Hawthornes Schaffen fällt in eine Periode der amerikanischen Literaturgeschichte, die im Nachhinein auf den Namen American Renaissance getauft wurde – in dieser Zeit schrieben neben Hawthorne die Transzendentalist_innen, Emily Dickinson, Walt Whitman, Herman Melville und Edgar Allan Poe. Diese, so lautet das Urteil, fanden in ihren Werken zu einem unverwechselbar amerikanischen Stil und bewirkten damit die literarische Emanzipation der Vereinigten Staaten von europäischen Vorbildern. Wie bei allen Geschmacksurteilen muss man natürlich auch bei diesem fragen, was damit ungesagt bleibt. So stimmt es natürlich, dass die Romane James Fenimore Coopers keine formale Innovation gegenüber dem europäischen Abenteuerroman darstellen, aber indem Cooper die frontier zum Thema machte, ließ er den Abenteuerroman in den USA zur »Epopöe der Pioniere« (Antonio Gramsci) werden. Er sorgte dafür, dass das imperialistische Unternehmen der Eroberung des Westens als Abenteuerroman gelesen werden konnte und leitete damit eine Tendenz ein, die sich auch dann noch lange fortsetzte, als einzelne Westernproduktionen längst selbstkritisch geworden waren. Es ließe sich in einem gewissen Sinne also sagen, dass durch Coopers Werk Literatur und Film sehr viel ›amerikanischer‹ geworden sind als durch das Schaffen Hawthornes und seiner Zeitgenoss*innen – die ich persönlich aber sehr viel lieber lese als Cooper. Das kulturelle Gedächtnis der USA ist schließlich nicht allein von einsamen Waldläufern, frommen Siedlerfamilien und tapferen Sherriffs bevölkert.
Was mir an der Literatur der USA schon immer gefallen hat: Sie kann Regionalliteratur sein, ohne dadurch provinziell zu werden. So gibt es eine Literatur des Südens, eine Literatur des Mittleren Westens und eine Literatur New Englands. Diese sind reale ebenso wie literarische Landschaften. Für die phantastische Literatur der USA hat New England eine besondere Bedeutung, denn dort siedelten nach Hawthorne auch H. P. Lovecraft und Stephen King ihre Erzählungen an. Hawthornes literarisches New England ist eines, in dem die Erinnerung an die berüchtigten Hexenprozesse von Salem noch sehr lebendig ist. Bekanntlich war Hawthorne selbst der Nachfahre eines an den Prozessen beteiligten Richters, von dem er sich zu distanzieren versuchte, indem er den ursprünglichen Familiennamen Hathorne mit einem w verfremdete.
In »Feathertop: A Moralized Legend« tritt eine sehr leutselige und spottlustige Hexe namens Mother Rigby auf. Mother Rigby besitzt eine Pfeife, die von einem unsichtbaren Dämon namens Dickon am Brennen gehalten wird. Ich muss sagen, dass die Vorstellung einer Tabakpfeife, deren Glut sich in einer anderen Dimension befindet, eine so sympathische weirdness ausstrahlt, dass allein dadurch schon die ganze Geschichte großartig wird. Mother Rigby hat nun eine fiese Idee, wie sie die gute Gesellschaft New Englands aufmischen kann: Mit Hilfe der Pfeife erweckt sie eine Vogelscheuche namens Feathertop (so genannt wegen ihrer Hutfeder) zum Leben. So lange Feathertop das magische Rauchgerät im Mund behält und kräftig pafft, erscheint er seiner Umgebung als perfekter Gentleman, wie man ihn sich im 18. Jahrhundert vorstellte: Elegant gekleidet mit Samtrock und Seidenstrümpfen, auf dem Kopf eine sorgfältig gepuderte Perücke, schreitet er wie ein Tanzlehrer durch die Straßen, während er an seiner Pfeife zieht und den Hut unter dem Arm trägt (damit man die Perücke besser sieht). Doch dabei handelt es sich um pure Illusion, denn sobald die Pfeife ausgeht, wird die Gestalt der Vogelscheuche sichtbar. Außerdem beherrscht Feathertop ausschließlich Phrasen und Interjektionen wie »Really! Indeed! Pray tell me! Is it possible! Upon my word! By no means! O! Ah! Hem!«, was aber völlig ausreichend ist, um in der guten Gesellschaft gepflegt Konversation zu treiben.
Mother Rigby schickt Feathertop aus, um die Hand der Tochter Richter Gookins anzuhalten, womit sie dem ehrwürdigen Herrn kräftig eins reinwürgen will. Richter Gookin hat vor längerer Zeit seine Seele dem Satan verschrieben, ist dann aber wohlanständig geworden und füllt nicht nur das Richteramt aus, sondern ist auch noch Kirchenältester und wohlhabender Händler. Zugleich (oder gerade deswegen) ist er ein ausgemachter Drecksack, denn er ahnt, dass es mit Feathertop eine übernatürliche Bewandtnis hat, und vermutet, dass seine satanistische Vergangenheit dabei ist, ihn einzuholen. Aber da Feathertop es auf seine Tochter Polly abgesehen hat, ist der Richter durchaus bereit, seine Tochter zu opfern, wenn er dadurch die Schulden, die er beim Fürsten der Finsternis hat, begleichen kann.
Polly ist zunächst durchaus angetan von dem jungen Gentleman, der da um sie wirbt. Leider wirft sie im falschen Moment einen Blick in den Spiegel, in dem Feathertop in seiner wahren Gestalt zu sehen ist. Nicht nur schreckt Polly entsetzt vor ihm zurück, Feathertop selbst erkennt durch den Blick in den Spiegel, dass seine ganze Person nichts als leerer Trug ist. Erschüttert flieht er zurück zu Mother Rigbys Hütte und wird dadurch menschlicher als je zuvor, denn ihm wird klar, dass ein Kuss von Polly ihn zu einem echten Menschen gemacht hätte. So aber bleibt ihm nur die vernichtende Selbsterkenntnis – »I’ve seen myself, mother! I’ve seen myself for the wretched, ragged, empty thing I am!« – und er weigert sich, auch nur einen weiteren Zug aus der magischen Pfeife zu nehmen:
Snatching the pipe from his mouth, he flung it with all his might against the chimney, and at the same instant sank upon the floor, a medley of straw and tattered garments, with some sticks protruding from the heap, and a shrivelled pumpkin in the midst. The eyeholes were now lustreless; but the rudely-carved gap, that just before had been a mouth, still seemed to twist itself into a despairing grin, and was so far human.So bitter endet Hawthornes moralische Sage. Was von Seiten Mother Rigbys ein Scherz ist (allerdings ein bösartiger, wenn man ihn aus Pollys und Feathertops Perspektive betrachtet), ist von Seiten Richter Gookins eine wahrhaft finstere Tat, denn er ist bereit, seine Tochter dem Teufel zu überlassen, um sich selbst zu retten.
Die Geschichte stammt aus Hawthornes Sammlung Mosses from an Old Manse (1846). Der Untertitel »A Moralized Legend« sagt es übrigens schon: Es handelt sich dabei nicht um ein Märchen, sondern um eine Sage – natürlich eine, die Hawthorne sich ausgedacht hat, auch wenn er versichert, sie als Kind von seiner Großmutter gehört zu haben. So erklärt sich, dass es mit Feathertop ein sagentypisch schlimmes und kein märchentypisch glückliches Ende nimmt. Dennoch würde ich behaupten, dass die Geschichte völlig zu recht in das Oxford Book of Modern Fairy Tales aufgenommen wurde, denn es zeichnet sich darin so etwas wie der Beginn einer amerikanichen Märchentradition ab: Man kann sich nach dem Lesen gut vorstellen, dass L. Frank Baums lebendige Vogelscheuchen und Kürbisköpfe aus New England in den Mittleren Westen migriert sind. Auch Baums Geschöpfe sind ja auf der Suche nach ihrer Menschlichkeit, haben dabei aber glücklicherweise sehr viel mehr Anlass zu Optimismus als der arme Feathertop.
Wie viele Erzählungen Hawthornes zeichnet sich auch diese durch eine wunderbare Atmosphäre von folk magic aus, was in mir das Verlangen geweckt hat, wieder mal mehr Hawthorne zu lesen. Aber zunächst geht es weiter mit John Ruskins King of the Golden River (1850).
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