Mittwoch, 31. Mai 2017

Modern Fairy Tales: Nathaniel Hawthorne

Stammte der erste Beitrag im Oxford Book of Modern Fairy Tales von Catherine Sinclair, einer heute weithin vergessenen Autorin viktorianischer Kinderliteratur, folgt nun mit Nathaniel Hawthorne ein Klassiker der US-amerikanischen Literatur.

Hawthornes Schaffen fällt in eine Periode der amerikanischen Literaturgeschichte, die im Nachhinein auf den Namen American Renaissance getauft wurde – in dieser Zeit schrieben neben Hawthorne die Transzendentalist_innen, Emily Dickinson, Walt Whitman, Herman Melville und Edgar Allan Poe. Diese, so lautet das Urteil, fanden in ihren Werken zu einem unverwechselbar amerikanischen Stil und bewirkten damit die literarische Emanzipation der Vereinigten Staaten von europäischen Vorbildern. Wie bei allen Geschmacksurteilen muss man natürlich auch bei diesem fragen, was damit ungesagt bleibt. So stimmt es natürlich, dass die Romane James Fenimore Coopers keine formale Innovation gegenüber dem europäischen Abenteuerroman darstellen, aber indem Cooper die frontier zum Thema machte, ließ er den Abenteuerroman in den USA zur »Epopöe der Pioniere« (Antonio Gramsci) werden. Er sorgte dafür, dass das imperialistische Unternehmen der Eroberung des Westens als Abenteuerroman gelesen werden konnte und leitete damit eine Tendenz ein, die sich auch dann noch lange fortsetzte, als einzelne Westernproduktionen längst selbstkritisch geworden waren. Es ließe sich in einem gewissen Sinne also sagen, dass durch Coopers Werk Literatur und Film sehr viel ›amerikanischer‹ geworden sind als durch das Schaffen Hawthornes und seiner Zeitgenoss*innen – die ich persönlich aber sehr viel lieber lese als Cooper. Das kulturelle Gedächtnis der USA ist schließlich nicht allein von einsamen Waldläufern, frommen Siedlerfamilien und tapferen Sherriffs bevölkert.

Was mir an der Literatur der USA schon immer gefallen hat: Sie kann Regionalliteratur sein, ohne dadurch provinziell zu werden. So gibt es eine Literatur des Südens, eine Literatur des Mittleren Westens und eine Literatur New Englands. Diese sind reale ebenso wie literarische Landschaften. Für die phantastische Literatur der USA hat New England eine besondere Bedeutung, denn dort siedelten nach Hawthorne auch H. P. Lovecraft und Stephen King ihre Erzählungen an. Hawthornes literarisches New England ist eines, in dem die Erinnerung an die berüchtigten Hexenprozesse von Salem noch sehr lebendig ist. Bekanntlich war Hawthorne selbst der Nachfahre eines an den Prozessen beteiligten Richters, von dem er sich zu distanzieren versuchte, indem er den ursprünglichen Familiennamen Hathorne mit einem w verfremdete.

In »Feathertop: A Moralized Legend« tritt eine sehr leutselige und spottlustige Hexe namens Mother Rigby auf. Mother Rigby besitzt eine Pfeife, die von einem unsichtbaren Dämon namens Dickon am Brennen gehalten wird. Ich muss sagen, dass die Vorstellung einer Tabakpfeife, deren Glut sich in einer anderen Dimension befindet, eine so sympathische weirdness ausstrahlt, dass allein dadurch schon die ganze Geschichte großartig wird. Mother Rigby hat nun eine fiese Idee, wie sie die gute Gesellschaft New Englands aufmischen kann: Mit Hilfe der Pfeife erweckt sie eine Vogelscheuche namens Feathertop (so genannt wegen ihrer Hutfeder) zum Leben. So lange Feathertop das magische Rauchgerät im Mund behält und kräftig pafft, erscheint er seiner Umgebung als perfekter Gentleman, wie man ihn sich im 18. Jahrhundert vorstellte: Elegant gekleidet mit Samtrock und Seidenstrümpfen, auf dem Kopf eine sorgfältig gepuderte Perücke, schreitet er wie ein Tanzlehrer durch die Straßen, während er an seiner Pfeife zieht und den Hut unter dem Arm trägt (damit man die Perücke besser sieht). Doch dabei handelt es sich um pure Illusion, denn sobald die Pfeife ausgeht, wird die Gestalt der Vogelscheuche sichtbar. Außerdem beherrscht Feathertop ausschließlich Phrasen und Interjektionen wie »Really! Indeed! Pray tell me! Is it possible! Upon my word! By no means! O! Ah! Hem!«, was aber völlig ausreichend ist, um in der guten Gesellschaft gepflegt Konversation zu treiben.

Mother Rigby schickt Feathertop aus, um die Hand der Tochter Richter Gookins anzuhalten, womit sie dem ehrwürdigen Herrn kräftig eins reinwürgen will. Richter Gookin hat vor längerer Zeit seine Seele dem Satan verschrieben, ist dann aber wohlanständig geworden und füllt nicht nur das Richteramt aus, sondern ist auch noch Kirchenältester und wohlhabender Händler. Zugleich (oder gerade deswegen) ist er ein ausgemachter Drecksack, denn er ahnt, dass es mit Feathertop eine übernatürliche Bewandtnis hat, und vermutet, dass seine satanistische Vergangenheit dabei ist, ihn einzuholen. Aber da Feathertop es auf seine Tochter Polly abgesehen hat, ist der Richter durchaus bereit, seine Tochter zu opfern, wenn er dadurch die Schulden, die er beim Fürsten der Finsternis hat, begleichen kann.

Polly ist zunächst durchaus angetan von dem jungen Gentleman, der da um sie wirbt. Leider wirft sie im falschen Moment einen Blick in den Spiegel, in dem Feathertop in seiner wahren Gestalt zu sehen ist. Nicht nur schreckt Polly entsetzt vor ihm zurück, Feathertop selbst erkennt durch den Blick in den Spiegel, dass seine ganze Person nichts als leerer Trug ist. Erschüttert flieht er zurück zu Mother Rigbys Hütte und wird dadurch menschlicher als je zuvor, denn ihm wird klar, dass ein Kuss von Polly ihn zu einem echten Menschen gemacht hätte. So aber bleibt ihm nur die vernichtende Selbsterkenntnis – »I’ve seen myself, mother! I’ve seen myself for the wretched, ragged, empty thing I am!« – und er weigert sich, auch nur einen weiteren Zug aus der magischen Pfeife zu nehmen:
Snatching the pipe from his mouth, he flung it with all his might against the chimney, and at the same instant sank upon the floor, a medley of straw and tattered garments, with some sticks protruding from the heap, and a shrivelled pumpkin in the midst. The eyeholes were now lustreless; but the rudely-carved gap, that just before had been a mouth, still seemed to twist itself into a despairing grin, and was so far human.
So bitter endet Hawthornes moralische Sage. Was von Seiten Mother Rigbys ein Scherz ist (allerdings ein bösartiger, wenn man ihn aus Pollys und Feathertops Perspektive betrachtet), ist von Seiten Richter Gookins eine wahrhaft finstere Tat, denn er ist bereit, seine Tochter dem Teufel zu überlassen, um sich selbst zu retten.

Die Geschichte stammt aus Hawthornes Sammlung Mosses from an Old Manse (1846). Der Untertitel »A Moralized Legend« sagt es übrigens schon: Es handelt sich dabei nicht um ein Märchen, sondern um eine Sage – natürlich eine, die Hawthorne sich ausgedacht hat, auch wenn er versichert, sie als Kind von seiner Großmutter gehört zu haben. So erklärt sich, dass es mit Feathertop ein sagentypisch schlimmes und kein märchentypisch glückliches Ende nimmt. Dennoch würde ich behaupten, dass die Geschichte völlig zu recht in das Oxford Book of Modern Fairy Tales aufgenommen wurde, denn es zeichnet sich darin so etwas wie der Beginn einer amerikanichen Märchentradition ab: Man kann sich nach dem Lesen gut vorstellen, dass L. Frank Baums lebendige Vogelscheuchen und Kürbisköpfe aus New England in den Mittleren Westen migriert sind. Auch Baums Geschöpfe sind ja auf der Suche nach ihrer Menschlichkeit, haben dabei aber glücklicherweise sehr viel mehr Anlass zu Optimismus als der arme Feathertop.

Wie viele Erzählungen Hawthornes zeichnet sich auch diese durch eine wunderbare Atmosphäre von folk magic aus, was in mir das Verlangen geweckt hat, wieder mal mehr Hawthorne zu lesen. Aber zunächst geht es weiter mit John Ruskins King of the Golden River (1850).

Samstag, 20. Mai 2017

Modern Fairy Tales: Catherine Sinclair

Ich lese gerade das Oxford Book of Modern Fairy Tales von vorne nach hinten und habe mir vorgenommen, zu jedem Eintrag ein paar Zeilen zu schreiben. Herausgegeben wurde die Anthologie von Alison Lurie, die sich in Danksagungen und Vorwort als Schülerin von Jack Zipes erweist. Das passt mir schon mal sehr gut!

Modern Fairy Tales sind in diesem Band Kunstmärchen, also nicht etwa Märchen, die aus der literarischen Moderne (modernism) oder ganz allgemein aus der Neuzeit (modernity) stammen. Das Kunstmärchen ist in der deutschen Romantik entstanden; vor allem Novalis, Tieck, Chamisso, Fouqué und Hoffmann taten sich in der Gattung hervor. Ihnen folgte Andersen in Dänemark, der in Großbritannien begeistert gelesen wurde. Die Beliebtheit Andersens beim britischen Publikum gab den Ausschlag, dass englische Autor_innen begannen, selbst Kunstmärchen zu verfassen. Dabei sahen sie sich nach Vorbildern um, und bekamen schließlich auch welche: 1827 gab der germanophile Thomas Carlyle zwei Bände German Romance heraus, in denen (von Carlyle selbst übersetzte) Texte von Musäus, Tieck, Fouqué, Hoffmann und Jean Paul versammelt waren. Carlyles Bemühungen taten ihre Wirkung: Das wohl bekannteste englische Kunstmärchen des 19. Jahrhunderts, Dickens’ Christmas Carol, ist unübersehbar eine Hommage an Hoffmanns Goldnen Topf.

Vor diesem literaturgeschichtlichen Hintergrund erklärt sich, warum der erste Eintrag im Oxford Book of Modern Fairy Tales aus dem Jahr 1839 stammt (was man sonst für einen willkürlich gewählten Einstieg hätte halten können): Die Produktion von Kunstmärchen begann in Großbritannien einige Jahrzehnte später als in Deutschland. Dieser Abstand markiert die Zeit, die das Kunstmärchen der deutschen Romantik brauchte, um (zunächst über den Umweg Dänemark, dann dank Carlyle auch direkt) in Großbritannien rezipiert zu werden. Beginnt die Sammlung im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, so endet sie an der Epochenschwelle 1989. Beiträge aus dem 20. Jahrhundert stammen u.a. von Lord Dunsany, T. H. White, Philip K. Dick, Naomi Mitchison, Tanith Lee, Angela Carter und Ursula K. Le Guin – alles Namen, die Fantasy-Leser_innen nicht unbekannt sein dürften. Das ist nur folgerichtig, denn aus dem Kunstmärchen des 19. Jahrhunderts ist die High Fantasy des 20. Jahrhunderts entstanden. Anhand von Luries Anthologie lässt sich diese Entwicklung wunderbar nachvollziehen.

Von den 40 Beiträgen stammen mindestens 17 von Frauen und/oder schwullesbischen Menschen. Alle Beiträge sind entweder aus Großbritannien und den USA; Übersetzungen aus anderen Sprachen sind nicht dabei. Wenige Beiträge stammen dabei von Autor_innen, die als Kinder von Einwanderern aus Polen, Russland und Schweden in den USA geboren wurden. Mit Louise Erdrich ist eine amerikanische Ureinwohnerin dabei. An dieser Stelle möchte ich noch kurz auf ein Versäumnis aufmerksam machen: Ich hätte mir gewünscht, dass die Anthologie mit Sara Coleridges Phantasmion (1837) beginnt, einem heute außerordentlich schwer zu bekommenden Text, der seinerzeit aber einigen Einfluss ausübte.

Nun aber zum ersten Eintrag: »Uncle David’s Nonsensical Story about Giants and Fairies« (1839) von Catherine Sinclair (1800–64). Die Autorin war mir völlig unbekannt, deshalb habe ich mir ein paar Informationen aus Wikipedia und Luries biographischen Hinweisen zusammengeklaubt: Catherines Vater war der schottische Politiker Sir John Sinclair, der seine vierzehnjährige Tochter zwang, als Sekretärin für ihn zu arbeiten. Sir John ist in die Geschichte eingegangen aufgrund des fragwürdigen Verdienstes, die Statistik erfunden zu haben – jedenfalls war er der erste, der das Wort verwendete. Sein Hauptwerk, die Statistical Accounts of Scotland, umfasst monumentale 21 Bände. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie grauenhaft es gewesen sein muss, die Sekretärin dieses Menschen gewesen zu sein. Als ihr Vater starb, war Sinclair 34, und sie konnte sich endlich ihren Traum erfüllen, Schriftstellerin zu werden. Ihr erfolgreichstes Werk ist Holiday House, ein Roman für Kinder, der den seinerzeit ungewöhnlichen Versuch unternimmt, über das Leben von Kindern zu berichten, ohne dabei allzuviel zu moralisieren. Indirekt kommt die Moral aber durchaus vor, nämlich in Form von Geschichten, die die kindlichen Held_innen von Erwachsenen erzählt bekommen. Eine dieser Geschichten ist »Uncle David’s Nonsensical Story«.

Der Protagonist ist ein Junge, sichtlich aus dem gehobenen viktorianischen Bürgertum stammend, der Lernen und Schule hasst und Essen und Süßigkeiten über alles liebt. Eines Tages erscheinen ihm zwei Feen, die ihm anbieten, eine Zeit lang auf einem ihrer Schlösser zu leben. Auf dem Schloss von Fee Nr. 1 wird viel gelernt und gearbeitet, auf dem Schloss von Fee Nr. 2 gibt es degegen ein ununterbrochenes Festmahl. Der Protagonist entscheidet natürlich für die letztere Option, merkt aber bald, dass es alles andere als ein Vergnügen ist, pausenlos essen zu müssen. Außerdem weiß er nicht, dass Fee Nr. 2 mit einem menschenfressenden Riesen im Bund steht, der sich von den gemästeten Kindern ernährt, die in der Obhut der bösen Fee stehen. Helfen kann dem armen Jungen dann natürlich nur noch Fee Nr. 1.

Es handelt sich unübersehbar um eines jener Kunstmärchen, die eine allegorische Bedeutung zu verabreichen haben, und zwar mit einer Subtilität, die an einen Schlag mit der Bratpfanne auf den Kopf erinnert: Der Protagonist heißt Master No-book, die gute Fee trägt den Namen Teach-all und lebt im Palace of Knowledge, während ihre Gegenspielerin Do-nothing das Castle Needless bewohnt. Am Ende wird dann noch ausdrücklich erklärt, worauf es im Leben ankommt: »diligent, active, happy« zu sein und ja nicht zu faulenzen oder zu schlemmen. Hätte Tolkien für seine scharfen Worte gegen Allegorien in fairy-stories ein konkretes Beispiel gesucht, »Uncle David’s Nonsensical Story« wäre dafür wie geschaffen.

Natürlich legt Sinclair diese Moral einer Figur ihres Romans in den Mund, kennzeichnet sie gleich im Titel als Unsinnsgeschichte und lockert sie auch im Text durch ironische Übertreibungen auf. Man sollte sie daher nicht vorschnell mit den Ansichten der Autorin gleichsetzen. Ein Lesevergnügen ist die Geschichte aber ganz und gar nicht, sondern eigentlich nur von historischem Interesse, weil sie ein Beispiel dafür ist, wie in der viktorianischen Zeit versucht wurde, Kindern über das Erzählen von Geschichten eine zu Industrialisierung und Konkurrenzkapitalismus passende Arbeitsmoral einzuimpfen.

Der nächste Beitrag ist »Feathertop« (1846) von Nathaniel Hawthorne.

Dienstag, 9. Mai 2017

Tolkien: unverständlicher Nuschler oder Barde in der Met-Halle?

Was ich schon immer ein wenig rätselhaft fand: die verschiedenen Bemerkungen über Tolkiens Vorlesungsstil. Die einen schwören, JRRTs Vorlesungen über Beowulf seien ein unvergessliches Erlebnis gewesen und hätten den gesamten Hörsaal in ihren Bann gezogen, die anderen versichern, Tolkien habe nicht nur abwesend gewirkt, sondern auch so undeutlich gesprochen, dass man ihm kaum habe zuhören können. Möglicherweise lässt sich dieser Widerspruch aber auflösen.

Warum gibt es überhaupt so viele öffentliche Bemerkungen über Tolkiens Vorlesungsstil?

Sowohl Tolkien wie C. S. Lewis hatten unter ihren Studierenden eine ganze Reihe von Personen, die selber zu berühmten Schriftsteller_innen wurden. Darunter waren etwa W. H. Auden, A. S. Byatt, Susan Cooper, Alan Garner und Diana Wynne Jones. Das mag als Erinnerung daran dienen, was für eine ungemein akademische Angelegenheit das von Tolkien und Lewis ausgelöste britische Fantasy-Revival war. Es führte aber eben auch dazu, dass eine ganze Reihe von Anekdoten über die Lehrtätigkeit der beiden Inklings kursieren. Bei weiten am amüsantesten finde ich die folgende: Alan Garner übte nachts Abseiling aus dem Fenster seines College-Schlafzimmers. Aus unerfindlichen Gründen stand C. S. Lewis mitten in der Nacht an die Wand von Garners dormitory gelehnt. Garner landete mit seinen Füßen auf Lewis’ Schultern, der erschrocken schnaufte und davonrannte, ohne sich auch nur umzusehen, wer oder was ihn da getroffen hatte.

Tolkiens Redeweise

Menschen, die Tolkien interviewten, stimmen darin überein, dass Tolkien ausgesprochen undeutlich sprach. Er redete schnell, murmelte und wandte sich oft nicht der Person zu, die er ansprach. Außerdem rauchte er während des Gesprächs Pfeife, was die Verständlichkeit seiner Rede bestimmt nicht verbesserte. Letzteres wurde von Tolkien übrigens als Entschuldigung benutzt: Interviews seien ihm lästig, er brauche deshalb seine Pfeife, um seine Nerven zu beruhigen, und könne infolgedessen nicht deutlicher sprechen. In der Tat bekommt man bei Tolkiens Interviews nicht selten den Eindruck, er halte seine Gesprächspartner_innen und ihre Fragen für ausgesprochen dämlich (was m.E. daran liegt, dass zwischen Tolkien und der Mehrheit seiner Rezipient_innen eine beträchtliche kulturelle Lücke klaffte – ein Umstand, für den Tolkien wenig Geduld aufbrachte).

Für eine Ausrede halte ich die Tabakpfeife deshalb, weil eben auch über den Hochschullehrer Tolkien berichtet wird, er habe extrem unverständlich gesprochen, und ich nehme nicht an, dass Tolkien auch während seiner Vorlesungen rauchte. So erinnert sich Diana Wynne Jones:
[W]ell, Lewis lectured and Tolkien tried not to [...] He was totally inaudible and spoke with his face pressed against the chalk board. He was in the middle of writing the Lord of the Rings and wanted to get back to it, but he was being paid to lecture no matter how many students attended. Because we kept turning up he had to carry on, and what we did hear was very interesting.

Warum war das überhaupt ein Problem?

Klar, zu Tolkiens Zeit waren Hörsaale noch nicht mit Mikrophon und Lautsprecher ausgestattet. Bevor PA-Anlagen verfügbar waren, war die Zahl der Menschen, die einer öffentlichen Rede folgen konnten, sehr begrenzt. Es gibt sogar Anzeichen dafür, dass Hitlers Erfolg als Agitator sich u.a. darauf zurückführen lässt, dass er über die Gabe verfügte, stundenlang schreiend, mit sich überschlagender Stimme zu sprechen – und damit selbst die besoffen grölenden Faschistenhorden, die sein frühes Publikum bildeten, übertönte. (Später war Hitler, der ein Gespür für so etwas hatte, einer der ersten Politiker, der im Wahlkampf PA-Anlagen benutzte.)

Aber sollte man nicht meinen, dass in einem geschlossenen Saal voller andächtig lauschender Studierender selbst eine undeutliche Sprechweise wenigstens einigermaßen verständlich sein müsste, auch ohne technische Verstärkung? Ich glaube, dass hier ein heute kaum noch beachtetes sozialgeschichtliches Detail eine Rolle spielt: Zu Tolkiens Zeit als Dozent waren Gummisohlen noch kaum verbreitet. Fast alle Herrenschuhe hatten schwere Ledersohlen, die mit Nägeln am Schuh befestigt waren (und ich weiß gar nicht, wie eigentlich Damenschuhe besohlt waren). Beim Gehen in Innenräumen machten genagelte Schuhe einen Lärm, wie man ihn heute eigentlich nur noch aus Soundeffekten im Kino kennt. In Gebäuden wie Universitäten, Behörden, Bahnhöfen oder Kasernen herrschte ein unglaublicher Krach, einfach nur deshalb, weil in ihnen eine große Zahl Menschen in Straßenschuhen hin- und hergingen. In Häusern mit Geld mussten die Bediensteten eigens hergestellte Schuhe mit weichen Sohlen tragen, um die Herrschaften nicht durch das Geräusch ihrer Schritte zu stören.

Wenn in einem älteren Roman die Rede davon ist, dass aus dem Flur laut hallende Schritte näherkommen, ist das also nicht nur ein Kunstgriff, der dramatische Atmosphäre erzeugen soll, sondern entspricht durchaus der Realität. Und in den Hörsälen saßen die Studierenden natürlich auch nicht so still und andächtig, wie das vielleicht von ihnen erwartet wurde. In der Tat war es ganz einfach, die Vorlesung eines ungeliebten Professors zum Debakel zu machen. Man musste sich nur in einer Gruppe verabreden, während der Vorlesung mit den genagelten Sohlen über den Fußboden zu scharren, was ein nervtötendes Hintergrundgeräusch verursachte und den Herrn Professor spielend übertönte. Hinterher konnte einem niemand ins Gesicht sagen, die Veranstaltung absichtlich gestört zu haben.

Nun will ich nicht sagen, dass Tolkien per se ein unbeliebter Professor war, und er sprach wohl tatsächlich sehr undeutlich. Aber ein Dozent, der nicht gerade eine booming voice besaß (wie von Lewis übereinstimmend berichtet wird), hatte es zu JRRTs Zeiten nicht leicht, in allen Sitzreihen Gehör zu finden.

Fazit

Sieht man sich die rückblickenden Bemerkungen an, die über Tolkiens Vortragsstil gemacht wurden, fällt auf, dass positive Erinnerungen sich ausschließlich auf die Rezitationen aus dem Beowulf beziehen, die offenbar zu Tolkiens Vorlesungen gehörten. Exemplarisch stehen dafür die Worte, die Auden an Tolkien schrieb: »I don’t think that I have ever told you what an unforgettable experience it was for me as an undergraduate, hearing you recite Beowulf. The voice was the voice of Gandalf.« Andere berichten schwärmerisch, Tolkiens Vortrag der angelsächsischen Verse habe den Hörsaal in eine mittelalterliche Met-Halle verwandelt, in der ein Barde sein Lied anstimmt.

So scheint die Erklärung für die widersprüchlichen Erinnerungen zu sein: Tolkien konnte sehr gut rezitieren, war aber sehr schlecht darin, in eigenen Worten vorzutragen. Bereits vor längerer Zeit habe ich einmal eine Aussage Susan Coopers gelesen, die diese Vermutung bestätigt:
J.R.R. Tolkien and C.S. Lewis were both teaching when I was at Oxford and without a doubt influenced the lives of all of their students. As dons, they had set the rule that the Oxford English syllabus stop at 1832 and that it be heavy on Middle English and writers like Malory and Spenser, so, as a friend of mine says, they taught us to believe in dragons. They were both often to be seen drinking beer in a pub called the Eagle and Child, known as the Bird and Baby. I never personally met Tolkien or Lewis, and I’d never heard of Narnia, but we were all waiting eagerly for the third volume of The Lord of the Rings to come out, and I loved going to Lewis’s booming lectures on Renaissance literature. Tolkien lectured on Beowulf and was rather mumbly, except when declaiming the first lines of the poem in Anglo-Saxon, beginning with a great shout of “Hwaet!”
Auf diese Aussage bin ich in einem aktuellen Post auf dem Blog Tolkien and Fantasy erneut gestoßen, wo sie zitiert wird und somit den Anlass für diesen Text gibt.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.