Die Frau in der Kutsche

Während der Herrschaftsära Kaiyuan* reiste ein Gelehrter aus dem Landkreis Wu nach Chang’an, um an der Beamtenprüfung teilzunehmen. Eines Tages machte er einen Spaziergang durch die Straßen der Hauptstadt. Ganz unvermittelt kamen zwei junge Männer, in Hanfleinen gekleidet, auf ihn zu und verbeugten sich in aller Höflichkeit und Bescheidenheit vor ihm. Der Gelehrte, der die beiden nicht kannte, ging weiter. Er nahm an, dass sie ihn verwechselt hatten.

Wenige Tage später begegnete er den beiden erneut. Diesmal sprachen sie ihn an: »Du bist auf Besuch in der Stadt, aber wir haben dich noch gar nicht richtig willkommen geheißen. Tatsächlich waren wir gerade auf dem Weg, dich einzuladen. Was für ein glückliches Geschick, dass wir hier auf dich treffen.« Dann baten sie den Gelehrten höflich, ihnen zu folgen. Der Gelehrte hatte seine Zweifel, aber aus Neugierde ging er mit.

Sie kamen durch mehrere Straßen und langten schließlich in einer schmalen Gasse am Östlichen Markt an. Dort betraten sie ein sauberes, zur Straße hin gelegenes Haus. Der Gelehrte wurde in den Hauptraum geführt, wo ein Bankett angerichtet war. Man bat ihn, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Es war bereits eine Anzahl weiterer junger Männer zugegen, die alle einen sehr anständigen Eindruck machten. Ihren häufigen Blicken zum Eingang nach schienen sie auf einen wichtigen Gast zu warten.

Der Mittag war schon vorbei, als das Eintreffen des Gastes ausgerufen wurde. Das Geräusch von Kutschenrädern näherte sich. Eine reichverzierte Kutsche, begleitet von weiteren jungen Männern, hielt im Innenhof des Gebäudes. Ein Vorhang schwang beiseite, und eine hinreißend schöne Frau stieg aus der Kutsche. Sie war etwa siebzehn oder achtzehn Jahre alt, trug Blumen im Haar und war einfach, aber elegant gekleidet. Die beiden Begleiter des Gelehrten verneigten sich vor ihr, ohne indes beachtet zu werden. Der Gelehrte verneigte sich ebenfalls. Da erst erwiderte sie den Gruß und bat die drei, Platz zu nehmen.

Der Gelehrte verneigte sich erneut, bevor er sich setzte. Es traf noch etwa ein Dutzend weitere junge Männer ein. Alle waren sie ordentlich gekleidet und verbeugten sich, ehe sie Platz nahmen. Neue, wohlschmeckende Gerichte wurden aufgetragen. Nach einigen Runden Wein wandte sich die Frau dem Gelehrten zu, hob ihre Trinkschale und sagte: »Diese beiden jungen Männer haben mir von dir erzählt. Ich bin sehr erfreut, dich heute hier zu sehen. Man sagt, dass du über eine bemerkenswerte Fähigkeit verfügst. Ob wir uns wohl eine Demonstration ansehen dürfen?«

Bescheiden antwortete der Gelehrte: »Mein Leben lang habe ich nur die konfuzianischen Klassiker studiert. Ich kann weder singen, noch beherrsche ich ein Instrument.«

Die Frau sagte: »Aber das meine ich gar nicht. Denk nach, gibt es nicht etwas Außergewöhnliches, das du vor langer Zeit vollbracht hast?«

Der Gelehrte zerbrach sich den Kopf. »Einmal, als ich noch zur Schule ging, ist es mir gelungen, ein paar Schritte eine Wand hinauf zu laufen. Sonst fällt mir nichts ein.«

»Das ist es,« antwortete sie. »Möchtest du es uns vorführen?«

Der Gelehrte lief die Wand hinauf und schaffte ein paar Schritte, bevor er wieder auf dem Boden landete. »Das ist wahrlich nicht einfach,« bemerkte die Frau. Dann wandte sie sich den übrigen Anwesenden zu und forderte sie auf, ihre Fähigkeiten zu demonstrieren. Alle standen auf und verbeugten sich. Dann begannen einige, die Wände hinauf und hinab zu laufen. Andere schwangen sich von einem Deckenbalken zum nächsten durch die Luft. Sie bewegten sich leicht und schnell wie Vögel im Flug. Der Gelehrte kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Kurz darauf erhob sich die Frau und verabschiedete sich. Der Gelehrte ging ebenfalls, wobei er sich ein wenig besorgt und ängstlich fühlte.

Wenige Tage später traf der Gelehrte auf der Straße erneut die beiden jungen Männer. Sie fragten ihn, ob sie sein Pferd leihen könnten. »Aber ja,« erwiderte er.

Am nächsten Morgen verbreitete der Palast die Nachricht, dass sich ein Diebstahl ereignet hatte. Die Diebe waren entkommen, aber es gelang der Palastwache, die Spur zu einem Pferd zurück zu verfolgen. Dieses war zum Transport der gestohlenen Güter benutzt worden. Der Eigentümer des Pferdes wurde verhaftet und zur Behörde für Palastangelegenheiten gebracht, um verhört zu werden.

Danach wurde der Gelehrte an eine Zellentür geführt. Der Gefängniswärter versetzte ihm einen Stoß in den Rücken, und er stürzte in eine tiefe Grube. Als er wieder auf seinen Füßen stand, sah er, dass die Wände seiner Zelle mehrere Zhang* hoch waren. Das einzige Fenster war schmal und lag direkt unter der Decke.

Am nächsten Morgen wurde ein Seil durch das Fenster herabgelassen. Daran hing ein kleiner Korb mit Essen, das er hungrig verzehrte. Sobald er fertig war, wurde das Seil wieder eingezogen. Je später es wurde, desto verzweifelter fühlte sich der Gelehrte. Aber es war niemand da, der seinen nächtlichen Klagen über das erlittene Unrecht zugehört hätte.

Doch plötzlich nahm er in der Dunkelheit eine Bewegung wahr. Etwas schwebte wie ein Vogel in seine Zelle hinab. Der Gelehrte bemerkte die Umrisse eines Menschen neben sich, der nach seinem Arm griff. »Du musst völlig verängstigt sein, aber jetzt bin ich da, und es gibt keinen Grund zur Sorge mehr.« Es war die Stimme der Frau aus der Kutsche, deren Gast er vor einigen Tagen gewesen war.

»Ich hole dich hier heraus,« sagte sie und band sich den Gelehrten mit Streifen aus Seide auf den Rücken. Dann sprang sie in die Luft, schwebte aufwärts, höher und immer höher, hinaus aus dem Kaiserpalast und über die Stadtmauern hinweg. Sie landete erst, als die Stadt bereits einige Dutzend Li* entfernt war. »Du kehrst besser nach Jiang Huai zurück und bleibst eine Weile dort. Die Beamtenprüfung ablegen und eine Stelle antreten kannst du später immer noch.«

Der Gelehrte atmete auf. Er wanderte zu Fuß in den Landkreis Wu zurück. Unterwegs bettelte er um Essen und übernachtete in Ställen. Nie wieder fand er den Mut, in die Hauptstadt zu reisen und an der Beamtenprüfung teilzunehmen.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.