Samstag, 31. Dezember 2011
Donnerstag, 22. Dezember 2011
Die Dame vom See
Vor einer Weile hatte ich einen skurrilen Gedanken – na ja, jedenfalls fand ich ihn skurril: Jahrelang war ich ein hochnäsiger und überzeugter Verächter neuerer Fantasy. Fantasy war für mich ganz klar ein eng definierter Kanon von Klassikern, der vor allem J. R. R. Tolkien, T. H. White und C. S. Lewis umfasste. Über fast alles andere im Genre rümpfte ich ignorant die Nase und hielt es für Schund. Darüber nachdenkend, warum sich diese meine jugendlich-unwissend-tumbe Haltung eigentlich verändert hat, kam mir die Erkenntnis, dass es vor allem drei Leseerlebnisse waren (jetzt kommt’s), nämlich Harry Potter, A Song of Ice and Fire und Andrzej Sapkowskis Geralt-Geschichten. Alle drei zusammen lösten in mir eine bleibende Begeisterung aus, die mich durch ihre nicht auf den Akt des Lesens beschränkte Dauer auch auf andere, vergleichbare Literatur neugierig werden oder mich Bücher, die ich bereits abgetan hatte, mit neuen Augen sehen ließ. Tja, durch solche Leseerlebnisse wird man wohl zum Fan, und wahrscheinlich ist jeder Fan (jede Fanin) im Grunde einfach das: nostalgisch. Ich muss mich wohl daran gewöhnen, dass ich noch öfter auf diese Leseerlebnisse als etwas Entscheidendes in meinem Druckfarbenfresserleben zurückblicken werde (in my bookish life, könnte ich auf englisch sagen, denn es gibt keine vernünftige Übersetzung für bookish). Ist das schlimm? Ich glaube nicht. Das utopische Potential solcher Nostalgie ist wahrscheinlich weitaus höher als das traditionalistische Hüten und Einhegen eines Kanons – darauf bestehe ich jetzt einfach mal, um das hier nicht in eine Meditation über das Älter- und Weiserwerden abgleiten zu lassen. Also zur Sache.
Die Dame vom See ist in jeder Hinsicht ein würdiger Abschluss für Sapkowskis Denkwürdigkeiten über den Hexer Geralt. Zum einen, weil darin all das, was die vorangegangenen Bände so großartig gemacht hat, noch einmal aufgenommen und intoniert wird. Zum Beispiel der Umgang mit Charakteren: Sapkowski ist vielleicht der erste, der ein eigentlich typisches Merkmal epischer Fantasy – eine große, geradezu unübersichtliche Anzahl von Charakteren – wirklich als Stilmittel einsetzt. Die Wesen, die Geralts Welt bevölkern sind nicht bloße Funktion für die Handlung, sondern machen diese Welt erst lebendig, so dass man wirklich keins von ihnen missen möchte. So prägnant ist noch der kürzeste Auftritt. Es bestätigt sich in Die Dame vom See auch Sapkowskis Fähigkeit, an jedes Thema auf eine Weise heranzugehen, als sei es seines. Nichts, was er anpackt, scheint zu groß zu sein. Es gibt Autor_innen, bei denen – so mitreißend sie sonst auch erzählen – mir immer wieder auffällt, dass sie über Dinge schreiben wollen, deren Bedeutsamkeit (oder auch: deren Widersetzlichkeit aller Sinnstiftung gegenüber) ihnen nicht aufgeht. Es gibt Dinge, die man nicht einfach als eine Episode unter anderen behandeln kann, und es doch zu tun, ist eine schlimme Versuchung für Schriftsteller*innen. Bei Sapkowski ist das nie so. Wenn er über sexualisierte Gewalt, Kindersoldat*innen, Sadismus, politische Intrigen oder Völkermord schreibt – und er schreibt in den Geralt-Romanen eine Menge darüber –, dann ist das nie einebnend, verharmlosend oder Haschen nach Effekten, auch kein privilegiertes Betroffenheitsgetue. Sapkowski weiß um die Konsequenzen und versucht gar nicht erst, über die Brüche und die Wunden hinwegzugehen, als wäre nichts gewesen.
Und das ist das andere, was so großartig ist. Der Geralt-Zyklus verhält sich zur epischen Fantasy wie die besten Italowestern zum klassischen US-Western: Er nimmt einen Mythos auf, zerbricht ihn in tausend Scherben und zeigt in den ins Auge stechenden Reflektionen das Gehalt dessen, was zuvor in gewollter Naivität erzählt wurde. Diese Naivität lässt sich mit Sapkowski nicht mehr beibehalten, denn Vorsicht: Wenn man nach den Scherben greift, schneidet man sich in die Finger und es quillt Blut hervor. Erkennbar vor allem an der Schlachtenszene, die für mich den erzählerischen Mittelpunkt von Die Dame vom See darstellt und an Intensität und Gebrochenheit kaum zu überbieten ist. Sapkowski nutzt Zynismus, Gewaltdarstellung und scheiterndes Heldentum, um unerwartete Menschlichkeit zu zeigen. Bei anderen Büchern kann ich beurteilen und abwägen. Hier muss ich staunen.
Ha, jetzt fällt mir kein Schlusswort mehr ein. Braucht es vielleicht auch gar nicht, weil ich das, was ich bisher an Lob formuliert habe, damit ja ohnehin nur unterbieten kann. Hoffentlich kann ich auch weiterhin noch viel Sapkowski lesen – mehr muss ich eigentlich gar nicht sagen.
Die Dame vom See (639 Seiten) ist der siebte Band der Hexer-Saga und 2011 bei dtv erschienen. Die Übersetzung besorge Erik Simon.
Die Dame vom See ist in jeder Hinsicht ein würdiger Abschluss für Sapkowskis Denkwürdigkeiten über den Hexer Geralt. Zum einen, weil darin all das, was die vorangegangenen Bände so großartig gemacht hat, noch einmal aufgenommen und intoniert wird. Zum Beispiel der Umgang mit Charakteren: Sapkowski ist vielleicht der erste, der ein eigentlich typisches Merkmal epischer Fantasy – eine große, geradezu unübersichtliche Anzahl von Charakteren – wirklich als Stilmittel einsetzt. Die Wesen, die Geralts Welt bevölkern sind nicht bloße Funktion für die Handlung, sondern machen diese Welt erst lebendig, so dass man wirklich keins von ihnen missen möchte. So prägnant ist noch der kürzeste Auftritt. Es bestätigt sich in Die Dame vom See auch Sapkowskis Fähigkeit, an jedes Thema auf eine Weise heranzugehen, als sei es seines. Nichts, was er anpackt, scheint zu groß zu sein. Es gibt Autor_innen, bei denen – so mitreißend sie sonst auch erzählen – mir immer wieder auffällt, dass sie über Dinge schreiben wollen, deren Bedeutsamkeit (oder auch: deren Widersetzlichkeit aller Sinnstiftung gegenüber) ihnen nicht aufgeht. Es gibt Dinge, die man nicht einfach als eine Episode unter anderen behandeln kann, und es doch zu tun, ist eine schlimme Versuchung für Schriftsteller*innen. Bei Sapkowski ist das nie so. Wenn er über sexualisierte Gewalt, Kindersoldat*innen, Sadismus, politische Intrigen oder Völkermord schreibt – und er schreibt in den Geralt-Romanen eine Menge darüber –, dann ist das nie einebnend, verharmlosend oder Haschen nach Effekten, auch kein privilegiertes Betroffenheitsgetue. Sapkowski weiß um die Konsequenzen und versucht gar nicht erst, über die Brüche und die Wunden hinwegzugehen, als wäre nichts gewesen.
Und das ist das andere, was so großartig ist. Der Geralt-Zyklus verhält sich zur epischen Fantasy wie die besten Italowestern zum klassischen US-Western: Er nimmt einen Mythos auf, zerbricht ihn in tausend Scherben und zeigt in den ins Auge stechenden Reflektionen das Gehalt dessen, was zuvor in gewollter Naivität erzählt wurde. Diese Naivität lässt sich mit Sapkowski nicht mehr beibehalten, denn Vorsicht: Wenn man nach den Scherben greift, schneidet man sich in die Finger und es quillt Blut hervor. Erkennbar vor allem an der Schlachtenszene, die für mich den erzählerischen Mittelpunkt von Die Dame vom See darstellt und an Intensität und Gebrochenheit kaum zu überbieten ist. Sapkowski nutzt Zynismus, Gewaltdarstellung und scheiterndes Heldentum, um unerwartete Menschlichkeit zu zeigen. Bei anderen Büchern kann ich beurteilen und abwägen. Hier muss ich staunen.
Ha, jetzt fällt mir kein Schlusswort mehr ein. Braucht es vielleicht auch gar nicht, weil ich das, was ich bisher an Lob formuliert habe, damit ja ohnehin nur unterbieten kann. Hoffentlich kann ich auch weiterhin noch viel Sapkowski lesen – mehr muss ich eigentlich gar nicht sagen.
Die Dame vom See (639 Seiten) ist der siebte Band der Hexer-Saga und 2011 bei dtv erschienen. Die Übersetzung besorge Erik Simon.
Labels:
Rezensionen
Grim and Gritty: Squealing Piggies
Debatte über die Darstellung (sexualisierter) Gewalt in der Grim-and-Gritty-Fantasy. Anlass war ein Post auf Requires Only That You Hate über Joe Abercrombies Last Argument of Kings. Daraufhin entwickelte sich eine eklige Diskussion im Forum von Westeros.org.* Larry vom OF Blog, der die Diskussion durch einen Link unabsichtlich auslöste, hat einen eigenen Post zum Thema geschrieben. Einen thematischen Zusammenhang gibt es auch mit Liz Bourkes Rezension von Mark Lawrence’ Prince of Thorns und Leo Cristeas Apologie von Lawrence’ Roman. Auf Requires Only That You Hate gibt es hier und hier Entgegnungen auf die Forumsdiskussion und Cristeas Post.
Die entscheidende Frage für mich: Was geht eigentlich in all den Hirnen vor, die meinen, ausnamslos jeden Aspekt der Literatur, die sie gern lesen, zu bejubeln und bedingungslos zu verteidigen? Anders formuliert: Warum sind bloß so beträchtlich viele Fantasy-Leser_innen Fanboys im schlimmsten Sinne des Wortes, die jede kritische Betrachtung ihrer Wichslektüre** für einen inakzeptablen Angriff halten? Einfach mal innehalten und denken: Kritik ist kein Fremdwort für »Find ich irgendwie doof«. Kritik im hier relevanten Kontext heißt, einen Gegenstand (in diesem Fall Bücher) nach zuvor ausgewählten Kriterien zu überprüfen. Und ein solches Kriterium kann z.B. die Frage sein, was eigentlich die Gewaltdarstellung in all den Werken macht, die in den letzten Jahren die Diskussion über Fantasy bestimmt haben.
Problem: Ich glaube, dass immer noch weitgehend unklar ist, was die Gewalt in den Grim-and-Gritty-Fantasies eigentlich soll. Es gibt Genres, in denen Gewaltdarstellung einer mehr oder weniger deutlich erkennbaren Symbol- oder Verweisfunktion folgt. Im Splatterfilm ist die Gewalt Parodie, im klassischen Ami-Horror ist sie Metapher für all das, was Jugendliche durchmachen – in der Familie, im Umgang mit der Sexualität und in der Hölle auf Erden, der Schule. Das ist anders in den typischen Fantasies der letzten Jahre. Geht es um den Sinn ihrer Gewaltdarstellung, herrscht weitgehende Ratlosigkeit. Parodistisch ist sie erkennbar nicht, denn die splattertypische Überdrehtheit fehlt völlig. Und wenn sie metaphorisch zu verstehen sein soll, verschiebt das die Frage nur, ohne sie zu beantworten, so lange niemand zu sagen vermag, was denn der Sinn der Metapher sein soll.
Oft wird gesagt, die massive Darstellung von Metzeleien und sexualisierter Gewalt sei ein Realismuseffekt. Seltsamerweise wird das vor allem von Leuten postuliert, die selber aller nach Wahrscheinlichkeit noch nie vergewaltigt wurden und in ihrem Alltag auch nicht gerade Gefahr laufen, von marodierenden Bewaffneten zu Tode gefoltert zu werden. Also was, zum Geier, ist dann das Realistische daran? Denn man kann wohl getrost voraussetzen, dass das Prädikat »realistisch« hier im Sinne von »der Wirklichkeit entsprechend« verwendet wird. Wenn man aber auf dem Realismusprädikat für die zahlreichen Gewalt- und Vergewaltigungsszenen, welche die Fantasy nun schon seit einiger Zeit prägen, besteht und sie als notwendig verteidigt – tja, dann muss man als weißer Mittelklasse-Fanboy, der sich in seiner Freizeit an finsteren, blutigen und chauvinistischen Beschreibungen von Dingen ergötzt, die ihm selbst nie widerfahren werden, aushalten, wenn Menschen, die sich potentiell oder tatsächlich in einer ganz anderen Lage befinden, einem völlig zu recht ans Bein pinkeln. Der weiße Mittelklasse-Fanboy vergisst nämlich allzuleicht, dass auch andere Menschen Fantasy lesen und diskutieren, darunter solche, die eigene Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht haben, oder auch solche, die aus verschiedenen Gründen Empathie eher für diejenigen empfinden, welche die Gewalt abkriegen, und nicht mit denjenigen, welche die Gewalt ausüben.
Ich will nicht verhehlen, dass ich selber auch keine richtige Antwort darauf habe, was die Gewalt in der Grim-and-Gritty-Fantasy denn nun wirklich soll. Ich bin geneigt anzunehmen, dass sie Teil des programmatischen disillusionment sind, welches die Gruppe der Grim-and-Gritty-Autor_innen sich auf die Fahnen geschrieben hat: Die Auflösung vermeintlich genretypischer Konventionen wie strikte Gut-Böse-Dichotomie, generischer Handlungsverlauf mit abschließender Rettung der Welt etc. Sollte dem so sein, dann liegt dennoch auf der Hand, dass eine für diesen Zweck vorgenommene Betonung von Gewalt auch degenerieren kann. In der Tat ist das schon geschehen. Richard Morgan etwa verkauft die Inhalte des Grim-and-Gritty-Programms gern als Ausdruck von neuerlangter Reife und generellem »Erwachsensein« des Genres, und wirft denjenigen, die einen kritischeren Zugang vertreten, folgerichtig vor, sie seien kindisch.*** Damit beweist er im Grunde nur, dass er selbst geistig und emotional nicht über das Niveau eines Zwölfjährigen hinausgekommen ist (warum sonst sollte er dermaßen darauf insistieren, wie groß er schon ist), aber sein Vorgehen verfehlt seine Wirkung nicht. Es lässt sich heutzutage nicht selten beobachten, dass in der klassischen High-Fantasy-Tradition stehende Werke unter weitgehender Missachtung der Genre-Geschichte in die Jugendbuchschublade gesteckt werden. Erschienen die großen Werke der post-tolkienischen High Fantasy, wie Patricia A. McKillips Riddle-Master, Guy Gavriel Kays Fionavar Tapestry oder meinetwegen auch Terry Brooks’ Sword of Shannara, im Hier und Heute, würden sie dann auch im YA-Segment katalogisiert? Würde Richard Morgan beim Wort genommen, dann wäre die Antwort klar: Wenn darin nicht ausdauernd geflucht, gemetzelt und vergewaltigt wird, ist’s nur für Kinder.
Es lässt sich nicht leugnen, dass ein Genre, welches ausgerechnet die plastische Darstellung von Gewalt und sexuellem Missbrauch für den Ausdruck emotionaler und intellektueller Reife par excellence hielte, ein ernsthaftes Problem hätte. Mein Eindruck ist aber, dass die Grim-and-Gritty-Fantasy mit Martin, Erikson und Bakker ihren Höhepunkt im Grunde schon hinter sich hat. Ihre Breitenwirkung hat sie mit Game of Thrones vom Romanzyklus an ein anderes Medium abgegeben. Morgans peinliche Auslassungen über Reife und Erwachsensein und Schrott wie Mark Lawrence’ Prince of Thorns sind dagegen Degenerationserscheinungen eines im Rückzug begriffenen Trends, in denen die Gewaltdarstellung vom disillusionment zum Selbstzweck geworden ist. Das wird die Fanboys natürlich auch in Zukunft nicht davon abhalten, auf jegliche Kritik mit empörtem Quieken zu reagieren (im Gegenteil). Sollen sie halt. Ich bin eher gespannt darauf, welche Fantasy nach der Grim-and-Gritty-Welle geschrieben wird, auch wenn wohl nicht damit zu rechnen ist, dass epische Sekundärwelt-Fantasy so bald wieder eine ähnliche Breitenwirkung entfalten wird, wie sie das gegenwärtig noch tut.
* Und zwar wirklich eklig. Der Thread enthält eine Menge – gewollte oder ungewollte – Verharmlosung von sexualisierter Gewalt. Kann man sich also überlegen, ob man sich so was wirklich geben will.
** Damit meine ich nicht, dass das Grim-and-Gritty-Zeug zu nichts anderem taugt als zur Wichsvorlage, sondern eher, dass die in Frage stehenden Bücher von ihren glühenden Fans häufig zu einer solchen reduziert werden.
*** So schon in seiner Attacke gegen Tolkien im Jahre 2009, und auch in der jetzigen Diskussion.
Die entscheidende Frage für mich: Was geht eigentlich in all den Hirnen vor, die meinen, ausnamslos jeden Aspekt der Literatur, die sie gern lesen, zu bejubeln und bedingungslos zu verteidigen? Anders formuliert: Warum sind bloß so beträchtlich viele Fantasy-Leser_innen Fanboys im schlimmsten Sinne des Wortes, die jede kritische Betrachtung ihrer Wichslektüre** für einen inakzeptablen Angriff halten? Einfach mal innehalten und denken: Kritik ist kein Fremdwort für »Find ich irgendwie doof«. Kritik im hier relevanten Kontext heißt, einen Gegenstand (in diesem Fall Bücher) nach zuvor ausgewählten Kriterien zu überprüfen. Und ein solches Kriterium kann z.B. die Frage sein, was eigentlich die Gewaltdarstellung in all den Werken macht, die in den letzten Jahren die Diskussion über Fantasy bestimmt haben.
Problem: Ich glaube, dass immer noch weitgehend unklar ist, was die Gewalt in den Grim-and-Gritty-Fantasies eigentlich soll. Es gibt Genres, in denen Gewaltdarstellung einer mehr oder weniger deutlich erkennbaren Symbol- oder Verweisfunktion folgt. Im Splatterfilm ist die Gewalt Parodie, im klassischen Ami-Horror ist sie Metapher für all das, was Jugendliche durchmachen – in der Familie, im Umgang mit der Sexualität und in der Hölle auf Erden, der Schule. Das ist anders in den typischen Fantasies der letzten Jahre. Geht es um den Sinn ihrer Gewaltdarstellung, herrscht weitgehende Ratlosigkeit. Parodistisch ist sie erkennbar nicht, denn die splattertypische Überdrehtheit fehlt völlig. Und wenn sie metaphorisch zu verstehen sein soll, verschiebt das die Frage nur, ohne sie zu beantworten, so lange niemand zu sagen vermag, was denn der Sinn der Metapher sein soll.
Oft wird gesagt, die massive Darstellung von Metzeleien und sexualisierter Gewalt sei ein Realismuseffekt. Seltsamerweise wird das vor allem von Leuten postuliert, die selber aller nach Wahrscheinlichkeit noch nie vergewaltigt wurden und in ihrem Alltag auch nicht gerade Gefahr laufen, von marodierenden Bewaffneten zu Tode gefoltert zu werden. Also was, zum Geier, ist dann das Realistische daran? Denn man kann wohl getrost voraussetzen, dass das Prädikat »realistisch« hier im Sinne von »der Wirklichkeit entsprechend« verwendet wird. Wenn man aber auf dem Realismusprädikat für die zahlreichen Gewalt- und Vergewaltigungsszenen, welche die Fantasy nun schon seit einiger Zeit prägen, besteht und sie als notwendig verteidigt – tja, dann muss man als weißer Mittelklasse-Fanboy, der sich in seiner Freizeit an finsteren, blutigen und chauvinistischen Beschreibungen von Dingen ergötzt, die ihm selbst nie widerfahren werden, aushalten, wenn Menschen, die sich potentiell oder tatsächlich in einer ganz anderen Lage befinden, einem völlig zu recht ans Bein pinkeln. Der weiße Mittelklasse-Fanboy vergisst nämlich allzuleicht, dass auch andere Menschen Fantasy lesen und diskutieren, darunter solche, die eigene Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht haben, oder auch solche, die aus verschiedenen Gründen Empathie eher für diejenigen empfinden, welche die Gewalt abkriegen, und nicht mit denjenigen, welche die Gewalt ausüben.
Ich will nicht verhehlen, dass ich selber auch keine richtige Antwort darauf habe, was die Gewalt in der Grim-and-Gritty-Fantasy denn nun wirklich soll. Ich bin geneigt anzunehmen, dass sie Teil des programmatischen disillusionment sind, welches die Gruppe der Grim-and-Gritty-Autor_innen sich auf die Fahnen geschrieben hat: Die Auflösung vermeintlich genretypischer Konventionen wie strikte Gut-Böse-Dichotomie, generischer Handlungsverlauf mit abschließender Rettung der Welt etc. Sollte dem so sein, dann liegt dennoch auf der Hand, dass eine für diesen Zweck vorgenommene Betonung von Gewalt auch degenerieren kann. In der Tat ist das schon geschehen. Richard Morgan etwa verkauft die Inhalte des Grim-and-Gritty-Programms gern als Ausdruck von neuerlangter Reife und generellem »Erwachsensein« des Genres, und wirft denjenigen, die einen kritischeren Zugang vertreten, folgerichtig vor, sie seien kindisch.*** Damit beweist er im Grunde nur, dass er selbst geistig und emotional nicht über das Niveau eines Zwölfjährigen hinausgekommen ist (warum sonst sollte er dermaßen darauf insistieren, wie groß er schon ist), aber sein Vorgehen verfehlt seine Wirkung nicht. Es lässt sich heutzutage nicht selten beobachten, dass in der klassischen High-Fantasy-Tradition stehende Werke unter weitgehender Missachtung der Genre-Geschichte in die Jugendbuchschublade gesteckt werden. Erschienen die großen Werke der post-tolkienischen High Fantasy, wie Patricia A. McKillips Riddle-Master, Guy Gavriel Kays Fionavar Tapestry oder meinetwegen auch Terry Brooks’ Sword of Shannara, im Hier und Heute, würden sie dann auch im YA-Segment katalogisiert? Würde Richard Morgan beim Wort genommen, dann wäre die Antwort klar: Wenn darin nicht ausdauernd geflucht, gemetzelt und vergewaltigt wird, ist’s nur für Kinder.
Es lässt sich nicht leugnen, dass ein Genre, welches ausgerechnet die plastische Darstellung von Gewalt und sexuellem Missbrauch für den Ausdruck emotionaler und intellektueller Reife par excellence hielte, ein ernsthaftes Problem hätte. Mein Eindruck ist aber, dass die Grim-and-Gritty-Fantasy mit Martin, Erikson und Bakker ihren Höhepunkt im Grunde schon hinter sich hat. Ihre Breitenwirkung hat sie mit Game of Thrones vom Romanzyklus an ein anderes Medium abgegeben. Morgans peinliche Auslassungen über Reife und Erwachsensein und Schrott wie Mark Lawrence’ Prince of Thorns sind dagegen Degenerationserscheinungen eines im Rückzug begriffenen Trends, in denen die Gewaltdarstellung vom disillusionment zum Selbstzweck geworden ist. Das wird die Fanboys natürlich auch in Zukunft nicht davon abhalten, auf jegliche Kritik mit empörtem Quieken zu reagieren (im Gegenteil). Sollen sie halt. Ich bin eher gespannt darauf, welche Fantasy nach der Grim-and-Gritty-Welle geschrieben wird, auch wenn wohl nicht damit zu rechnen ist, dass epische Sekundärwelt-Fantasy so bald wieder eine ähnliche Breitenwirkung entfalten wird, wie sie das gegenwärtig noch tut.
* Und zwar wirklich eklig. Der Thread enthält eine Menge – gewollte oder ungewollte – Verharmlosung von sexualisierter Gewalt. Kann man sich also überlegen, ob man sich so was wirklich geben will.
** Damit meine ich nicht, dass das Grim-and-Gritty-Zeug zu nichts anderem taugt als zur Wichsvorlage, sondern eher, dass die in Frage stehenden Bücher von ihren glühenden Fans häufig zu einer solchen reduziert werden.
*** So schon in seiner Attacke gegen Tolkien im Jahre 2009, und auch in der jetzigen Diskussion.
Labels:
Debatten,
Grim and Gritty
Mittwoch, 21. Dezember 2011
Ja, Virginia, die Beatles kommen vom Nerdpol ...
Neuer E-Book-Verlag für deutschsprachige Fantasy am Start: Nerdpol. Nach allem, was man so hört, soll es da um Kurzgeschichten von bereits veröffentlichten Autor_innen* gehen, die im digitalen Format für mehr als 99 Cent zum Verkauf angeboten werden. Bereits veröffentlichte Autor_innen? Mehr als 99 Cent? Wenn da nicht mal eine verborgene Agenda drinsteckt! Soll E-Books, also den Billig-Callgirls der Kulturindustrie, durch geschicktes Marketing ein seriöser Anstrich verpasst werden? Handelt es sich etwa um einen Versuch zur Kartellbildung, mit dem Ziel, ein neues Preismonopol zu etablieren? Wie steht es mit den Interessen des kleinen Mannes, dessen einziger Trost nach Feierabend in einem diskreten Stündchen allein mit Bier und Kindle-Download besteht? Wird er überhaupt noch Gehör finden, wenn E-Books plötzlich mit exklusivem Material von bekannten Namen aufwarten und ihre Preise sich in schwindelerregend kurzer Zeit sage und schreibe verdreifachen? Was sagt die Politik dazu?
Drängende Fragen, die sich wohl nur beantworten lassen, wenn man selbst mal einen Blick in diese neuartigen elektronischen Bücher wirft, von denen allerorten geredet wird. Die erste Veröffentlichung des Nerdpol-Verlags ist die von Oliver Dierssen und Ole Johan Christiansen herausgegebene Anthologie Die Untoten, mit Beiträgen u.a. von Bernhard Hennen, Thomas Plischke, Victoria Schlederer und Jonas Wolf. Eines steht jetzt schon fest, meine Damen und Herren, liebe Leser_innen: Früher hätt’s das nicht gegeben.
* Anti-Missverständnis-Fußnote: Also. Nicht die Kurzgeschichten des Nerdpol-Verlags sind bereits veröffentlicht, sondern es handelt sich um neues Material von Autor_innen, die sich bereits mit Veröffentlichungen bei richtigen, echten Verlagen bekannt und beliebt gemacht haben. Also nix mit BoD im PDF-Format, sondern nur beste Ware, wie es im Szenejargon heißt.
Drängende Fragen, die sich wohl nur beantworten lassen, wenn man selbst mal einen Blick in diese neuartigen elektronischen Bücher wirft, von denen allerorten geredet wird. Die erste Veröffentlichung des Nerdpol-Verlags ist die von Oliver Dierssen und Ole Johan Christiansen herausgegebene Anthologie Die Untoten, mit Beiträgen u.a. von Bernhard Hennen, Thomas Plischke, Victoria Schlederer und Jonas Wolf. Eines steht jetzt schon fest, meine Damen und Herren, liebe Leser_innen: Früher hätt’s das nicht gegeben.
* Anti-Missverständnis-Fußnote: Also. Nicht die Kurzgeschichten des Nerdpol-Verlags sind bereits veröffentlicht, sondern es handelt sich um neues Material von Autor_innen, die sich bereits mit Veröffentlichungen bei richtigen, echten Verlagen bekannt und beliebt gemacht haben. Also nix mit BoD im PDF-Format, sondern nur beste Ware, wie es im Szenejargon heißt.
Freitag, 16. Dezember 2011
Lovecrafts Grab
Nnedi Okorafor denkt darüber nach, wie sie damit umgehen soll, dass der World Fantasy Award, den sie in der Kategorie »Bester Roman« gewonnen hat, ihr in Form einer Lovecraft-Büste überreicht wurde. Lovecraft war bekanntlich ein überzeugter Rassist und Antisemit. Und jemand, der durch sein eigenes literarisches Schaffen wie durch seine Netzwerker-Tätigkeit die Entstehung von SFF als eigenes Genre entscheidend geprägt hat.
Nun liegt das Problem, wie ich es sehe, nicht nur in Lovecrafts Weltanschauung. Über die wird viel gesprochen, und indem ihr menschenverachtender Charakter herausgestellt wird, findet gleichzeitig eine Art Entlastungsvorgang statt: Es ist nur allzu leicht, über Lovecrafts Rassismus zu reden und ihn gleichzeitig damit zu entschuldigen, dass Lovecraft »socially inept« gewesen sei. Gern wird dabei auch übersehen, dass Rassismus und Eurozentrismus in nahezu der gesamten frühen Fantasy gang und gäbe waren: Lange vor der US-amerikanischen Pulp-Fantasy bejubelten Rudyard Kipling, Arthur Conan Doyle und H. Rider Haggard in ihren Lost-Race-Geschichten den europäischen Kolonialismus und Imperialismus.* Vor diesem Hintergrund macht es wenig Sinn, sich Lovecraft als singulären Rassisten herauszupicken, wenn eigentlich die Geschichte des gesamten Genres kritisch bearbeitet werden müsste. Lovecraft mag seine Ansichten expliziter geäußert haben als andere, eine Ausnahme war er deshalb noch lange nicht.
Dennoch macht es natürlich Sinn, wenn eine schwarze, postkoloniale Autorin wie Nnedi Okorafor und ein marxistischer Schriftsteller wie China Miéville darüber nachdenken, wie sie mit dem Ikonenstatus des »Einsiedlers von Providence« subversiv umgehen können. Was bleibt ihnen auch anderes übrig, wenn eine Person wie Lovecraft im Jahre 2011, da von sechs nominierten Romanen für den World Fantasy Award drei von Schwarzen, vier von Frauen und zwei von Schriftstellerinnen mit einem postkolonialen Hintergrund geschrieben wurden, noch immer das gesamte Genre repräsentieren soll?
Zu verlinken ist nicht nur Okorafors Blogpost (in dem Miévilles Position zitiert wird) mit den dazugehörigen Kommentaren, sondern auch diese Diskussion auf Facebook. Außerdem wird auf den Seiten des World SF Blog debattiert. Silvia Garcia-Moreno bloggte ebenfalls zum Thema und Scott Edelman weist auf seinen älteren, aber thematisch verwandten Post hin.
* Auch ohne sich in der Leben-Lovecrafts-Forschung sonderlich auszukennen, kann man heutzutage wissen, dass Lovecraft keineswegs so menschenscheu und sozial unfähig war, wie die Sage dieses Schriftstellers es aussehen lassen will.
** Schon George Orwell musste in einem Essay über Kipling bemerken, dass über dessen Verherrlichung des Kolonialismus geredet wurde, um sie im gleichen Atemzug zu verharmlosen: Wenn Kipling drakonische Strafen, die die britischen Kolonialherren über die indischen Subalternen verhängten, in allen grausigen Details schilderte, habe er das quasi als neutraler Beobachter getan, oder aber als Kind seiner Zeit. Orwell betont zu Recht, dass es einigermaßen absurd ist, dem »Barden des Imperialismus« ausgerechnet in dieser Sache eine neutral beobachtende Position zu unterstellen.
Nun liegt das Problem, wie ich es sehe, nicht nur in Lovecrafts Weltanschauung. Über die wird viel gesprochen, und indem ihr menschenverachtender Charakter herausgestellt wird, findet gleichzeitig eine Art Entlastungsvorgang statt: Es ist nur allzu leicht, über Lovecrafts Rassismus zu reden und ihn gleichzeitig damit zu entschuldigen, dass Lovecraft »socially inept« gewesen sei. Gern wird dabei auch übersehen, dass Rassismus und Eurozentrismus in nahezu der gesamten frühen Fantasy gang und gäbe waren: Lange vor der US-amerikanischen Pulp-Fantasy bejubelten Rudyard Kipling, Arthur Conan Doyle und H. Rider Haggard in ihren Lost-Race-Geschichten den europäischen Kolonialismus und Imperialismus.* Vor diesem Hintergrund macht es wenig Sinn, sich Lovecraft als singulären Rassisten herauszupicken, wenn eigentlich die Geschichte des gesamten Genres kritisch bearbeitet werden müsste. Lovecraft mag seine Ansichten expliziter geäußert haben als andere, eine Ausnahme war er deshalb noch lange nicht.
Dennoch macht es natürlich Sinn, wenn eine schwarze, postkoloniale Autorin wie Nnedi Okorafor und ein marxistischer Schriftsteller wie China Miéville darüber nachdenken, wie sie mit dem Ikonenstatus des »Einsiedlers von Providence« subversiv umgehen können. Was bleibt ihnen auch anderes übrig, wenn eine Person wie Lovecraft im Jahre 2011, da von sechs nominierten Romanen für den World Fantasy Award drei von Schwarzen, vier von Frauen und zwei von Schriftstellerinnen mit einem postkolonialen Hintergrund geschrieben wurden, noch immer das gesamte Genre repräsentieren soll?
Zu verlinken ist nicht nur Okorafors Blogpost (in dem Miévilles Position zitiert wird) mit den dazugehörigen Kommentaren, sondern auch diese Diskussion auf Facebook. Außerdem wird auf den Seiten des World SF Blog debattiert. Silvia Garcia-Moreno bloggte ebenfalls zum Thema und Scott Edelman weist auf seinen älteren, aber thematisch verwandten Post hin.
Link-Update
Auf dem Blog Skalpell und Katzenklaue ist unter dem Titel »Der Gentleman von Providence und seine Ängste« eine zweiteilige Analyse von Lovecrafts Rassismus zu lesen: Teil 1, Teil 2.* Auch ohne sich in der Leben-Lovecrafts-Forschung sonderlich auszukennen, kann man heutzutage wissen, dass Lovecraft keineswegs so menschenscheu und sozial unfähig war, wie die Sage dieses Schriftstellers es aussehen lassen will.
** Schon George Orwell musste in einem Essay über Kipling bemerken, dass über dessen Verherrlichung des Kolonialismus geredet wurde, um sie im gleichen Atemzug zu verharmlosen: Wenn Kipling drakonische Strafen, die die britischen Kolonialherren über die indischen Subalternen verhängten, in allen grausigen Details schilderte, habe er das quasi als neutraler Beobachter getan, oder aber als Kind seiner Zeit. Orwell betont zu Recht, dass es einigermaßen absurd ist, dem »Barden des Imperialismus« ausgerechnet in dieser Sache eine neutral beobachtende Position zu unterstellen.
Labels:
Debatten,
HPL,
World Fantasy Award
Dienstag, 13. Dezember 2011
Konsum liegt in der Luft
Vorhin hätte ich beinahe einen Diogenes-Schuber mit den Romanen von Carson McCullers gekauft, und zwar vor allem wegen des supercoolen Autorinnenfotos auf der Rückseite, diesem hier nämlich. Nur gut, dass der Preis von 70 Öcken mich davon abgehalten hat, ewas unüberlegtes zu tun. Ihr seht, selbst in der Vorweihnachtszeit kann man sich den Verlockungen des Konsumismus entziehen. Man darf einfach nicht zu viel Geld haben.
Labels:
Southern Gothic Archipelago
Abonnieren
Posts (Atom)
Foto-Disclaimer
Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.