Donnerstag, 10. Juli 2014

Die Seltsamen

Barbara Kirchner und Dietmar Dath erwähnen in Der Implex – und sie erwähnen darin vieles, denn es handelt sich um ein überaus geschwätziges Werk – jene romantisch gestimmten Seelen, für die
das Gründungsverbrechen der kapitalistischen, der modernen, der bürgerlichen Welt nicht die ursprüngliche Akkumulation [war], nicht die Enteignung der Kleinproduzenten, das Ansaugen andernfalls Chancenloser vom Land in die Fabriken, die Kinder- und Frauenarbeit, die Schuldgefängnisse, die einkalkulierten Arbeitsunfälle, die entrechtete neue Arbeit in den schmutzigen, gefährlichen, giftigen hohen Hallen der Industrie, sondern die Vertreibung der Feen.*
Man kann das weberianisch verstehen: Ohne Feen ist die Welt entzaubert, und die Aufgabe der Phantastik ist es folgerichtig, sie (zumindest partiell) wiederzuverzaubern. Diese Auffassung verkennt aber, dass die von den Romantiker_innen beklagte Vertreibung der Feen eine trickreiche Behauptung war. Wer sich die neuzeitliche Literatur vor 1700 ansieht, wird bemerken, dass sie weitgehend feenfrei war. Berühmte Ausnahmen (wie Shakespeare) gab es natürlich, aber in der Regel wurden Feen nur geduldet, wenn sie für Zwecke der Satire oder der moralischen Erbauung eingebunden werden konnten. Wenn die Romantik vom Verschwinden der Feen sprach, prangerte sie etwas an, was nie stattgefunden hat, und erreichte damit auf listige Weise, dass die Feen sich in der Literatur nach Belieben tummeln konnten. Aus dem im direkten Vergleich recht bescheidenen Feenreich der Folklore ist mit dem Anbruch der kapitalistischen Moderne ein Multiversum literarischer Feenreiche geworden. Darin sind Magie, Teufelsbeschwörungen, Elementargeister, wandelnde Tote und verzauberte Tiere omnipräsent, was zuvor niemand für möglich gehalten hätte (und was auch heute viele nicht für möglich halten wollen). Im Unheimlichen steckt das Heim, wie Freud bemerkte. Die magischen Wesen, die unsere Literatur bevölkern, sind in der modernen Welt ganz zuhause. Sie sind uns unheimlich und vertraut zugleich, weil sie ein vertrautes Charakteristikum unserer unheimlichen Gesellschaft sind.

Unabdingbare Voraussetzung dieser Entwicklung ist der technische Fortschritt, der allein es ermöglicht, dass wir die Feen in den letzten 200 Jahren nicht nur auf illustrierten Buchseiten, sondern auch auf Fotografien, auf der Kinoleinwand und in dreidimensionalen Pixelwelten gesehen haben. Walter Benjamin zitiert den Jubel des französischen Regisseurs Abel Gance, der seinen ersten Film 1911 drehte: »Alle Legenden, alle Mythologien und alle Mythen [...] warten auf ihre belichtete Auferstehung, und die Heroen drängen sich an den Pforten«. Benjamin bemerkt, dass Gance damit »ohne es wohl zu meinen, zu einer umfassenden Liquidation eingeladen« hat.** Beide hatten recht. Es gibt zwei homerische Epen – und es gibt hunderte Sandalenfilme, in denen pseudo-homerische Monstren und Heroen gegeinander antreten. Die technische Reproduzierbarkeit bewirkt das Verschwinden des Seltenen, Einzigartigen. So ist es auch mit den Feen: Sie sind heute keine flüchtigen Wesen mehr, sondern Reservearmee im Motivrepertoire der Kulturindustrie.

Stefan Bachmanns Debütroman stellt dieses Verhältnis auf den Kopf. In Die Seltsamen öffnet sich irgendwann (wohl zu Beginn des 19. Jahrhunderts) in der Stadt Bath ein magisches Portal, durch das die Feen in die Welt der Menschen strömen. Ein verlustreicher Krieg endet mit der Niederlage der Elfen, die in Slums gesteckt und zu niederen Arbeiten herangezogen werden. Fortan leben sie als Bürger_innen zweiter Klasse im britischen Königreich. Davon ausgenommen sind nur die aristokratischen Sídhe, denen sogar Kabinettsposten offenstehen. Die Menschen haben die Feen unterjocht, doch es gibt ein unberechenbares Element: Die Feen verfügen über Magie, die Menschen nicht, »und so stellten Professoren und Ärzte und alle großen Gelehrten ihre Fähigkeiten in den Dienst von Handwerk und Industrie«, um der Magie auf technologischem Wege Herr zu werden. Die Entfaltung der Produktivkräfte wird vorangetrieben, um den Fallstricken des Übernatürlichen zu entkommen. Eisen, Dampf und Federwerke sind das beste Mittel gegen Magie. Während Steampunk sich oft wenig mit seiner paradoxen Voraussetzung – einem viktorianischen Zeitalter auf dem technischen Stand des späten 20. Jahrhunderts – befasst, liefert Die Seltsamen eine ebenso aberwitzige wie plausible Erklärung für dieses Szenario.

Während in der wirklichen Welt also der Aufstieg des Kapitalismus für eine Invasion von Feen sorgte, bewirkt bei Bachmann die Invasion der Feen eine beschleunigte Industrialisierung. Ich muss gestehen, dass mir diese Idee Spaß bereitet. Durch sie lässt sich in einem fiktiven 19. das reale 21. Jahrhundet spiegeln. Konsequenterweise verhalten sich Bachmanns Figuren auch nicht wie Menschen des viktorianischen Zeitalters, sondern mehr oder weniger wie wir Heutigen. Das Viktorianische ist nur Fassade. Ich vermute, dass das eher aus Versehen passiert ist – wie in einem historischen Setting spielende Romane ja meistens mit hochgradig anachronistischen Charakteren aufwarten. Doch ist Die Seltsamen in seinen Zeitangaben ausgesprochen vage. Es wird weder verraten, wann genau das Feenportal sich geöffnet hat, noch der Zeitraum der Haupthandlung. Vielleicht ist in letzterem das 20. Jahrhundert schon längst angebrochen?

Zur Haupthandlung also. Sie folgt dem Parlamentsabgeordneten Arthur Jelliby (der viel zu bequem ist, um an seiner politischen Karriere zu arbeiten) und Barthy Kettle (ein Junge, der mit seiner Mutter und seiner Schwester Hettie in einem Feenslum lebt). Barthy ist ein ›Seltsamer‹, d.h. eines seiner Elternteile ist eine Fee, das andere ein Mensch. Die Seltsamen werden von Menschen wie Feen gehasst und gefürchtet, und zwar so sehr, dass sie sich kaum auf die Straße trauen können. Als ob das nicht schlimm genug wäre, treibt in Barthys Slum auch noch eine sinistre Gestalt ihr Unwesen und entführt Seltsame – darunter auch die kleine Hettie. Man merkt, worauf es hinausläuft: Barthy und Mr. Jelliby treffen aufeinander, bilden ein ungleiches Duo und versuchen die mysteriösen Entführungen aufzuklären.

Diskriminierung, Slumleben und misshandelte Kinder: Das klingt nach gewichtigem Material. Ist es bei Bachmann aber nicht, der im Grunde nur eine leichtfüßige Geschichte mit einfach gestrickten Charakteren erzählt. Am Vorbild Dickens interessiert ihn die Atmosphäre, nicht die Sozialkritik. Wo er heikle Themen berührt, dringt er kaum tiefer in sie ein. Da ist zum Beispiel die Ablehnung der Seltsamen durch den Rest der Gesellschaft. Ihre Ausgrenzung ist so absolut, dass keinerlei Erklärung für sie möglich scheint. Was Bachmann sich dabei gedacht haben mag, bleibt unklar. Dabei hätte er gerade mit der uneindeutigen Zugehörigkeit der Seltsamen thematisch Interessantes machen können. In einer in Nationalstaaten gegliederten Welt wie der unseren herrscht eine Zugehörigkeitsordnung, die auf Eindeutigkeit abzielt: Jeder Mensch muss einem nationalen Kollektiv angehören. Das gilt insbesondere in Deutschland. Gemäß dem biodeutschen Alltagsbewusstsein sind hierzulande lebende Menschen mit familiären Wurzeln in der Türkei keine Deutschen, sondern Türken. Irritiert wird dieses Bewusstsein, das nur ein »Wir« und ein »Nicht-Wir« zu erkennen vermag, insbesondere durch Menschen mit hybriden Zugehörigkeiten: Kinder, die teils biodeutscher, teils migrantischer Herkunft sind. Kinder aus migrantischen Familien, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Paul Mecheril schreibt dazu:
Von dem Idealtyp fragloser natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit weichen hybride Identitäten in einer signifikanten Weise ab. Hybride Zugehörigkeit irritiert, weil ihr Verhältnis zum Zugehörigkeitskontext uneindeutig bleibt. Diese Irritation wird in dem Augenblick zu einer Bedrohung der nationalstaatlichen Ordnung, wenn die Hoffnung auf Umwandlung der irritierenden Elemente in einschätzbare Ja- oder Nein-Partikel, Wir- oder Nicht-Wir-Teile aufgegeben werden muss und offenkundig ist, dass die un(zu)gehörige, den hybriden Erscheinungen eingeschriebene Allianz von Nähe und Ferne [nicht] zugunsten einer Entscheidung im Rahmen des binären Wir-NichtWir-Schemas aufgelöst werden kann. [...] Diese Uneinfügbarkeit irritiert nicht nur, sie bedroht, weil sie die Fraglichkeit des natio-ethno-kulturellen Ordnungssystems anzeigt und verkörpert. [...] Der Mehrfachstatus hybrider Anderer [...] wird von einer auf die Einwertigkeit sozialer Zugehörigkeit angewiesenen Ordnung hervorgebracht und von dieser Ordnung zugleich nicht anerkannt, weil Mehrfachzugehörigkeit das Ordnungsprinzip bedroht.***
Solche Überlegungen hätten einen Ansatz geboten, die Diskriminierung der Seltsamen zu einem relevanten Aussage zu machen, die auch im Romansetting mehr Sinn ergeben hätte. Leider Fehlanzeige. Bachmann versäumt es, dort Identitätskritik zu üben, wo er selber die Voraussetzungen dafür liefert.

Und was soll diese Rezension (mit viel Theorie-Checkerei und wenig sonst) nun sagen? Eben das: Die Seltsamen ist ein Buch, dass sich besser zum Betrachtungsgegenstand für akademische Cultural Studies als zum Schmökern eignet. Vielleicht lag das ja sogar in der Absicht des Autors, »einem besserwisserisch dreinblickenden Bildungsbürger-Wunderkind«, wie die Zeitschrift Eselsohr ätzte. Aber das ist bereits ein Zuviel an snarkiness für ein eigentlich recht harmloses Büchlein, zu dem mir nichts weiter einfallen will. Ach doch – wer hofft, dass dies ein in sich abgeschlossener Roman sei, wird enttäuscht werden. Die Fortsetzung soll im Herbst erscheinen.

Die Seltsamen (367 Seiten) ist 2014 bei Diogenes erschienen. Die Übersetzung besorgte Hannes Riffel.

* Dietmar Dath/Barbara Kirchner, Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee, Berlin 2012, S. 344.
** Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 2003, S. 14.
*** Paul Mecheril, Politik der Unreinheit. Ein Essay über Hybridität, Wien ²2009, S. 21. 

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.