Freitag, 23. Juni 2017

Im Eisland

Nach meinem Blogpost über The Frozen Deep lässt mich die Franklin-Expedition, die 1845 zur Entdeckung der Nordwestpassage aufbrach, nicht mehr los. Ich habe beschlossen, weitere Bücher zum Thema zu besprechen. Vor allem aus kanadischer Feder sind zahlreiche Erzählwerke über die fatale Unternehmung in der Arktis erschienen, aber auch deutsche und US-amerikanische Autor_innen haben sich der Franklin-Expedition gewidmet. Tatsächlich erschien bereits 1851 ein Buch in Detroit, dessen Verfasser_in (»William N. Seldon«) sich als Besatzungsmitglied der Terror ausgab und behauptete, nach dem Verlassen des Schiffs »a new and beautiful country, inhabited by a strange race of people« entdeckt zu haben. Noch während die Überlebenden der Expedition sich abmühten, das kanadische Festland zu erreichen, erschien also bereits abenteuerlich-phantastische Literatur über sie. Leider scheint es das Buch weder auf Project Gutenberg noch auf Faded Page zu geben. Ich würde es zu gern lesen.

Ein herausragendes neueres Werk ist Kristina Gehrmanns dreibändige Graphic Novel Im Eisland. Es handelt sich um Gehrmanns Debüt und ist als solches gar nicht genug zu loben. Ich erlaube mir allerdings, nur einige kurze Bemerkungen zum Stil zu machen, um dann darauf einzugehen, wie das Werk sich in die Erzähltradition um Franklin und seine Leute einordnet: Das karge Schwarzweiß der Zeichnungen passt gut zum Thema. Ausbaufähig ist die Darstellung von Gesichtszügen, die mitunter doch arg ähnlich ausfallen (ein Problem, dass sich ja auch bei so etablierten Zeichnerinnen wie Isabel Kreitz gelegentlich findet). Und jetzt schnell zur Erzähltradition, denn eine solche gibt es.

Bestimmte Elemente tauchen in fiktionalen Darstellungen der Franklin-Expedition immer wieder auf; sie finden sich bereits in The Frozen Deep von Wilkie Collins und Charles Dickens (nach dem oben erwähnten Buch des Seldon-Pseudonyms wahrscheinlich das Werk, das am nächsten an den historischen Ereignissen dran ist). Dazu gehören zum einen die Zeichen und Visionen, die die Expedition begleiteten, und zum anderen die umstrittene Rolle der Inuit.

Doch wenn ich umstritten sage, ist das sogleich erklärungsbedürftig. Denn eigentlich haben die Inuit, die in der einen oder anderen Weise mit der Franklin-Expedition in Kontakt kamen, nichts getan, was irgendwie kontrovers sein könnte. Es waren vor allem zwei Forscher, John Rae und Charles Francis Hall, die unter den Inuit systematisch Erkundigungen nach der verschollenen Expedition anstellten. Die Berichte, die sie erhielten, widersprachen sich natürlich in vielen Details, stimmten in den Grundzügen aber überein: Ja, die Inuit hatten Gruppen hungernder weißer Männer gesehen, die zu Fuß nach Süden zogen. Ja, sie hatten ihnen so viel von ihren Lebensmitteln abgegeben, wie sie konnten, aber nein, sie hätten niemals eine so große Anzahl von Menschen ernähren können, ohne sich selbst der Gefahr des Hungertods auszusetzen. Deshalb hatten sie sich, sofern sie nichts zum Teilen besaßen, lieber von den Weißen ferngehalten. Später hatten sie Überreste von Lagerstätten gefunden, in denen sich auch die berüchtigten Zeugnisse für den Kannibalismus befanden, in den die Expedition schließlich verfiel.

Diese Berichte stimmen gut mit dem überein, was man über frühere Kontakte zwischen Inuit und britischen Arktisexpeditionen weiß. Die Inuit bildeten eine friedliebende Gesellschaft. Zu Angriffen auf britische Mannschaften kam es äußerst selten. Wenn doch, dann gingen sie von solchen Inuit aus, die zuvor bereits Feindseligkeiten von auf dem kanadischen Festland lebenden First-Nations-Gruppen erfahren hatten. In der Tat hätte die britische Öffentlichkeit allen Grund gehabt, den Inuit zu danken, denn ohne sie hätte sie noch sehr viel weniger vom Schicksal der Franklin-Expedition erfahren, als es ohnehin schon der Fall war. Auch die materiellen Hinterlassenschaften der Verschollenen, die später von Leopold McClintock (1848) und Frederick Schwatka (1878) gefunden wurden, konnten oft nur lokalisiert werden, weil ihr Standort zuvor von Inuit beschrieben worden war.

Aber es war das Zeitalter des Imperialismus, und natürlich kam es ganz anders. Schnell verbreiteten sich Gerüchte, die Expedition sei von Inuit angegriffen und niedergemetzelt worden. Die Persönlichkeit von Gewicht, die diese Gerüchte befeuerte wie niemand sonst, war ausgerechnet Charles Dickens. 1854 schrieb er mit »The Lost Arctic Voyagers« einen ganz im Ton gelehrter Weltweisheit gehaltenen Essay:
[N]o man can, with any show of reason, undertake to affirm that this sad remnant of Franklin’s gallant band were not set upon and slain by the Esquimaux themselves. It is impossible to form an estimate of the character of any race of savages, from the deferential behaviour to the white man when he is strong. The mistake has been made again and again; and the moment the white man has appeared in the new aspect of being weaker than the savage, the savage has changed and sprung upon him. [...] We believe every savage to be in his heart covetous, treacherous, and cruel; and we have yet to learn what knowledge the white man — lost, houseless, shipless, apparently forgotten by his race, plainly famine-stricken, weak, frozen, helpless, and dying — has of the gentleness of Esquimaux nature.
Im gleichen Jahr, 1854, unternahm ein Angestellter der Hudson’s Bay Company namens John Rae eine Forschungsreise auf der Boothia-Halbinsel in der Arktis. Er erhielt dort von einigen Inuit Auskunft über weiße Männer, die auf King William Island (einer vor der Westküste Boothias gelegenen Insel) verhungert seien. Rae erkannte, dass es sich um die wenige Jahre zuvor verschollene Franklin-Expedition handeln musste, und versuchte so viel wie möglich über die verhungerten Weißen in Erfahrung zu bringen. Außerdem kaufte er den Inuit einige Gegenstände ab, die zur Ausrüstung der Expedition gehört hatten. Was er nicht tat: sich selber auf King William Island zu begeben, um die traurigen Überreste des Unternehmens selbst in Augenschein zu nehmen. Rae war mit Schneeschuhen unterwegs. Hätte er beschlossen, die Insel zu besuchen, wäre das eine äußerst gefährliche und strapaziöse Reise gewesen, die ihn mitten ins Herz des arktischen Archipels geführt hätte.

Statt dessen kehrte Rae ins britisch besiedelte Kanada zurück und übermittelte seine Erkenntnisse so schnell wie möglich an die Admiralität in Lonon. Sein Bericht, der erstmals Hinweise auf Kannibalismus enthielt, löste Entsetzen aus und veranlasste Dickens, zur Feder zu greifen, um »Franklin’s gallant band« publizistisch zu Hilfe zu eilen. Es lässt sich kaum ein größerer Kontrast denken: Rae, ein erfahrener Arktisforscher, war vor Ort gewesen und hatte mit den Inuit gesprochen und sah offensichtlich keinen Anlass, an deren Aussagen zu zweifeln (die ja tatsächlich von späteren Suchexpeditionen bestätigt wurden). Auf der anderen Seite Dickens, der nie in der Arktis gewesen und auch sonst nicht gerade weitgereist war, aber mit der Kraft seiner Überzeugung weiß, dass jeder »savage« habgierig, verräterisch und grausam ist und nur darauf wartet, über hilflose Weiße herfallen zu können.

Es ist genau diese Mentalität des armchair explorers, die viele von der britischen Admiralität organisierte Forschungsreisen zu lebensgefährlichen Angelegenheiten machte. Der zuständige Sekretär der Admiralität, Sir John Barrow, steht geradezu emblematisch für diese Haltung. Barrow liebte es, lange Gedankenspiele über bislang nicht kartographierte Weltgegenden anzustellen und sich detailliert auszumalen, wie deren Klima und Geographie beschaffen seien. Kamen Forschungsreisende mit Ergebnissen zurück, die nicht Barrows Vorstellungen entsprachen, sorgte er dafür, dass sie bei Admiralität und Fachwelt in Ungnade fielen und ihr Leben lang nicht mehr ernst genommen wurden. Die Nordwestpassage und die Theorie vom eisfreien Polarmeer (ich habe sie im vorherigen Post dieser Reihe beschrieben) gehörten zu den fixen Ideen, die Barrow sein Leben lang umtrieben. Sie sorgten dafür, dass hunderte britische Seeleute ihre abgefrorenen Gliedmaßen und ihren Seelenfrieden in der Arktis zurückließen. Ich glaube, es ist dieser ausgeprägte Wille, Phantasie und Realität nicht auseinanderzuhalten, der die Franklin-Expedition zu einem so herausragenden Stoff für phantastische Erzählungen macht – und gleichzeitig ist es der Grund dafür, warum diese Erzählungen so viel über die viktorianische Realität aussagen.

Es ist ja nicht Unwissenheit, die die Zeitgenoss_innen dazu brachte, ihre Illusionen zu pflegen. Dickens etwa wusste, dass es bereits auf einer früheren Expedition Franklins zu Kannibalismus gekommen war. 1819 hatte Franklin die Leitung einer Landexpedition inne, die die Nordküste Kanadas kartographieren sollte. Schnell stellte sich heraus, dass die Reisenden nicht in der Lage sein würden, sich in der nordkanadischen Tundra zu ernähren. Sie begannen, Flechten von Felsen zu kratzen und Stiefelleder zu kochen. Schließlich teilte sich die Expedition in mehrere Kleingruppen auf, die orientierungslos umherirrten. In einer dieser Kleingruppen schlachtete ein Expeditionsteilnehmer namens Michel Terohaute mindestens zwei, vielleicht aber auch vier seiner Kameraden und verfütterte sie an zwei Offiziere, die in einem Zwischenlager zurückgeblieben waren. Terohaute behauptete, überraschend auf Wild gestoßen zu sein. Die beiden, die zuvor wochenlang gehungert hatten, griffen erst zu und stellten dann Fragen (was angesichts der extremen Umstände wohl verständlich ist). Einige Tage später erschossen sie Terohaute, da sie befürchteten, sonst als nächste an der Reihe zu sein.

Für Dickens war der Fall glasklar. Gerade die Tatsache, dass es auf der früheren Expedition zu Kannibalismus gekommen war, bewies eindeutig, dass dies auf der späteren Expedition nicht geschehen sein konnte. Denn Terohaute war für Dickens ebenfalls ein Wilder, »in his heart covetous, treacherous, and cruel«, und in seinem Appetit offenbar ebenso. Terohaute habe seine Untaten begehen können, weil er Irokese sei und die weißen Expeditionsteilnehmer arglistig getäuscht habe. Bei der späteren Expedition habe Franklin es nicht mehr zugelassen, dass ein solches Monster sich seiner »gallant band« anschließt, ergo: kein Kannibalismus mehr. Man könnte meinen, Dickens sah überall Kannibalen. In einem anderen Essay, »Frauds on the Fairies« (1853), wendet sich Dickens gegen bowdlerisierte Märchenbücher. An sich eine ganz richtige Position, aber es ist bemerkenswert, mit welchen Argumenten Dickens für sie streitet: Wenn man jugendfreie Märchenversionen schreibe, könne man ja auch gleich die Kannibalismusszenen aus Robinson Crusoe streichen – wo doch niemand leugnen könne, dass in der Karibik Menschenfresserei betrieben werde.

Ob in der Karibik oder der Arktis, für Dickens waren die »savages« Monster, vergleichbar den menschenfressenden Ogern im Märchen. Und sie bedrohten die britische Zivilisation. Zu einem solchen Bild konnte man allerdings nur durch Akte massiver Verdrängung kommen. Was Dickens wahrscheinlich wusste, aber einfach nicht zulassen konnte: Der Frankokanadier Michel Terohaute war keineswegs Irokese, sondern ein Weißer, wie alle anderen Expeditionsteilnehmer auch. John Richardson, der Terohaute erschossen hatte, schrieb später über ihn:
His principles, unsupported by a belief in the divine truths of Christianity, were unable to withstand the pressure of severe distress. His countrymen, the Iroquois, are generally Christians, but he was totally uninstructed and ignorant of the duties inculcated by Christianity; and from his long residence in the Indian country, seems to have imbibed, or retained, the rules of conduct which the southern Indians prescribe to themselves.
Das heißt also: Terohaute war an sich ein Christ, ein Europäer, ein Zivilisierter, aber weil er so lange unter den First Nations lebte, färbte deren Monstrosität auf ihn ab, und er wurde selbst zum Monster. Dickens zitiert diese Sätze in seinem Artikel, versteht sie aber bewusst falsch: Terohaute lebte nicht nur unter den First Nations, er war Irokese. Er musste es sein, anders waren seine Taten nicht zu erklären. Menschliches Verhalten folgt hier Naturgesetzen: Wer Brite ist, ist zivilisiert. Wer Inuit oder Irokese ist, ist ein Monster. Und wer als Frankokanadier in diese starre Dichotomie nicht ganz hineinpasst, wird im Zweifelsfall den Monstern zugeschlagen.

In der Realität sah es allerdings ganz anders aus. Eine Begegnung zwischen einem Inuit und vier Angehörigen der Franklin-Expedition von 1845 spielte sich folgendermaßen ab: Der Inuit habe nur einem der vier Männer, der sehr abgemagert gewesen sei, etwas zu essen gegeben. Die anderen drei hätten es nicht verdient. – Warum, fragte Hall. – Sie seien fett und wohlgenährt gewesen, weil sie ihre Kameraden gefressen hätten.

In Wirklichkeit neigen weder Inuit noch britische Seeleute von Natur aus dazu, sich gegenseitig abzuschlachten und aufzufressen. Die Inuit sowieso nicht, da sie das Leben in der Arktis gemeistert hattten. Die Briten an sich auch nicht, aber leider war es das Wirken von armchair explorers wie Sir John Barrow und brillanten Publizisten wie Charles Dickens, die dafür sorgten, dass immer wieder Expeditionen in die Arktis ausgeschickt wurden, wo nichts als Hunger, Kälte und Wahnsinn auf sie wartete. Und wenn sie nicht zurückkehrten, konnte man sich an viktorianischen Kaminen immer wieder von Neuem erregen und gruseln über die Monster, die im ewigen Eis auf die galanten Entdecker lauerten.

Aus Platzgründen habe ich diesen Blogpost aufgeteilt. Hier geht es weiter.

Im Eisland (drei Bände) ist 2015/16 im Hinstorff Verlag erschienen.

1 Kommentar:

Martin Rath hat gesagt…

Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier richtig gegoogelt habe. Hinterm Link geht es weiter:

Title: The extraordinary and all-absorbing journal of Wm. N. Seldon.
Author: Seldon, William N.
Publication Year: 1851
Source: Detroit Mich. : E.E. Barclay, 1851. 1 p. l. 9-36 p. incl. ill. pl.
Bookmark: http://purl.dlib.indiana.edu/iudl/wright/VAC7734

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.