschied ist, wie erzählt wird. Im Märchen tritt das Kind schrittweise, mit fast unmerklichen Übergängen in eine andere Welt, das Land der Elben, ein. In Le Fanus Erzählung wird Billy dagegen völlig unversehen aus seinem Alltag gerissen und in eine andere Welt entführt. Die Geschichte wird nicht aus seiner Perspektive erzählt, seine Angehörigen wissen nicht, wie es ihm bei den Feen ergeht. Was im Märchen bezaubernd ist, wirkt bei Le Fanu erschreckend.

Der Eindruck des Risses (um Caillois’ Metapher aufzugreifen), des abrupten Einbruchs des Übernatürlichen entsteht dadurch, dass Le Fanu den Leser_innen vieles vorenthält. Wir bekommen den Feenhügel gar nicht zu sehen. Unser einziger Eindruck von den Feen ist die unheimliche Kutsche mit ihren schönen und schrecklichen Passagierinnen. Das Märchen könnte uns dagegen problemlos einen Einblick ins Land der Elben gewähren (wie etwa The Lord of the Rings einen Eindruck von Lothlórien gewährt). In Le Fanus Geschichte erscheint Billy den anderen Kindern hin und wieder auf geisterhafte Weise. Dabei lächelt er stets. Heißt das, dass es ihm im Feenhügel womöglich sehr gut geht? Wir wissen es nicht, denn zu viel Wissen würde den Eindruck des Abrupten, des Erschreckenden auflösen und ins Märchenhafte hinüberführen. Das Märchen hat keine Schwierigkeiten mit zu viel Wissen. Es lässt sich problemlos zum tausendseitigen Roman mit vielfältigen Beschreibungen des Wunderbaren erweitern. Damit wird es zur typischen High Fantasy. Die Erzählweise Le Fanus dagegen lässt sich kaum über Romanlänge aufrecht erhalten. Sie lebt zu sehr von der Knappheit, die den Eindruck des Mysteriösen erweckt. Nicht umsonst sind Le Fanu, Poe, Blackwood, Machen und Lovecraft, deren Namen ich oben exemplarisch genannt habe, allesamt Meister der kurzen bis mittellangen Erzählung.

Damit könnte man es gut sein lassen und erklären: Caillois hat sich geirrt. Phantastik und Märchen sind keine Oppositionen, sondern zwei Varianten ein und desselben Genres. Leider verlief die Rezeption Caillois’ eher so, dass seine Einsichten ignoriert und seine Irrtümer zugespitzt wurden. Das zeigt sich insbesondere an Tzvetan Todorovs Einführung in die fantastische Literatur (Todorovs Theorie habe ich hier ausführlicher dargestellt). Todorov hat gemerkt, dass zwischen dem, was Caillois als Phantastik bezeichnet, und dem Märchen keineswegs eine klare Opposition besteht. Er stellt deshalb eine andere Opposition auf: Auf der einen Seite steht das Unheimliche, auf der anderen das Wunderbare. Ein Beispiel: Unter einer Brücke wird eine verstümmelte Leiche gefunden. Das wäre unheimlich. Unter der Brücke lebt ein Troll. Das wäre wunderbar. Jetzt tun sich jede Menge Fragen auf: Gibt es den Troll wirklich, oder ist er nur ein Produkt des Aberglaubens? Hat der Troll einen ahnungslosen Passanten unter die Brücke geschleppt und zerrissen? Hat sich ein perfider, aber menschlicher Mörder die abergläubische Vorstellung vom Troll zunutze gemacht, um die Untat zu begehen? Wir wissen nicht, ob etwas Wunderbares (wie im Märchen: ein Troll frisst Menschen) oder etwas nur Unheimliches (ein gewöhnlicher Mord) passiert ist. Dieses Element der Unschlüssigkeit, des Schwankens zwischen zwei möglichen Erklärungen, ist Todorovs zentrales Konzept.

Todorov hätte an dieser Stelle erklären können, das Unheimliche, das Wunderbare und die Unschlüssigkeit (die sich aus dem Wechselspiel von unheimlichen und wunderbaren Erklärungen ergibt) seien allesamt notwendige Kategorien zum Verständnis des Phantastischen. Damit begnügt er sich aber nicht. Vielmehr erklärt Todorov, die Unschlüssigkeit sei das eigentliche Phantastische. Das ist eine verblüffende terminologische Verdoppelung. Wenn Todorov doch schon von Unschlüssigkeit spricht, warum ist es dann notwendig, diese Unschlüssigkeit auch noch als »das Phantastische« (schlechthin) zu bezeichnen? Zumal in der Alltagssprache in einem sehr viel weiteren Bedeutungsumfang von Phantastik gesprochen wird? Todorov meint daraufhin, das reine Phantastische sei eine seltene und flüchtige Form, die meisten Erzählungen, die landläufig phantastisch genannt werden, seien eigentlich Mischformen. Er muss das so sehen, weil er zuvor selbst den Bedeutungsumfang des Phantastischen aufs Äußerste eingeengt hat. Einen Grund für diese Einengung nennt er nirgendwo.

Tatsächlich gibt es nur sehr wenige Erzählungen, die die Unschlüssigkeit bis zum Ende aufrecht erhalten. Die meisten Geschichten lassen früher oder später erkennen, dass entweder ein gewöhnlicher oder ein übernatürlicher Mord stattgefunden hat. Zufälligerweise lässt sich Le Fanus Geschichte als Paradebeispiel für Unschlüssigkeit lesen: Es gibt nur den Bericht der Kinder darüber, was mit Billy geschehen ist. Diesen Bericht interpretiert die Mutter so, dass Billy von den Feen entführt worden sei. Dabei könnte die Mutter aber schlicht ein Opfer des ländlichen irischen Aberglaubens sein. Die Kutsche, die Billy mitgenommen hat, gehört vielleicht einer dekadenten adeligen Dame, die zu irgendwelchen unaussprechlichen Zwecken kleine Kinder verschleppt. Nach seinem Verschwinden erscheint Billy nur den anderen Kindern, niemals der Mutter. Dabei könnte es sich also um kindliche Tagträumerei handeln, angefeuert von den Erklärungen der Mutter über die Feen. Die Geschichte lässt das offen.

Es ist ja wirklich oft so, dass auf den ersten Seiten einer Geschichte solche Fragen eine wesentliche Rolle spielen: Was passiert jetzt? Wohin führt mich die Handlung? Gibt es das Monster wirklich? Aber aus Leser_innenperspektive gibt es nicht wirklich einen Grund dafür, sich bis zum Schluss den Kopf darüber zu zerbrechen, welchen Realitätsstatus gewisse Ereignisse der Handlung haben. Für die allermeisten Leser_innen dürfte die Faszination von Le Fanus Geschichte in den verführerischen, gewissenlosen Feen liegen, in ihren ruhelosen, wild dreinblickenden Augen – und nicht in herablassenden Erörterungen darüber, ob Billys Mutter vielleicht abergläubisch ist.

Wenn in der deutschen Literaturwissenschaft von Phantastik die Rede ist, ist in der Regel das Verständnis dieses Begriffs mal mehr, mal weniger stark von Todorovs Theorie geprägt. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass diese Theorie oft mehr Probleme aufwirft, als sie zu lösen vermag. Todorovs Einengung des Phantastikbegriffs hat nämlich nicht nur Konsequenzen für die formale, sondern auch für die literaturgeschichtliche Einordnung phantastischer Texte. Die Autor_innen, auf die Todorov sich bezieht, stammen zum größten Teil aus dem 19. Jahrhundert. Auch auf die Reihe von Autoren, die ich eingangs aufgeführt habe, trifft das zu (Lovecraft ist in vieler Hinsicht ein zu spät geborener Vertreter des 19. Jahrhunderts). Diese Konzentration auf eine bestimmte Epoche rührt daher, dass Todorovs Definition des Phantastischen auf die meisten Werke, die im 20. Jahrhundert als phantastisch bezeichnet wurden kaum oder gar nicht mehr anwendbar ist. Die angloamerikanische Fantasy etwa ist nach Todorovs Terminologie überhaupt keine Phantastik, sondern gehört zur Kategorie des Wunderbaren.

Häufig wird Todorovs System benutzt, um insgeheim Vorurteile zu pflegen. Dass angloamerikanische Fantasy der MacDonald-Morris-Tolkien-Tradition nach Todorov keine ›richtige‹ Phantastik ist (von Sword & Sorcery ganz zu schweigen), vermischt sich dann mit der verbreiteten Auffassung, Fäntäsie sei ja ohnehin trivial und keiner ernsthaften Betrachtung wert. Schon vor Caillois und Todorov schrieb Louis Vax in seinem Buch L’art et la littérature fantastiques (1960):***
[Es] stammt die phantastische Erzählung oft von einem großen Autor, der sich an ein verfeinertes Publikum richtet. [...] Ein kultiviertes Publikum, obwohl weniger leichtgläubig, weiß aus der reinen Phantastik einen ästhetischen Genuß zu ziehen.
Phantastik wird damit zur Hochliteratur geadelt. Ein einfaches Publikum, weil zu leichtgläubig, ist höchstens in der Lage, aus den unreinen, märchenhaften oder abenteuerlichen Formen des Wunderbaren Genuss zu ziehen. Walter Benjamin entkräftete solche hochmütige Urteile mit dem Hinweis, dass die Literaturwissenschaft noch gar nicht verstanden habe, welchen Nährwert die Romane und Geschichten haben, die vom sogenannten einfachen Volk »verschlungen« werden. (Glücklicherweise hat die Literaturwissenschaft heute durch marxistische Ansätze, Cultural Studies und Rezeptionsforschung einiges dazugelernt.)

Damit genug zu Todorov. Im Vergleich zu Caillois ist er natürlich der systematischere, akademischere Denker. Entsprechend stärker ist der Einfluss seiner Theorie auf die Literaturwisenschaft. Caillois war dagegen der mit den Geistesblitzen, den interessanten Fragen und den brillanten Formulierungen. Seine Metapher vom Riss, der durch die Wirklichkeit geht, ist unübertroffen. Mit dieser Formulierung hat Caillois die Richtung bestimmt, die die kontinentaleuropäische Phantastikdiskussion genommen hat. Sein direkter Einfluss ist weniger in der akademischen Wissenschaft als in der essayistischen Variante der Phantastikdiskussion, wie sie von Rein A. Zondergeld, Kalju Kirde, Martin Roda Becher und anderen geführt wurde. Allen Interessierten, die das (letztlich aporetische) Buch von Todorov nicht lesen mögen, empfehle ich doch die Lektüre von Caillois’ »Bild des Phantastischen«. Es lohnt sich.

Ich rekapituliere: Es gibt so etwas wie eine Poe-Machen-Lovecraft-Tradition (so nenne ich sie jetzt einfach mal verkürzt), die unter verschiedenen Bezeichnungen wie Weird Fiction, Supernatural Fiction etc. bekannt ist oder war. Ausgehend von Frankreich, hat sich im 20. Jahrhundert eine literaturtheoretische Diskussion entsponnen, die diese Tradition mit »dem Phantastischen« oder »der Phantastik« schlechthin gleichsetzt. Dieses Phantastische hat man in Abgrenzung zu anderen Formen, die als märchenhaft oder wunderbar bezeichnet wurden, zu bestimmen versucht. Ich hoffe aber in diesem Text dargelegt zu haben, dass zwischen dem Phantastischen und dem Märchenhaften/Wunderbaren weniger ein Gegensatz als vielmehr ein Verwandtschafts- oder Abhängigkeitsverhältnis herrscht. Dieses halte ich für so stark, dass man m.E. von zwei Subgenres sprechen kann, die gleichermaßen zu einem größeren Genre gehören.

Es gibt aber noch ein weiteres Problem. Zum einen steht immer noch die Frage im Raum, wie man das Kind (also die Poe-Machen-Lovecraft-Tradition) denn nun nennen soll. Zum anderen habe ich oben bereits eine weitere Tradition erwähnt, die ich (wiederum verkürzt) die MacDonald-Morris-Tolkien-Tradition genannt habe. Aus Sicht der Phantastikdiskussion wäre sie wohl mit dem Märchenhaften oder Wunderbaren gleichzusetzen. Das Vertrackte ist nun, dass diese zweite Tradition im angloamerikanischen Sprachraum als High Fantasy oder schlicht Fantasy bezeichnet wird. Es gibt also zwei einander sehr ähnliche Genre-Namen (so ähnlich, dass sie leicht zu verwechseln sind), die jeweils eine der beiden Traditionen bezeichnen – und damit implizit deren jeweiligen Vorrang behaupten.

Wie lässt sich damit umgehen? Kein gangbarer Weg ist es, einfach zu behaupten, das Phantastische und die Fantasy hätten nichts miteinander zu tun und seien durch ihre Gegenstandsbereiche klar voneinander geschieden. Dazu kommt es viel zu häufig vor, dass beide Theoriestränge sich auf den gleichen literarischen Text berufen. Zudem behaupten beide, das Phantastische bzw. die Fantasy hätten ihren Ursprung in der deutschen Romantik, insbesondere bei Ludwig Tieck und E. T. A. Hoffmann. Zeit also für einen weiteren Klärungsversuch.

* Roger Caillois, Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction, in: Rein A. Zondergeld (Hg.), Phaïcon I. Almanach der phantastischen Literatur (Insel Taschenbuch 69), Frankfurt am Main 1974, 44–83.
** Die Erzählung liegt mir leider nur in deutscher Übersetzung vor. Den Originaltitel und -erscheinungsort kenne ich nicht.
*** Vax war in vieler Hinsicht ein Vorläufer Caillois’. Da seine Wirksamkeit aber viel eingeschränkter war, habe ich mich hier auf Caillois konzentriert.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.