Freitag, 23. Juni 2017

Im Eisland

Nach meinem Blogpost über The Frozen Deep lässt mich die Franklin-Expedition, die 1845 zur Entdeckung der Nordwestpassage aufbrach, nicht mehr los. Ich habe beschlossen, weitere Bücher zum Thema zu besprechen. Vor allem aus kanadischer Feder sind zahlreiche Erzählwerke über die fatale Unternehmung in der Arktis erschienen, aber auch deutsche und US-amerikanische Autor_innen haben sich der Franklin-Expedition gewidmet. Tatsächlich erschien bereits 1851 ein Buch in Detroit, dessen Verfasser_in (»William N. Seldon«) sich als Besatzungsmitglied der Terror ausgab und behauptete, nach dem Verlassen des Schiffs »a new and beautiful country, inhabited by a strange race of people« entdeckt zu haben. Noch während die Überlebenden der Expedition sich abmühten, das kanadische Festland zu erreichen, erschien also bereits abenteuerlich-phantastische Literatur über sie. Leider scheint es das Buch weder auf Project Gutenberg noch auf Faded Page zu geben. Ich würde es zu gern lesen.

Ein herausragendes neueres Werk ist Kristina Gehrmanns dreibändige Graphic Novel Im Eisland. Es handelt sich um Gehrmanns Debüt und ist als solches gar nicht genug zu loben. Ich erlaube mir allerdings, nur einige kurze Bemerkungen zum Stil zu machen, um dann darauf einzugehen, wie das Werk sich in die Erzähltradition um Franklin und seine Leute einordnet: Das karge Schwarzweiß der Zeichnungen passt gut zum Thema. Ausbaufähig ist die Darstellung von Gesichtszügen, die mitunter doch arg ähnlich ausfallen (ein Problem, dass sich ja auch bei so etablierten Zeichnerinnen wie Isabel Kreitz gelegentlich findet). Und jetzt schnell zur Erzähltradition, denn eine solche gibt es.

Bestimmte Elemente tauchen in fiktionalen Darstellungen der Franklin-Expedition immer wieder auf; sie finden sich bereits in The Frozen Deep von Wilkie Collins und Charles Dickens (nach dem oben erwähnten Buch des Seldon-Pseudonyms wahrscheinlich das Werk, das am nächsten an den historischen Ereignissen dran ist). Dazu gehören zum einen die Zeichen und Visionen, die die Expedition begleiteten, und zum anderen die umstrittene Rolle der Inuit.

Doch wenn ich umstritten sage, ist das sogleich erklärungsbedürftig. Denn eigentlich haben die Inuit, die in der einen oder anderen Weise mit der Franklin-Expedition in Kontakt kamen, nichts getan, was irgendwie kontrovers sein könnte. Es waren vor allem zwei Forscher, John Rae und Charles Francis Hall, die unter den Inuit systematisch Erkundigungen nach der verschollenen Expedition anstellten. Die Berichte, die sie erhielten, widersprachen sich natürlich in vielen Details, stimmten in den Grundzügen aber überein: Ja, die Inuit hatten Gruppen hungernder weißer Männer gesehen, die zu Fuß nach Süden zogen. Ja, sie hatten ihnen so viel von ihren Lebensmitteln abgegeben, wie sie konnten, aber nein, sie hätten niemals eine so große Anzahl von Menschen ernähren können, ohne sich selbst der Gefahr des Hungertods auszusetzen. Deshalb hatten sie sich, sofern sie nichts zum Teilen besaßen, lieber von den Weißen ferngehalten. Später hatten sie Überreste von Lagerstätten gefunden, in denen sich auch die berüchtigten Zeugnisse für den Kannibalismus befanden, in den die Expedition schließlich verfiel.

Diese Berichte stimmen gut mit dem überein, was man über frühere Kontakte zwischen Inuit und britischen Arktisexpeditionen weiß. Die Inuit bildeten eine friedliebende Gesellschaft. Zu Angriffen auf britische Mannschaften kam es äußerst selten. Wenn doch, dann gingen sie von solchen Inuit aus, die zuvor bereits Feindseligkeiten von auf dem kanadischen Festland lebenden First-Nations-Gruppen erfahren hatten. In der Tat hätte die britische Öffentlichkeit allen Grund gehabt, den Inuit zu danken, denn ohne sie hätte sie noch sehr viel weniger vom Schicksal der Franklin-Expedition erfahren, als es ohnehin schon der Fall war. Auch die materiellen Hinterlassenschaften der Verschollenen, die später von Leopold McClintock (1848) und Frederick Schwatka (1878) gefunden wurden, konnten oft nur lokalisiert werden, weil ihr Standort zuvor von Inuit beschrieben worden war.

Aber es war das Zeitalter des Imperialismus, und natürlich kam es ganz anders. Schnell verbreiteten sich Gerüchte, die Expedition sei von Inuit angegriffen und niedergemetzelt worden. Die Persönlichkeit von Gewicht, die diese Gerüchte befeuerte wie niemand sonst, war ausgerechnet Charles Dickens. 1854 schrieb er mit »The Lost Arctic Voyagers« einen ganz im Ton gelehrter Weltweisheit gehaltenen Essay:
[N]o man can, with any show of reason, undertake to affirm that this sad remnant of Franklin’s gallant band were not set upon and slain by the Esquimaux themselves. It is impossible to form an estimate of the character of any race of savages, from the deferential behaviour to the white man when he is strong. The mistake has been made again and again; and the moment the white man has appeared in the new aspect of being weaker than the savage, the savage has changed and sprung upon him. [...] We believe every savage to be in his heart covetous, treacherous, and cruel; and we have yet to learn what knowledge the white man — lost, houseless, shipless, apparently forgotten by his race, plainly famine-stricken, weak, frozen, helpless, and dying — has of the gentleness of Esquimaux nature.
Im gleichen Jahr, 1854, unternahm ein Angestellter der Hudson’s Bay Company namens John Rae eine Forschungsreise auf der Boothia-Halbinsel in der Arktis. Er erhielt dort von einigen Inuit Auskunft über weiße Männer, die auf King William Island (einer vor der Westküste Boothias gelegenen Insel) verhungert seien. Rae erkannte, dass es sich um die wenige Jahre zuvor verschollene Franklin-Expedition handeln musste, und versuchte so viel wie möglich über die verhungerten Weißen in Erfahrung zu bringen. Außerdem kaufte er den Inuit einige Gegenstände ab, die zur Ausrüstung der Expedition gehört hatten. Was er nicht tat: sich selber auf King William Island zu begeben, um die traurigen Überreste des Unternehmens selbst in Augenschein zu nehmen. Rae war mit Schneeschuhen unterwegs. Hätte er beschlossen, die Insel zu besuchen, wäre das eine äußerst gefährliche und strapaziöse Reise gewesen, die ihn mitten ins Herz des arktischen Archipels geführt hätte.

Statt dessen kehrte Rae ins britisch besiedelte Kanada zurück und übermittelte seine Erkenntnisse so schnell wie möglich an die Admiralität in Lonon. Sein Bericht, der erstmals Hinweise auf Kannibalismus enthielt, löste Entsetzen aus und veranlasste Dickens, zur Feder zu greifen, um »Franklin’s gallant band« publizistisch zu Hilfe zu eilen. Es lässt sich kaum ein größerer Kontrast denken: Rae, ein erfahrener Arktisforscher, war vor Ort gewesen und hatte mit den Inuit gesprochen und sah offensichtlich keinen Anlass, an deren Aussagen zu zweifeln (die ja tatsächlich von späteren Suchexpeditionen bestätigt wurden). Auf der anderen Seite Dickens, der nie in der Arktis gewesen und auch sonst nicht gerade weitgereist war, aber mit der Kraft seiner Überzeugung weiß, dass jeder »savage« habgierig, verräterisch und grausam ist und nur darauf wartet, über hilflose Weiße herfallen zu können.

Es ist genau diese Mentalität des armchair explorers, die viele von der britischen Admiralität organisierte Forschungsreisen zu lebensgefährlichen Angelegenheiten machte. Der zuständige Sekretär der Admiralität, Sir John Barrow, steht geradezu emblematisch für diese Haltung. Barrow liebte es, lange Gedankenspiele über bislang nicht kartographierte Weltgegenden anzustellen und sich detailliert auszumalen, wie deren Klima und Geographie beschaffen seien. Kamen Forschungsreisende mit Ergebnissen zurück, die nicht Barrows Vorstellungen entsprachen, sorgte er dafür, dass sie bei Admiralität und Fachwelt in Ungnade fielen und ihr Leben lang nicht mehr ernst genommen wurden. Die Nordwestpassage und die Theorie vom eisfreien Polarmeer (ich habe sie im vorherigen Post dieser Reihe beschrieben) gehörten zu den fixen Ideen, die Barrow sein Leben lang umtrieben. Sie sorgten dafür, dass hunderte britische Seeleute ihre abgefrorenen Gliedmaßen und ihren Seelenfrieden in der Arktis zurückließen. Ich glaube, es ist dieser ausgeprägte Wille, Phantasie und Realität nicht auseinanderzuhalten, der die Franklin-Expedition zu einem so herausragenden Stoff für phantastische Erzählungen macht – und gleichzeitig ist es der Grund dafür, warum diese Erzählungen so viel über die viktorianische Realität aussagen.

Es ist ja nicht Unwissenheit, die die Zeitgenoss_innen dazu brachte, ihre Illusionen zu pflegen. Dickens etwa wusste, dass es bereits auf einer früheren Expedition Franklins zu Kannibalismus gekommen war. 1819 hatte Franklin die Leitung einer Landexpedition inne, die die Nordküste Kanadas kartographieren sollte. Schnell stellte sich heraus, dass die Reisenden nicht in der Lage sein würden, sich in der nordkanadischen Tundra zu ernähren. Sie begannen, Flechten von Felsen zu kratzen und Stiefelleder zu kochen. Schließlich teilte sich die Expedition in mehrere Kleingruppen auf, die orientierungslos umherirrten. In einer dieser Kleingruppen schlachtete ein Expeditionsteilnehmer namens Michel Terohaute mindestens zwei, vielleicht aber auch vier seiner Kameraden und verfütterte sie an zwei Offiziere, die in einem Zwischenlager zurückgeblieben waren. Terohaute behauptete, überraschend auf Wild gestoßen zu sein. Die beiden, die zuvor wochenlang gehungert hatten, griffen erst zu und stellten dann Fragen (was angesichts der extremen Umstände wohl verständlich ist). Einige Tage später erschossen sie Terohaute, da sie befürchteten, sonst als nächste an der Reihe zu sein.

Für Dickens war der Fall glasklar. Gerade die Tatsache, dass es auf der früheren Expedition zu Kannibalismus gekommen war, bewies eindeutig, dass dies auf der späteren Expedition nicht geschehen sein konnte. Denn Terohaute war für Dickens ebenfalls ein Wilder, »in his heart covetous, treacherous, and cruel«, und in seinem Appetit offenbar ebenso. Terohaute habe seine Untaten begehen können, weil er Irokese sei und die weißen Expeditionsteilnehmer arglistig getäuscht habe. Bei der späteren Expedition habe Franklin es nicht mehr zugelassen, dass ein solches Monster sich seiner »gallant band« anschließt, ergo: kein Kannibalismus mehr. Man könnte meinen, Dickens sah überall Kannibalen. In einem anderen Essay, »Frauds on the Fairies« (1853), wendet sich Dickens gegen bowdlerisierte Märchenbücher. An sich eine ganz richtige Position, aber es ist bemerkenswert, mit welchen Argumenten Dickens für sie streitet: Wenn man jugendfreie Märchenversionen schreibe, könne man ja auch gleich die Kannibalismusszenen aus Robinson Crusoe streichen – wo doch niemand leugnen könne, dass in der Karibik Menschenfresserei betrieben werde.

Ob in der Karibik oder der Arktis, für Dickens waren die »savages« Monster, vergleichbar den menschenfressenden Ogern im Märchen. Und sie bedrohten die britische Zivilisation. Zu einem solchen Bild konnte man allerdings nur durch Akte massiver Verdrängung kommen. Was Dickens wahrscheinlich wusste, aber einfach nicht zulassen konnte: Der Frankokanadier Michel Terohaute war keineswegs Irokese, sondern ein Weißer, wie alle anderen Expeditionsteilnehmer auch. John Richardson, der Terohaute erschossen hatte, schrieb später über ihn:
His principles, unsupported by a belief in the divine truths of Christianity, were unable to withstand the pressure of severe distress. His countrymen, the Iroquois, are generally Christians, but he was totally uninstructed and ignorant of the duties inculcated by Christianity; and from his long residence in the Indian country, seems to have imbibed, or retained, the rules of conduct which the southern Indians prescribe to themselves.
Das heißt also: Terohaute war an sich ein Christ, ein Europäer, ein Zivilisierter, aber weil er so lange unter den First Nations lebte, färbte deren Monstrosität auf ihn ab, und er wurde selbst zum Monster. Dickens zitiert diese Sätze in seinem Artikel, versteht sie aber bewusst falsch: Terohaute lebte nicht nur unter den First Nations, er war Irokese. Er musste es sein, anders waren seine Taten nicht zu erklären. Menschliches Verhalten folgt hier Naturgesetzen: Wer Brite ist, ist zivilisiert. Wer Inuit oder Irokese ist, ist ein Monster. Und wer als Frankokanadier in diese starre Dichotomie nicht ganz hineinpasst, wird im Zweifelsfall den Monstern zugeschlagen.

In der Realität sah es allerdings ganz anders aus. Eine Begegnung zwischen einem Inuit und vier Angehörigen der Franklin-Expedition von 1845 spielte sich folgendermaßen ab: Der Inuit habe nur einem der vier Männer, der sehr abgemagert gewesen sei, etwas zu essen gegeben. Die anderen drei hätten es nicht verdient. – Warum, fragte Hall. – Sie seien fett und wohlgenährt gewesen, weil sie ihre Kameraden gefressen hätten.

In Wirklichkeit neigen weder Inuit noch britische Seeleute von Natur aus dazu, sich gegenseitig abzuschlachten und aufzufressen. Die Inuit sowieso nicht, da sie das Leben in der Arktis gemeistert hattten. Die Briten an sich auch nicht, aber leider war es das Wirken von armchair explorers wie Sir John Barrow und brillanten Publizisten wie Charles Dickens, die dafür sorgten, dass immer wieder Expeditionen in die Arktis ausgeschickt wurden, wo nichts als Hunger, Kälte und Wahnsinn auf sie wartete. Und wenn sie nicht zurückkehrten, konnte man sich an viktorianischen Kaminen immer wieder von Neuem erregen und gruseln über die Monster, die im ewigen Eis auf die galanten Entdecker lauerten.

Aus Platzgründen habe ich diesen Blogpost aufgeteilt. Hier geht es weiter.

Im Eisland (drei Bände) ist 2015/16 im Hinstorff Verlag erschienen.

Donnerstag, 15. Juni 2017

Men Have Called Him Mad

As we all know, there is a kind of lazy pleasure in useless and out-of-the-way erudition.
— Jorge Luis Borges & Norman Thomas di Giovanni 

Zu Edgar Allan Poes vielen Talenten gehörte auch das Erfinden von Koranversen. So lautet die erste Strophe seines Gedichts »Israfel«:
In Heaven a spirit doth dwell
“Whose heart-strings are a lute;”
None sing so wildly well
As the angel Israfel,
And the giddy stars (so legends tell)
Ceasing their hymns, attend the spell
Of his voice, all mute.
Die zweite Zeile ist als Zitat gekennzeichnet und mit einer Fußnote versehen:
And the angel Israfel, whose heart-strings are a lute, and who has the sweetest voice of all God’s creatures.—Koran.
Damit wird das Zitat als ein Vers (oder Teil eines Verses) aus dem Koran ausgegeben. Allerdings wird im Koran nirgendwo ein Engel erwähnt, dessen Herzfasern eine Laute sind. Aber einfach nur um eine Erfindung Poes handelt es sich dabei auch nicht. Israfil ist neben Dschibril (Gabriel), Michail (Michael) und Israil (Azrael) einer der vier Erzengel im Islam. In der Sure Az-Zumar (der 39. Sure) wird der Tag der Auferstehung beschrieben:
68 Und geblasen wird in die Trompete,
so dass niederstürzt vom Donnerschlag getroffen,
wer in den Himmeln und auf der Erde,
außer denen, die Gott will.
Dann wird ein zweites Mal geblasen in die Trompete
und wahrlich, da stehen sie auf und schauen.
69 Und erstrahlen wird die Erde im Licht ihres Herrn
und vorgelegt wird die Schrift
und herbeigebracht werden die Propheten und Zeugen
und entschieden wird zwischen ihnen nach der Wahrheit
und ihnen wird nicht Übles getan.
In der späteren islamischen Theologie entwickelte sich die Vorstellung, die Trompete des Auferstehungstags werde von einem Erzengel Israfil geblasen. Namentlich erwähnt wird dieser im Koran aber, wie gesagt, nicht. Israfils schöne Stimme und sein Lautenherz sind vermutlich Hinzufügungen Poes. Ich muss gestehen, dass ich mir lange nicht ganz sicher war, ob Israfil nicht doch im Koran namentlich genannt wird. Bei einem anderen angeblichen Koranzitat, das in Poes Werk auftaucht, hatte ich dagegen gleich den Verdacht, dass damit etwas nicht stimmen kann. In einer Fußnote zur Erzählung »The Thousand-and-Second Tale of Scheherazade« heißt es:
The earth is upheld by a cow of a blue color, having horns four hundred in number.”—Sale’s Koran.
»The Thousand-and-Second Tale of Scheherazade« ist eine Parodie auf Tausendundeine Nacht, und keine gelungene. In der Tat würde ich behaupten, dass diese Geschichte in Poes Werk (auf das ich sonst nichts kommen lasse) einen Tiefpunkt darstellt. Sie wird durch eine Herausgeberfiktion eingeleitet, derzufolge eine bislang unbekannte Episode aus Tausendundeiner Nacht aufgefunden wurde, in der Scheherazade eine achte Reise Sindbads beschreibt. Sindbad begegnet lauter Wundern, die zwar größtenteils real sind (z.B. Charles Babbages Differenzmaschine und ein Heißluftballon), der König aber für ganz und gar unglaubwürdig hält. Nur an einer Stelle, als Scheherazade erzählt, Sindbad sei der blauen Kuh mit vierhundert Hörnern ansichtig geworden, die die Erde auf ihrem Rücken trägt, bemerkt der König:
That, now, I believe,” said the king, “because I have read something of the kind before, in a book.”
Die Implikation ist, dass der König im Koran davon gelesen hat. Die Übersetzung des Orientalisten George Sale erschien 1734 und war lange Zeit die wichtigste englische Koranübersetzung. Das Poe-Zitat enthält sie natürlich nicht. Während also Poes erstes erfundenes Koranzitat noch einen Anknüpfungspunkt im Text hat, ist das hier nicht mehr der Fall. Die Geschichte endet übrigens damit, dass der König, der schon überlegt hatte, Scheherazade das Leben zu schenken, sie doch noch hinrichtet, weil er glaubt, sie wolle ihm mit ihren Beschreibungen von Heißluftballons und Rechenmaschinen einen Bären aufbinden. Das kann als ironische Warnung des für seine literarischen hoaxes bekannten Poe an sich selbst verstanden werden, es mit der Publikumsveräppelung nicht zu weit zu treiben. Ich halte die Geschichte aber aus zwei Gründen für völlig misslungen: Zum einen basiert sie auf dem dümmlichen Klischee vom abergläubischen und ungebildeten islamischen Despoten. Sie erinnert an die nach wie vor tradierte, aber frei erfundene Anekdote, der Kalif Umar habe 642 die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria befohlen, weil Bücher, die dem Koran widersprächen, schädlich seien, und Bücher, die dem Koran entsprächen, unnütz.*

Zum anderen widerspricht sie der fundamentalen Regel für phantastische Erzählungen, die J. R. R. Tolkien in »On Fairy-stories« aufstellt: »There is one proviso: if there is any satire present in the tale, one thing must not be made fun of, the magic itself.« In Faërie ist sogar eine blaue Kuh mit vierhundert Hörnern möglich, die die Welt auf dem Rücken trägt – so wie in Faërie ja auch eine Schildkröte möglich ist, die vier Elefanten auf dem Rücken trägt, die wiederum die Welt tragen. In der »Thousand-and-Second Tale« kommt die blaue Kuh aber nur vor, um den König lächerlich aussehen zu lassen, und das wird ihr nicht gerecht.

Meine spontane Annahme war, dass Poe die blaue Kuh zwar nicht dem Koran entnommen, sie aber auch nicht selber erfunden hat. Gleichzeitig war ich mir sicher, noch nie an anderer Stelle von dieser Kuh gelesen zu haben. Bis ich zum ersten Mal im Book of Imaginary Beings von Jorge Luis Borges, Margarita Guerrero und Norman Thomas di Giovanni geblättert habe. Darin gibt es einen Eintrag über den Stier Kujata, der die Welt auf seinem Rücken trägt:
In Moslem cosmology, Kujata is a huge bull endowed with four thousand eyes, ears, nostrils, mouths and feet. [...] Kujata stands on the back of the fish Bahamut; on the bull’s back is a great rock of ruby, on the rock an angel, and on the angel rests our earth. Under the fish is a mighty sea, under the sea a vast abyss of air, under the air fire, and under the fire a serpent so great that were it not for fear of Allah, this creature might swallow up all creation.
Das wäre also des Rätsels Lösung. Kujata ist zwar nicht blau und hat auch keine vierhundert Hörner, sondern viertausend Augen, Ohren, Nüstern, Mäuler und Füße. Aber es ist doch unzweifelhaft das Wesen, das auch Poe im Sinn hatte. Nur: Was heißt hier muslimische Kosmologie? Offizielle islamische Theologie ist das nicht. Leider gibt das Book of Imaginary Beings keine Quelle an, aber wahrscheinlich haben die Autor_innen Kujata im Werk des Orientalisten Edward William Lane (1801–76) kennengelernt, den sie in ihrem Buch mehrfach erwähnen.

Lane fertigte eine Übersetzung von Tausendundeine Nacht an, wobei er als guter Viktorianer aber alle Stellen ausließ, die ihm anstößig vorkamen. Das Werk erschien 1840 in drei Bänden. Frühere englische Übersetzungen basierten oft nicht auf dem arabischen Text, sondern auf der französischen Übersetzung Antoine Gallands (1717). Insofern war Lanes Werk wegweisend.** Er erarbeitete zudem einen umfangreichen Kommentar zu Tausendundeiner Nacht. Darin zitiert er einen kosmologischen Bericht des arabischen Geographen Ibn al-Wardi aus dem 14. Jahrhundert, auf dem wiederum der Eintrag im Book of Imaginary Beings beruht.

Aber damit ist das Problem noch nicht gelöst. Lanes Kommentar zu Tausendundeiner Nacht wurde nämlich erst 1883 unter dem Titel Arabian Society in the Middle Ages: Studies from the Thousand and One Nights aus dem Nachlass herausgegeben. Poe kann ihn also nicht gelesen haben. Lanes Tausendundeine-Nacht-Übersetzung mag er gekannt und für seine »Thousand-and-Second Tale« verwendet haben, die 1845 in einer Zeitschrift erschien. Aber woher wusste Poe von der Kuh oder dem Stier mit der Welt auf dem Rücken? War vielleicht schon Lanes Übersetzung mit Anmerkungen versehen, die darauf hindeuteten, oder wird das mythologische Wesen sogar in Tausendundeine Nacht selbst erwähnt? Ab hier weiß ich nicht mehr weiter.

Anzumerken ist außerdem, dass Lane außerdem eine Auswahlübersetzung des Korans anfertigte, die 1843 als Selections from the Kur-án erschien. Auch die kann Poe gekannt haben. Mehr noch: Er mag sich beim Abfassen seiner Geschichte erinnert haben, dass Lane sowohl an Tausendundeiner Nacht als auch am Koran arbeitete, mag deshalb die Information über Kujata dem Koran untergeschoben haben, und zudem Lanes Übersetzung mit der sehr viel bekannteren Übersetzung Sales verwechselt haben – wenn er nicht mit voller Absicht ein bibliographisches Verwirrspiel trieb. Aber das bleibt Spekulation, so lange nicht nachgewiesen ist, dass Poes Quelle Lane war.***

Zum Schluss darf der Hinweis nicht fehlen, dass der Fisch Bahamut, auf dessen Rücken Kujata steht, natürlich das Ungetüm Behemot aus der hebräischen Bibel ist. In Kapitel 40 des Buches Hiob beschreibt Gott verschiedene urzeitliche Monster, die er geschaffen hat:
15 Sieh doch den Behemot, den ich geschaffen habe mit dir
– Gras frisst er wie das Rind –,
16 sieh doch seine Kraft in seinen Lenden
und seine Stärke in den Muskeln seines Bauches!
17 Er reckt seinen Schwanz wie eine Zeder,
die Sehnen seiner Schenkel sind verflochten.
18 Seine Knochen sind Röhren von Erz,
seine Gebeine wie Stangen von Eisen.
19 Er ist der Anfang der Wege Gottes,
wer ihn gemacht hat, reichte ihm sein Schwert.
25 Kannst du den Leviatan an der Angel heranziehen
und mit dem Seil seine Zunge niederhalten?
26 Legst du ihm ein Binsenseil um die Nase,
durchstichst du mit einem Haken seine Kinnlade?
27 Bittet er dich immer wieder um Gnade
oder spricht er zu dir zarte Worte?
[...]
32 Leg nur deine Hand an ihn,
denk an Kampf – das tust du nicht noch einmal!
Der Behemot wird manchmal mit dem Flusspferd oder dem Elefant identifiziert, der Leviatan mit einem Krokodil oder einem Wal. Aber das geht natürlich an der Sache völlig vorbei, ebenso wie wenn behauptet wird, Drachen seien eigentlich Dinosaurier.

* Die Anekdote gehört zu einem Komplex sich hartnäckig am Leben haltender europäischer Legenden über die Zeit der islamischen Expansion, zu der auch die Vorstellung gehört, Karl Martell habe durch seinen Sieg in der Schlacht von Tours und Poitiers (732) im letzten Augenblick die Eroberung Europas durch Muslime verhindert. Noch in den 1970ern nannte sich in Frankreich eine faschistische Terrororganisation, die durch Bombenanschläge vier Menschen ermordete, »Gruppe Karl Martell«.
** Eine vollstänige, nicht bowdlerisierte Übersetzung ins Englische erschien allerdings erst 1885 mit Richard Francis Burtons Book of the Thousand Nights and a Night.
*** Ich habe für diesen Post keine Poe-Sekundärliteratur gesichtet und kann deshalb nicht sagen, ob es darin Weiterführendes gibt.

Dienstag, 6. Juni 2017

Lest alte Fantasy: The Frozen Deep

Die Franklin-Expedition ist ein moderner Mythos, der mich schon lang fasziniert. In der phantastischen Literatur hat er nicht erst seit Dan Simmons’ hochspannendem Roman The Terror (2007) Spuren hinterlassen. Schon 1856 schrieb Wilkie Collins (unter tatkräftiger Mithilfe seines Freundes Charles Dickens) das Theaterstück The Frozen Deep über eine fiktive Arktis-Expedition, in der das zeitgenössische Publikum ohne weitere Umstände die katastrophale Unternehmung Sir John Franklins erkennen konnte. Am 4. Juli 1857 wurde das Stück in London aufgeführt, wobei Dickens persönlich die Rolle des Antihelden übernahm. Unter den Gästen waren Königin Victoria, Prinzgemahl Albert, König Leopold von Belgien, der zukünftige Deutsche Kaiser Friedrich III. sowie William Makepace Thackeray und Hans Christian Andersen. Ein so prominentes Publikum ist nicht weiter überraschend, wenn man sich vor Augen hält, dass die Inszenierung von The Frozen Deep der Höhepunkt einer von Dickens orchestrierten Propaganda-Kampagne war.

Frederic Edwin Church, The Icebergs (1861)

Worum ging es? Ich zeichne hier nicht den genauen Verlauf der Franklin-Expedition nach, da sowohl die deutsche als auch die englische Wikipedia darüber informieren. Nur so viel: Ziel der Expedition, die 1845 mit den Schiffen Erebus und Terror (nomina sunt omina, im Mythos jedenfalls) aufbrach, war die Entdeckung der Nordwestpassage. Die Expedition verbrachte zwei Winter im arktischen Eis und musste feststellen, dass sie kein eisfreies Fahrwasser für die beiden Schiffe mehr bekommen würde. Die Lebensmittel wurden knapp. Nach dem Tod Sir John Franklins und anderer Expeditionsmitglieder versuchten die Überlebenden, Boote zu Schlitten umzubauen und zu Fuß auf das kanadische Festland zu gelangen. Wahrscheinlich hat keines der 129 Expeditionsmitglieder überlebt.

Für das Scheitern der Expedition gibt es vor allem zwei Gründe. Der eine ist die atemberaubende viktorianische Arroganz, mit der die Expedition geplant und vorbereitet wurde. Man ging einfach davon aus, dass die europäische Zivilisation sich auch in den unwegsamsten Weltgegenden als überlegen erweisen werde. Unter den teilnehmenden Offizieren waren nur drei, die Arktis-Erfahrungen besaßen: Sir John selbst, der zuvor Vermessungsexpeditionen an der kanadischen Nordküste befehligt hatte, Captain Francis Crozier, der die Terror kommandierte, und Lieutenant Graham Gore, der Erste Offizier der Erebus. Crozier kannte sich mit Abstand am besten in der Arktis aus. Sir John war 1845 schon seit über 20 Jahren nicht mehr in der Nordpolarregion gewesen, und bereits seine erste Expedition in Kanada war desaströs verlaufen. Aber Crozier war Ire, weshalb die britische Admiralität Sir John den Oberbefehl über das Unternehmen gab. In der Konsequenz bedeutete das auch, dass es keine Expeditionsteilnehmer gab, die Erfahrung mit der Jagd auf arktische Fauna hatten. Das hielt man nicht für nötig. Statt dessen schleppten die beiden Schiffe Konservennahrung für über 100 Personen mit. Die Konserven dürften spätestens nach dem ersten Jahr im Eis zum größten Teil vergammelt sein, da sie mit wenig funktionalen Bleilötungen verschlossen worden waren.* Einige weitere naheliegende Dinge, auf die bei der Vorbereitung und Durchführung der Expedition offenbar niemand kam:
  • Die Schiffe hatten keine Schlitten an Bord. Als die Erebus und die Terror aufgegeben werden mussten, versuchten die Überlebenden, die Beiboote der Schiffe als Schlitten zu benutzen. Die schweren Boote über das Eis zu ziehen, muss für die halbverhungerten Mannschaften eine unglaubliche Strapaze gewesen sein.
  • Es wurden keine Zwischenlager mit Nahrungsvorräten angelegt, zu denen man im Notfall hätte zurückkehren können.
  • Die Expedition hinterließ kaum schriftliche Nachrichten über ihre Route, die eventuellen Rettungsmissionen die Suche erleichtert hätte. Nach dem schrecklichen Ende der Expedition wurde ein einziges ausführlicheres Schriftstück mit Nachrichten gefunden, dessen Text aber stellenweise so wirr ist, dass die Expeditionsmitglieder zum Zeitpunkt der Abfassung wahrscheinlich schon halb wahnsinnig vor Angst und Entbehrungen waren. 
Der andere Grund für das Scheitern ist in den bizarren Theorien zu sehen, die die britische Admiralität sich über die Arktis zurechtgesponnen hatte. Genauer gesagt handelt es sich um ein Lehrstück dafür, wie man aus empirischen Beobachtungen völlig falsche Schlüsse ziehen kann. Es waren vor allem zwei Beobachtungen, an denen sich die Phantasie der viktorianischen Polarforscher entzündete:
  • Festes Eis bildet sich vor allem in Küstennähe.
  • Treibeis bewegt sich von Norden kommend in südliche Richtung.
Aus der ersten Beobachtung folgerte man, dass sich auf großen offenen Gewässern kein fester Eisschild bilden könne. Aus der zweiten Beobachtung zog man den Schluss, es müsse in Polnähe wärmer sein sein als in Grönland und im Norden Kanadas. (Man ging davon aus, dass das Treibeis von wärmeren in kältere Gegenden driftete.) So entstand die fatale Überzeugung, dass sich am Nordpol ein warmes, offenes Meer befände. Eine Expedition müsse nur weit genug nach Norden gelangen, um in eisfreies Gewässer vorzustoßen und von dort aus in den Pazifik zu gelangen. In Wirklichkeit handelte es sich um ein todsicheres Rezept, mit dem Schiff im Eis einzufrieren und nie wieder freizukommen. Genau das war das Schicksal der Franklin-Expedition. Niemand in der Admiralität konnte sich vorstellen, dass der Nordpol von einem riesigen Eispanzer bedeckt war, von dem sich das Treibeis im Sommer löste, um im Winter zur tödlichen Falle für Schiffe zu werden.

Nachdem die Expedition aufgebrochen war, dauerte es einige Jahre, bevor man in England begann, sich Sorgen zu machen. Es war normal, dass Arktis-Expeditionen zwei oder drei Jahre unterwegs waren. Irgendwann begann man dann doch, Suchexpeditionen auszusenden, woraus sich schließlich die größte Rettungsmission des 19. Jahrhunderts entwickelte. Aber erst 1854 stieß John Rae, ein Angestellter der Handelsgesellschaft Hudson’s Bay Company, auf Hinweise über das Schicksal von Sir John und seinen Leuten. Rae hatte Gegenstände, die zu der Expedition gehörten, im Besitz von Inuit gesehen. Er begann, diese Gegenstände systematisch aufzukaufen und ihre Herkunft zu ermitteln. Inuit erzählten ihm, vor Jahren sei eine Gruppe weiße Männer zu Fuß nach Süden gezogen. Die Weißen seien später verhungert oder erfroren; bei ihren Leichen hätten die Inuit Behältnisse voller gekochtes Menschenfleisch gefunden.

Edwin Henry Landseer, Man Proposes, God Disposes (1864)

Rae übermittelte diese schockierenden Erkenntnisse so schnell wie möglich der Admiralität. Er ging davon aus, die englische Öffentlichkeit werde die schreckliche Wahrheit der Unsicherheit vorziehen. Damit irrte er sich gewaltig. Die Öffentlichkeit wollte keine Geschichte über Scheitern, Tod und Kannibalismus. Der britische Anspruch auf Weltherrschaft gründete sich auf den Glauben an den Heroismus von Unternehmungen wie Sir Johns Versuch, die Nordwestpassage zu finden. Lady Jane Franklin versicherte, ihr verschollener Ehemann sei »clean, Christian and genteel« und werde niemals zulassen, dass seine Männer zu Kannibalen würden.** Der Öffentlichkeit fiel es nicht schwer, für Lady Jane und gegen Rae Partei zu ergreifen. Die Presse überschüttete Rae kübelweise mit Schmutz. Vor allem wurde ihm vorgeworfen, sich auf die Zeugnisse von Inuit verlassen zu haben, die doch unzivilisiert und von Natur aus nicht in der Lage seien, die Wahrheit zu sagen. Zudem war Rae Schotte, was bedeutete, dass er in englischen Augen selbst nur halb zivilisiert war.

Hier kommt Dickens ins Spiel. Er war ein Wortführer unter denjenigen, die auf Seiten Lady Janes die Ehre der Franklin-Expedition verteidigen wollten. Dabei hat der alte Charles sich – gelinde gesagt – nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Er veröffentlichte eine wahre Hetztirade gegen die Inuit, die grausam und verlogen seien und die hungernd umherirrenden Expeditionsmitglieder wahrscheinlich selber umgebracht hätten. Vor diesem Hintergrund regte Dickens seinen Freund Collins an, ein Stück über die Franklin-Expedition zu schreiben, dessen propagandistischer Erfolg (angesichts des blaublütigen Publikums) wohl außer Frage steht.

Wilkie Collins schrieb das Stück anschließend zu einer Novelle um (erhältlich auf Project Gutenberg) und veröffentlichte sie in Buchform. Ich vermute, dass er dabei nur wenige Details verändert hat. Zum Inhalt und seinen historischen Hintergründen: Die beiden Schiffe der Expedition wurden von Collins und Dickens auf die harmloseren Namen Wanderer und Sea-mew (Seemöwe) umgetauft. Ihre beiden Kommandanten tragen die nordisch bzw. angelsächsisch klingenden Namen Helding und Ebsworth und sind so als tadellose englische Helden gekennzeichnet, ohne jeden schottisch-irischen Makel. Während Ebsworth keine große Rolle spielt,*** ist die Person John Franklins gewissermaßen auf zwei Figuren aufgeteilt: Die eine ist Captain Helding, die andere sein Erster Offizier, Lieutenant William Crayford. Francis Crozier, der zweite Schiffskommandant der historischen Expedition, wird in der Figur des Frank Aldersley wiedergegeben, eines Leutnants auf der Sea-mew. Crayford und seine Frau Lucy (= Lady Jane) haben ein Mündel, die Waise Clara Burnham. Clara ist mit Lieutenant Aldersley verlobt. Ihr historisches Vorbild ist Sophia Cracroft, eine Nichte Sir Johns, die von Captain Crozier umworben wurde, seine Liebe allerdings nicht erwiderte. Eine Heirat zwischen den beiden wäre als nicht standesgemäß angesehen worden. Collins und Dickens umgehen dieses Problem, indem sie Clara Burnham zur Waisen machen.

Lucy Crayford und Clara Burnham könnten also hoffnungsfroh auf die Rückkehr ihres Gatten bzw. Verlobten warten, gäbe es da nicht zwei kleine Probleme. Das eine ist Richard Wardour, der überzeugt ist, er sei der Verlobte von Miss Clara. Zwar hat er ihr nie einen Antrag gemacht, aber da er und Clara miteinander aufgewachsen sind, glaubt er, ein natürliches Anrecht auf sie zu haben. Als Wardour, der ebenfalls Offizier der Royal Navy ist, von Claras und Franks Verlobung erfährt, schließt er sich in letzter Minute der Expedition an. Er will seinen Nebenbuhler unterwegs verschwinden lassen. Von diesem Moment an bangt Clara um das Leben ihres Geliebten. Und das zweite Problem: Clara stammt aus den schottischen Highlands und verfügt über das Zweite Gesicht.† Diese Gabe lässt sie immer wieder visionäre Eindrücke vom Verlauf der Expedition sehen, aber leider nur auf bruchstückhafte und daher missverständliche Weise. Clara neigt deshalb dazu, in Bezug auf die Expedition das Schlimmste zu erwarten und wird immer melancholischer.

Man beachte die Verschiebung, die Collins und Dickens hier vorgenommen haben: In der realen Geschichte ist es der Schotte John Rae, der die Nachricht vom schlimmen Ende der Expedition bringt. Diese Nachricht, obwohl niemand sie hören wollte, bestätigte sich, und widerwillig erkannte die Admiralität Rae die Hälfte des Preisgelds zu, das sie für Hinweise auf den Verbleib Sir Johns und seiner Mannschaften ausgeschrieben hatte. In Collins’ und Dickens’ Geschichte ist es Clara Burnhams ›schottische‹ Gabe, die falsche Nachricht vom schlimmen Ende der Expedition bringt. Indirekt wird damit gesagt, dass man sich auf einen abergläubischen Schotten, der finstere Geschichten von Tod und Kannibalismus im ewigen Eis erzählt, nicht verlassen sollte.

Und wie liest sich das? Leider nicht sehr gut. Man merkt der Novelle an, dass sie als Theaterstück konzipiert wurde. Die erhabene arktische Landschaft, aus der erst die Atmosphäre für solche Erzählungen entsteht, wird auf eine Art und Weise beschrieben, die stets nur an eine Theaterkulisse denken lässt – kein Vergleich mit den zu gleicher Zeit entstandenen Gemälden des sogenannten Arctic Sublime. Hier wurde eine echte Gelegenheit verpasst. Zudem hat mich die Anwesenheit eines Buffoon-Charakters irritiert, der für ein Bühnenstück angemessen sein mag, in einer Novelle aber völlig deplatziert wirkt. Die einzige wirklich interessante Figur ist Richard Wardour, der als düsterer, egomanischer Grübler und Einzelgänger ein typischer später gothic hero ist. Nein, lesenswert im Sinne guter Literatur (oder auch guter schlechter Literatur) ist das nicht. Geschrieben und inszeniert wurde The Frozen Deep einzig aus dem Grund, einige viktorianische Illusionen aufrecht zu erhalten.

Für lesenswert halte ich den Text trotzdem, aus historischen Gründen. Die englische abenteuerlich-phantastische Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts spielt sich durchgehend vor dem Hintergrund des British Empire ab, und zwar so sehr, dass man sie geradezu unter als ›Fantasies of Empire‹ bezeichnen könnte. Ob sie nach König Salomos Diamanten suchen, auf südamerikanischen Tafelbergen Dinosaurier entdecken oder in der Hauptstadt des Weltreichs selbst Jagd auf einen wolllüstigen orientalischen Blutsauger machen – stets wird wie selbstverständlich vorausgesetzt, das die Welt den englischen Gentlemen gehört. H. Rider Haggard wie Arthur Conan Doyle, John Buchan und Bram Stoker, Sax Rohmer und Dennis Wheatley vermitteln gleichermaßen den Eindruck, Großbritannien hätte sich allein aus einer Mischung aus Langeweile und Großmut heraus ein Imperium unterworfen und ginge jetzt der halb lästigen, halb amüsanten Pflicht nach, die letzten Winkel des Riesenreichs zu besichtigen und zu befrieden. Mit Hilfe eines Begriffs von John Clute könnte man die Funktion des Empires für diese Texte als playground bezeichnen, also als »a set of related ideas or concepts which are open to the fantasy-creator to romp in«, wie es in der Encyclopedia of Fantasy heißt. Innerhalb dieses playgrounds bedeutet Großbritannien soviel wie Zivilisation, während verschiedene magische oder atavistische Gefahren für die Bedrohung des von der britischen Herrschaft ausgehenden Fortschritts stehen. Eine davon abweichende, ambivalentere Darstellung des Kolonialismus findet sich innerhalb dieser Gruppe von Autor_innen eigentlich nur bei Robert Louis Stevenson und Rudyard Kipling. Insbesondere Kipling beschreibt ebenso ungeschönt wie unbekümmert die Gier und Brutalität der kolonialen Parvenüs, lässt dabei aber niemals vergessen, dass er sie für durchaus selbstverständlich hält und keinesfalls ablehnt. (Man vergleiche die höchst unterschiedliche Behandlung des Lost-Race-Motivs bei H. Rider Haggard und in Kiplings »Man Who Would Be King«.)

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist es dann doch sehr interessant zu sehen, wie durchsichtig und hilflos Collins’ und Dickens’ früher Versuch wirkt, den britischen Kolonialismus im abenteuerlich-phantastischen Medium zu verherrlichen. Die spätere imperiale Selbstsicherheit gegenüber den »new-caught, sullen peoples« geht The Frozen Deep noch weitgehend ab. Auf dem Andenken von Dickens, dessen großes Verdienst es doch war, das Leben der Armen und Ausgebeuteten als Thema der Literatur zu etablieren, bleiben Text und Kampagne zudem ein hässlicher Schandfleck.

Caspar David Friedrich, Das Eismeer (1823/24)

Bildquelle: Wikimedia Commons

* Es wird angenommen, dass der ständige Kontakt mit Blei den Verzehr dieser Nahrung zu einer extrem gesundheitsschädlichen Sache machte. Möglicherweise sind einige Expeditionsteilnehmer an Bleivergiftung gestorben.
** Diese Haltung kann nur als willentliche Ignoranz betrachtet werden. Schon Sir Johns erste Expedition an der Nordküste Kanadas hatte mit dem Tod über der Hälfte der Teilnehmer geendet. Die Opfer waren teilweise von ihren Kameraden umgebracht und aufgefressen worden. Verständlich wird Lady Janes Haltung dann, wenn man bedenkt, dass sie wahrscheinlich die gesellschaftliche Isolation fürchtete, die unweigerlich folgen würde, wenn Sir Johns verlorene Expedition zum Skandal würde.
*** Sein historisches Gegenstück ist Commander James Fitzjames, der Kommandant der Erebus.
† An dà sealladh oder das Zweite Gesicht bezeichnet die Fähigkeit, unfreiwillig zukünftige oder weit entfernt stattfindende Ereignisse ›sehen‹ zu können.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.