Donnerstag, 15. Juni 2017

Men Have Called Him Mad

As we all know, there is a kind of lazy pleasure in useless and out-of-the-way erudition.
— Jorge Luis Borges & Norman Thomas di Giovanni 

Zu Edgar Allan Poes vielen Talenten gehörte auch das Erfinden von Koranversen. So lautet die erste Strophe seines Gedichts »Israfel«:
In Heaven a spirit doth dwell
“Whose heart-strings are a lute;”
None sing so wildly well
As the angel Israfel,
And the giddy stars (so legends tell)
Ceasing their hymns, attend the spell
Of his voice, all mute.
Die zweite Zeile ist als Zitat gekennzeichnet und mit einer Fußnote versehen:
And the angel Israfel, whose heart-strings are a lute, and who has the sweetest voice of all God’s creatures.—Koran.
Damit wird das Zitat als ein Vers (oder Teil eines Verses) aus dem Koran ausgegeben. Allerdings wird im Koran nirgendwo ein Engel erwähnt, dessen Herzfasern eine Laute sind. Aber einfach nur um eine Erfindung Poes handelt es sich dabei auch nicht. Israfil ist neben Dschibril (Gabriel), Michail (Michael) und Israil (Azrael) einer der vier Erzengel im Islam. In der Sure Az-Zumar (der 39. Sure) wird der Tag der Auferstehung beschrieben:
68 Und geblasen wird in die Trompete,
so dass niederstürzt vom Donnerschlag getroffen,
wer in den Himmeln und auf der Erde,
außer denen, die Gott will.
Dann wird ein zweites Mal geblasen in die Trompete
und wahrlich, da stehen sie auf und schauen.
69 Und erstrahlen wird die Erde im Licht ihres Herrn
und vorgelegt wird die Schrift
und herbeigebracht werden die Propheten und Zeugen
und entschieden wird zwischen ihnen nach der Wahrheit
und ihnen wird nicht Übles getan.
In der späteren islamischen Theologie entwickelte sich die Vorstellung, die Trompete des Auferstehungstags werde von einem Erzengel Israfil geblasen. Namentlich erwähnt wird dieser im Koran aber, wie gesagt, nicht. Israfils schöne Stimme und sein Lautenherz sind vermutlich Hinzufügungen Poes. Ich muss gestehen, dass ich mir lange nicht ganz sicher war, ob Israfil nicht doch im Koran namentlich genannt wird. Bei einem anderen angeblichen Koranzitat, das in Poes Werk auftaucht, hatte ich dagegen gleich den Verdacht, dass damit etwas nicht stimmen kann. In einer Fußnote zur Erzählung »The Thousand-and-Second Tale of Scheherazade« heißt es:
The earth is upheld by a cow of a blue color, having horns four hundred in number.”—Sale’s Koran.
»The Thousand-and-Second Tale of Scheherazade« ist eine Parodie auf Tausendundeine Nacht, und keine gelungene. In der Tat würde ich behaupten, dass diese Geschichte in Poes Werk (auf das ich sonst nichts kommen lasse) einen Tiefpunkt darstellt. Sie wird durch eine Herausgeberfiktion eingeleitet, derzufolge eine bislang unbekannte Episode aus Tausendundeiner Nacht aufgefunden wurde, in der Scheherazade eine achte Reise Sindbads beschreibt. Sindbad begegnet lauter Wundern, die zwar größtenteils real sind (z.B. Charles Babbages Differenzmaschine und ein Heißluftballon), der König aber für ganz und gar unglaubwürdig hält. Nur an einer Stelle, als Scheherazade erzählt, Sindbad sei der blauen Kuh mit vierhundert Hörnern ansichtig geworden, die die Erde auf ihrem Rücken trägt, bemerkt der König:
That, now, I believe,” said the king, “because I have read something of the kind before, in a book.”
Die Implikation ist, dass der König im Koran davon gelesen hat. Die Übersetzung des Orientalisten George Sale erschien 1734 und war lange Zeit die wichtigste englische Koranübersetzung. Das Poe-Zitat enthält sie natürlich nicht. Während also Poes erstes erfundenes Koranzitat noch einen Anknüpfungspunkt im Text hat, ist das hier nicht mehr der Fall. Die Geschichte endet übrigens damit, dass der König, der schon überlegt hatte, Scheherazade das Leben zu schenken, sie doch noch hinrichtet, weil er glaubt, sie wolle ihm mit ihren Beschreibungen von Heißluftballons und Rechenmaschinen einen Bären aufbinden. Das kann als ironische Warnung des für seine literarischen hoaxes bekannten Poe an sich selbst verstanden werden, es mit der Publikumsveräppelung nicht zu weit zu treiben. Ich halte die Geschichte aber aus zwei Gründen für völlig misslungen: Zum einen basiert sie auf dem dümmlichen Klischee vom abergläubischen und ungebildeten islamischen Despoten. Sie erinnert an die nach wie vor tradierte, aber frei erfundene Anekdote, der Kalif Umar habe 642 die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria befohlen, weil Bücher, die dem Koran widersprächen, schädlich seien, und Bücher, die dem Koran entsprächen, unnütz.*

Zum anderen widerspricht sie der fundamentalen Regel für phantastische Erzählungen, die J. R. R. Tolkien in »On Fairy-stories« aufstellt: »There is one proviso: if there is any satire present in the tale, one thing must not be made fun of, the magic itself.« In Faërie ist sogar eine blaue Kuh mit vierhundert Hörnern möglich, die die Welt auf dem Rücken trägt – so wie in Faërie ja auch eine Schildkröte möglich ist, die vier Elefanten auf dem Rücken trägt, die wiederum die Welt tragen. In der »Thousand-and-Second Tale« kommt die blaue Kuh aber nur vor, um den König lächerlich aussehen zu lassen, und das wird ihr nicht gerecht.

Meine spontane Annahme war, dass Poe die blaue Kuh zwar nicht dem Koran entnommen, sie aber auch nicht selber erfunden hat. Gleichzeitig war ich mir sicher, noch nie an anderer Stelle von dieser Kuh gelesen zu haben. Bis ich zum ersten Mal im Book of Imaginary Beings von Jorge Luis Borges, Margarita Guerrero und Norman Thomas di Giovanni geblättert habe. Darin gibt es einen Eintrag über den Stier Kujata, der die Welt auf seinem Rücken trägt:
In Moslem cosmology, Kujata is a huge bull endowed with four thousand eyes, ears, nostrils, mouths and feet. [...] Kujata stands on the back of the fish Bahamut; on the bull’s back is a great rock of ruby, on the rock an angel, and on the angel rests our earth. Under the fish is a mighty sea, under the sea a vast abyss of air, under the air fire, and under the fire a serpent so great that were it not for fear of Allah, this creature might swallow up all creation.
Das wäre also des Rätsels Lösung. Kujata ist zwar nicht blau und hat auch keine vierhundert Hörner, sondern viertausend Augen, Ohren, Nüstern, Mäuler und Füße. Aber es ist doch unzweifelhaft das Wesen, das auch Poe im Sinn hatte. Nur: Was heißt hier muslimische Kosmologie? Offizielle islamische Theologie ist das nicht. Leider gibt das Book of Imaginary Beings keine Quelle an, aber wahrscheinlich haben die Autor_innen Kujata im Werk des Orientalisten Edward William Lane (1801–76) kennengelernt, den sie in ihrem Buch mehrfach erwähnen.

Lane fertigte eine Übersetzung von Tausendundeine Nacht an, wobei er als guter Viktorianer aber alle Stellen ausließ, die ihm anstößig vorkamen. Das Werk erschien 1840 in drei Bänden. Frühere englische Übersetzungen basierten oft nicht auf dem arabischen Text, sondern auf der französischen Übersetzung Antoine Gallands (1717). Insofern war Lanes Werk wegweisend.** Er erarbeitete zudem einen umfangreichen Kommentar zu Tausendundeiner Nacht. Darin zitiert er einen kosmologischen Bericht des arabischen Geographen Ibn al-Wardi aus dem 14. Jahrhundert, auf dem wiederum der Eintrag im Book of Imaginary Beings beruht.

Aber damit ist das Problem noch nicht gelöst. Lanes Kommentar zu Tausendundeiner Nacht wurde nämlich erst 1883 unter dem Titel Arabian Society in the Middle Ages: Studies from the Thousand and One Nights aus dem Nachlass herausgegeben. Poe kann ihn also nicht gelesen haben. Lanes Tausendundeine-Nacht-Übersetzung mag er gekannt und für seine »Thousand-and-Second Tale« verwendet haben, die 1845 in einer Zeitschrift erschien. Aber woher wusste Poe von der Kuh oder dem Stier mit der Welt auf dem Rücken? War vielleicht schon Lanes Übersetzung mit Anmerkungen versehen, die darauf hindeuteten, oder wird das mythologische Wesen sogar in Tausendundeine Nacht selbst erwähnt? Ab hier weiß ich nicht mehr weiter.

Anzumerken ist außerdem, dass Lane außerdem eine Auswahlübersetzung des Korans anfertigte, die 1843 als Selections from the Kur-án erschien. Auch die kann Poe gekannt haben. Mehr noch: Er mag sich beim Abfassen seiner Geschichte erinnert haben, dass Lane sowohl an Tausendundeiner Nacht als auch am Koran arbeitete, mag deshalb die Information über Kujata dem Koran untergeschoben haben, und zudem Lanes Übersetzung mit der sehr viel bekannteren Übersetzung Sales verwechselt haben – wenn er nicht mit voller Absicht ein bibliographisches Verwirrspiel trieb. Aber das bleibt Spekulation, so lange nicht nachgewiesen ist, dass Poes Quelle Lane war.***

Zum Schluss darf der Hinweis nicht fehlen, dass der Fisch Bahamut, auf dessen Rücken Kujata steht, natürlich das Ungetüm Behemot aus der hebräischen Bibel ist. In Kapitel 40 des Buches Hiob beschreibt Gott verschiedene urzeitliche Monster, die er geschaffen hat:
15 Sieh doch den Behemot, den ich geschaffen habe mit dir
– Gras frisst er wie das Rind –,
16 sieh doch seine Kraft in seinen Lenden
und seine Stärke in den Muskeln seines Bauches!
17 Er reckt seinen Schwanz wie eine Zeder,
die Sehnen seiner Schenkel sind verflochten.
18 Seine Knochen sind Röhren von Erz,
seine Gebeine wie Stangen von Eisen.
19 Er ist der Anfang der Wege Gottes,
wer ihn gemacht hat, reichte ihm sein Schwert.
25 Kannst du den Leviatan an der Angel heranziehen
und mit dem Seil seine Zunge niederhalten?
26 Legst du ihm ein Binsenseil um die Nase,
durchstichst du mit einem Haken seine Kinnlade?
27 Bittet er dich immer wieder um Gnade
oder spricht er zu dir zarte Worte?
[...]
32 Leg nur deine Hand an ihn,
denk an Kampf – das tust du nicht noch einmal!
Der Behemot wird manchmal mit dem Flusspferd oder dem Elefant identifiziert, der Leviatan mit einem Krokodil oder einem Wal. Aber das geht natürlich an der Sache völlig vorbei, ebenso wie wenn behauptet wird, Drachen seien eigentlich Dinosaurier.

* Die Anekdote gehört zu einem Komplex sich hartnäckig am Leben haltender europäischer Legenden über die Zeit der islamischen Expansion, zu der auch die Vorstellung gehört, Karl Martell habe durch seinen Sieg in der Schlacht von Tours und Poitiers (732) im letzten Augenblick die Eroberung Europas durch Muslime verhindert. Noch in den 1970ern nannte sich in Frankreich eine faschistische Terrororganisation, die durch Bombenanschläge vier Menschen ermordete, »Gruppe Karl Martell«.
** Eine vollstänige, nicht bowdlerisierte Übersetzung ins Englische erschien allerdings erst 1885 mit Richard Francis Burtons Book of the Thousand Nights and a Night.
*** Ich habe für diesen Post keine Poe-Sekundärliteratur gesichtet und kann deshalb nicht sagen, ob es darin Weiterführendes gibt.

Keine Kommentare:

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.