Mittwoch, 19. Juni 2013

Kalifornien, Insel der Kriegerinnen und Greifen

Opulent ausgestattete Bildbände mit Titeln wie Atlas der fiktiven Orte und Atlas der legendären Länder erfreuen sich momentan einiger Beliebtheit. Letzteren habe ich mir angesehen und fand ihn interessant, kann mich letztlich aber nicht zu einer wirklichen Empfehlung durchringen. Zu sehr schwelgt das Buch in den kolonialen Bildwelten seines Kartenmaterials, zu sehr hält sich die Autorin, Judyth A. McLeod, damit auf, die falschen Annahmen und fehlerhaften Daten hervorzuheben, auf denen die kartographische Darstellung legendärer Länder beruht, zu wenig wird der Kontext erhellt, in dem diese Karten entstanden. Welche kulturelle Funktion hatte es, die meist nur erahnten und manchmal gänzlich erfundenen Länder zu kartographieren, die man erobern wollte? Oft ist in dem Buch der Zusammenhang mehr zu erahnen, als dass er erläutert würde. Eine Ausnahme stellt das Kapitel über die Karten Amerikas kurz nach seiner »Entdeckung« dar: Noch lange nach 1492 wurde Amerika als ein schmaler, langgezogener Landstreifen dargestellt, der schnell in Richtung Westen zu durchqueren wäre. Die Erklärung dafür ist, dass man immer noch hoffte, auf kurzem Weg an die Reichtümer Asiens zu gelangen, weshalb man Amerika als vernachlässigbares Hindernis auf diesem Weg imaginierte. Die Eroberer gestalteten sich die Welt nach ihren Wünschen. Erst später, als die Hoffnung auf einen schnellen Seeweg nach Indien in den Hintergrund getreten war, begann man, sagenhaft reiche Phantasieländer wie El Dorado auf dem amerikanischen Kontinent anzusiedeln.

Manchmal geschah dies mit einer so überschießenden Kraft der Imagination, dass die sagenhaften Länder geradezu subversiven Charakter annahmen. So stellte man sich Kalifornien lange Zeit als eine westlich vom nordamerikanischen Kontinent gelegene Insel vor. Die Insel Kalifornien wurde von schwarzen Kriegerinnen bewohnt, über die die Königin Califia herrschte. Califia gebot über eine Luftflotte von Greifen, deren Aufgabe es war, Männer am Betreten der Insel zu hindern. In Garci Rodríguez de Montalvos Ritterroman Las sergas de Esplandián, der um 1500 herum erschien, beteiligen sich Califia und ihre Kriegerinnen, gekleidet in goldene Rüstungen, an einer muslimischen Belagerung Konstantinopels. Eine bemerkenswerte Zusammenstellung von Motiven: Die Subversion der Geschlechterrollen wird mit den muslimischen »Anderen« und dem erhofften Goldreichtum Amerikas verknüpft.

Hernán Cortés, der blutrünstige Eroberer Mexikos, hatte Rodríguez de Montalvas Roman gelesen, und sandte Expeditionen aus, um die mythische Insel Kalifornien zu finden. 1534 landete eine von ihnen tatsächlich in Baja California. Hat nicht jemand Lust, eine Fantasy zu schreiben, in der Königin Califia mit ihren Kriegerinnen und Greifen der Bevölkerung Mexikos zu Hilfe kommt und Cortés und seine Leute besiegt? Ich würde das sofort lesen!

2 Kommentare:

mistkaeferl hat gesagt…

Ja, das klingt gut! Das lese ich auch!
Die besagten Bildbände habe ich mir auch angesehen - ich bin für sowas ja durchaus empfänglich -, bin aber zu ähnlichen Schlüssen gekommen. Da wird mE immer dasselbe ziemlich unoriginell reproduziert.
In vielen Büchern mit Fokus auf Kartenmaterial ist es meiner Erfahrung nach auch ein Problem, dass man sozusagen mit geodätischem Blick an ganz andere Kartenkonzepte herangeht und damit ihre Wertigkeit beurteilt.

JL hat gesagt…

Ein schönes Buch für Phantastikliebhaber ist auch der "Dictionary of Imaginary Places" von A. Manguel u.a., wobei ich auch hier gestehen muss, dass ich eigentlich nur gelegentlich darin blättere, weil es jetzt nicht sooo den Mehrwert gegenüber z.B. der Encyclopedia of Fantasy bietet. Die Reiseführer-Perspektive der Einträge ist aber wirklich nett.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.