Samstag, 18. Mai 2013

How Few Remain

How Few Remain ist der Auftakt von Harry Turtledoves elfbändiger Alternate-History-Reihe über die konfliktreichen Beziehungen, die Union und Konföderierte nach einem Sieg des Südens im Sezessionskrieg unterhalten. Als Divergenzpunkt dient dabei ein Ereignis, welches sich im Vorfeld der Schlacht am Antietam abspielte: In der realen Geschichte fiel dem Nordstaatengeneral George McClellan ein Dokument mit Robert E. Lees Invasionsplänen in die Hände, und es gelang ihm in der Folge, Lees Vormarsch aufzuhalten. In Turtledoves Alternativgeschichte bemerkt der Kurier, der das schlachtenentscheidende Dokument in Lees Auftrag transportiert, im letzten Moment den Verlust und kann das Papier wieder an sich nehmen. Die Nordstaaten erleben eine Niederlage, die Emanzipationserklärung bleibt in der Schublade und die Unabhängigkeit der sklav_innenhaltenden Südstaaten wird international anerkannt.

So schildert es Turtledoves Prolog, während die eigentliche Romanhandlung in den 1880er Jahren einsetzt. Das macht an dieser Stelle eine kurze Erklärung notwendig: How Few Remain ist keine Fortsetzung von Turtledoves früherem Alternate-History-Roman The Guns of the South (1992), der ebenfalls einen, allerdings aus gänzlich anderen Gründen erfolgenden Sieg der Südstaaten schildert. Turtledove erzählt also zwei unterschiedliche Versionen eines Triumphs der Konföderierten, die sich nicht synchronisieren lassen – alle Fans, die sich gern mit solcher Konkordanzarbeit befassen und How Few Remain noch nicht gelesen haben, seien hiermit gewarnt.

Und wie sieht das Nordamerika von How Few Remain aus? In den Nordstaaten wird zum ersten Mal seit dem verlorenen Krieg ein republikanischer Präsident gewählt (James G. Blaine, der in der realen Geschichte die Wahlen von 1884 nicht für sich entscheiden konnte). Samuel Clemens lebt als Journalist in San Francisco und hat sich nicht dazu entschließen können, unter dem Pseudonym Mark Twain zum Romancier zu werden. Abraham Lincoln ist in den Nord- wie in den Südstaaten (natürlich aus je unterschiedlichen Gründen) der Buhmann der Nation. In seiner eigenen Partei ist er zum Außenseiter geworden. Er widmet sich jedoch mit unverminderter Tatkraft einem neuen Anliegen: Nach der Lektüre von Marx’ Schriften hofft er, die Republikaner zu einer Arbeiterpartei umschmieden zu können. Während er als sozialistischer Agitator durchs Land reist, wird er von der Arbeiter_innenbewegung gefeiert und vom Rest der Gesellschaft als gefährlicher Unruhestifter verdammt. Für mich eine der sympathischsten Figuren von How Few Remain.

In den Südstaaten ist Pete Longstreet Präsident, der als General eine der Schlüsselfiguren in der Schlacht von Gettysburg war. Longstreet, von Turtledove als gewiefter Politiker gezeichnet, kauft dem Kaiserreich Mexiko die departamentos Sonora und Chihuahua ab. Das Kaiserreich, von einem siegreichen Maximilian von Habsburg regiert (der genau wie in der realen Geschichte eine Marionette Frankreichs ist), will durch den Gebietsverkauf seine leere Staatskasse füllen. Longstreet verschafft seiner Konföderation damit einen Zugang zum Pazifik.

Die Vereinigten Staaten wollen den Gebietszuwachs des Südens nicht hinnehmen und erklären der Konföderation den Krieg. Das stellt sich als reichlich unbedachter Schritt heraus, denn während der Süden über den draufgängerischen Stonewall Jackson als General-in-Chief verfügt, werden die Truppen des Nordens von dem chaotischen William Rosecrans befehligt. Zudem hat der Süden sich von der USA-typischen Isolationspolitik abgewandt und ist ein Bündnis mit Frankreich und Großbritannien eingegangen. Die beiden europäischen Mächte sind bereit, die Konföderation in einem neuerlichen Krieg zu unterstützen, verlangen aber im Gegenzug die Abschaffung der Sklaverei. Longstreet ist dazu bereit, kalkuliert jedoch, dass die Sklaverei nur der Form halber aufgehoben wird und der rassistische Status quo weitgehend erhalten bleibt (obwohl dem erzkonservativen Jackson schon dieser Schritt im Grunde zu weit geht). Die Nordstaaten stehen dagegen allein da und sind mit der Lage (politisch wie militärisch) hoffnungslos überfordert. Alfred von Schlieffen, deutscher Militärattaché in den USA, empfiehlt Rosecrans für die Zukunft ein Bündnis mit dem Deutschen Reich und die Einrichtung eines Generalstabs nach preußischem Vorbild.

Soviel zur Story von How Few Remain. Die meisten der bisher genannten Figuren sind Viewpoint-Charaktere. Von diesen gibt es noch einige mehr (allesamt historische Personen), die ich nicht einzeln aufzählen möchte. Genannt seien nur noch der berühmte Abolitionist Frederick Douglass und der Indianer_innenschlächter George Armstrong Custer. Douglass erhofft sich vom zweiten Krieg gegen die Südstaaten die endliche Befreiung der schwarzen Bevölkerung von der Sklaverei; sehr eindringlich wird dabei geschildert, wie die Schwarzen im Norden zu Sündenböcken des verlorenen ersten Krieges gemacht werden. Abe Lincoln hofft, Douglass für sein Projekt einer republikanischen Arbeiterpartei gewinnen zu können. Der jedoch weist Lincolns Gleichsetzung von Lohnsklaverei und wirklicher Sklaverei zurück und ist nicht bereit, den Kampf gegen letztere irgendwelchen anderen Erwägungen unterzuordnen. Custer ist dagegen eine ausgesprochene Arschlochfigur (kein Wunder, wenn man sich den Custer der realen Historie ansieht). Im Roman ist er damit beschäftigt, einen mormonischen Aufstand gegen die US-Regierung niederzuschlagen – denn die mormonische Führung will den Krieg ausnutzen, um der Zentralregierung das Recht zur Polygamie abzupressen.

Nicht alle Handlungsstränge bzw. POV-Charaktere sind gleichermaßen gelungen. Die nuanciertesten Figuren sind Douglass und Lincoln. Sehr amüsant ist der Englisch mit deutschem Einschlag sprechende Schlieffen, der regelmäßig mit preußischem Entsetzen über die Sorglosigkeit und Improvisierlust der US-Befehlshaber die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Andere POVs sind mitunter etwas schemenhaft, tragen aber durchaus dazu bei, dem von Turtledove gezeichneten alternativgeschichtlichen Bild Farbe zu verleihen. Nur eingeschränkt lässt sich das von dem sich um Samuel Clemens (alias Mark Twain, aber nur in der realen Geschichte) entspinnenden Subplot sagen, der seltsam unverbunden neben der restlichen Handlung herläuft. Das hätte es nicht unbedingt gebraucht. Mein Gesamteindruck ist dennoch positiv.

How Few Remain von Harry Turtledove (609 Seiten) ist gegenwärtig als Taschenbuch und E-Book von Del Rey erhältlich. Die Erstausgabe erschien 1997.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.