Mittwoch, 9. November 2011

Zivilisationskritik und Rassismus in den Tarzan-Romanen

Edgar Rice Burroughs’ Afrika ist unter anderem insofern eine kuriose Sache, als dass seine Geographie konsequent an die den Tarzan-Romanen zugrundeliegende Tiefenideologie angepasst ist. Stellt man sich eine Karte dieses fiktiven Afrika vor, lässt sich ein von der Wüste eingenommener nördlicher Teil von dem nahezu völlig mit Dschungel bedeckten Rest unterscheiden. Im Nordteil gibt es arabische Sklavenhändler und französisches Militär, dass die Sklavenhändler jagt. Im Dschungel dagegen gibt es Großwild, Mangani,* schwarze (oft kannibalische) »Stämme« und dekadente, von der Außenwelt abgeschlossene Hochzivilisationen wie Opar und Xuja. Und es gibt natürlich Tarzan.

Die Romane spielen zur Kolonialzeit, wodurch sofort die Frage aufkommt, wie denn die europäischen Kolonien in dieses Afrikabild passen. Kolonien werden verschiedentlich erwähnt, besonders wenn die Romanhandlung vor dem Hintergrund eines historischen Ereignisses wie des 1. Weltkriegs spielt. Aber man gewinnt den Eindruck, die Kolonien seien nicht viel mehr als schmale besiedelte Landstreifen an den Küsten des Kontinents gewesen – dringt Tarzan nur ein Stück weit ins Landesinnere ein, ergibt sich sofort wieder das im vorigen Absatz geschilderte Bild. Dennoch ist der Kolonialismus in den Tarzan-Geschichten nicht abwesend, sondern taucht gewissermaßen in idealisierter Form wieder auf, wie ich zeigen möchte.

Die Tarzan-Romane sind essentiell Zivilisationskritik. Tarzan nimmt die Zivilisation (hier stets mit der westlichen Kultur gleichgesetzt) als unehrlich, verdorben und intrigant wahr. Hat es ihn in seinem Umgang mit der Zivilisation wieder einmal besonders schlimm erwischt, streift er ihre Schale ab und kehrt in den Dschungel zurück, um dort als wildes Tier zu leben. Im Unterschied zur oft verwirrenden und enttäuschenden Zivilisation läuft das Leben im Dschungel nach einer einfachen Regel ab, die als »Gesetz des Dschungels« bezeichnet wird und nichts anderes besagt, als dass der Stärkere – eben kraft seiner Stärke – stets auch der Würdige ist.** Das »Gesetz des Dschungels« ist simpler Vulgärdarwinismus, exemplifiziert in dem typischen Vorgang, mit dem man König eines Mangani-Stammes wird: indem man den vorherigen König im offenen Kampf besiegt.

Diese Einfachheit des »Gesetzes des Dschungels«, die wirklich niemanden überfordern dürfte, ist charakteristisch für die Zivilisationskritik der Tarzan-Romane, die sich mit einem Zitat von Leibniz zusammenfassen lässt:
Wir müssen indessen zugeben, daß es wichtige Dinge gibt, in denen die Barbaren uns übertreffen, vor allem an Körperkraft; und selbst in bezug auf die Seele kann man sagen, daß in gewissem Maße ihre praktische Moral besser ist als unsere, weil sie weder die Habsucht kennen, Reichtum anzuhäufen, noch den Ehrgeiz, zu beherrschen [...] Es gibt bei uns mehr Gutes und mehr Schlechtes als bei ihnen. Ein böser Europäer ist viel böser als ein Wilder; denn er verfeinert das Schlechte.***
Die Zivilisation verfeinert also die Elemente, die bei den Anderen, den Unzivilisierten, in einfacher, reiner und ursprünglicher Form angelegt sind. Auf die rassistische Konfiguration der Tarzan-Geschichten passt Leibniz’ Barbarenphantasie mit einer Exaktheit, die erstaunlich ist: Gut sind Tarzans Unzivilisierte, denn sie sind großzügiger, ehrlicher und berechenbarer als die Europäer_innen. Schlechtes gibt es ebenfalls bei ihnen, denn sie sind blutrünstig und jähzornig. Diese letzteren Eigenschaften sind aber nicht eigentlich »böse«, denn im direkten Vergleich zu den »Unzivilisierten« sind die europäischen Bösewichter der Tarzan-Geschichten nie einfach nur brutal, sondern stets auch hinterlistig, geldgierig und auf alle erdenklichen Weisen perfide. Schurken wie die russischen Spione Rokoff und Pawlowitsch (die Hauptantagonisten der unmittelbar auf Tarzan of the Apes folgenden Bände) oder die deutschen Offiziere in Tarzan the Untamed sind auf verfeinerte Art und Weise schlecht, mithin böse im Sinne Leibniz’. Auch die kolonialen Siedlungen an den Küsten Afrikas werden oft als wahre Nester der Verkommenheit geschildert, bewohnt von Betrügern und Verbrechern. Schwarze Charaktere weisen solche Eigenschaften dagegen nur auf, wenn sie bereits mit der Zivilisation in Berührung gekommen sind. Ist dies nicht der Fall, sind sie zwar »wild« und »gräßlich«, aber nicht böse.

Es wird gelegentlich behauptet, die Darstellung der Schwarzen in den Tarzan-Romanen sei einseitig oder schematisch. Das stimmt nicht, denn es suggeriert, die Form der Darstellung hätte irgendetwas mit denjenigen zu tun, die in den Tarzan-Geschichten auf rassistische Weise dargestellt werden. Es führt aber schlechthin kein Weg von dieser Darstellung zu wirklichen schwarzen Individuen, es sei denn, man übernimmt die Schemata der rassistischen Konfiguration und bestätigt sie damit ein Stück weit (indem man etwa annimmt, die schematische Darstellung lasse sich durch eine differenziertere Sichtweise korrigieren). Vielmehr kommt es darauf an, die rassistische Konfiguration, auf der die Tarzan-Geschichten beruhen, selbst in den Blick zu nehmen.

Auffällig ist in der Tat zunächst, dass die meisten auftretenden Gruppen als äußerst homogen geschildert werden. Araber sind fast immer verschlagene Plünderer und Sklavenhändler – ein Bild, von dem nur in ganz wenigen Szenen (beispielsweise in The Return of Tarzan) abgewichen wird. Die von der Außenwelt vergessenen Hochzivilisationen, denen Tarzan auf seinen Streifzügen im Dschungel hin und wieder begegnet, zeichnen sich meist durch eine einzige hervortretende Charaktereigenschaft ihrer Bewohner_innen aus. Die Menschen von Xuja etwa sind ohne Ausnahme dem Wahnsinn verfallen, und die Nachfahren der Atlantiden in Opar sind körperlich und geistig degeneriert, weil sie sich mit Affen vermischt haben.†

Die Charakterisierung der schwarzen »Stämme« scheint im direkten Vergleich dazu eher widersprüchlich zu sein. Tarzan the Untamed etwa unternimmt auf den ersten Seiten große Anstrengungen, die Schwarzen als wehrlose Opfer der deutschen Truppen in Ostafrika darzustellen, aber nur wenige Kapitel später werden Schwarze schon wieder als kriegerische, nach Blut lechzende Kannibalen gezeichnet. Blättert man noch etwas weiter, stößt man auf den Charakter Otobu. Der ist zwar Angehöriger des zuvor eingeführten Kannibalenvolkes, wurde jedoch in Xuja versklavt und erweist sich bei Tarzans Fluchtplänen aus der Stadt als treuherziger Helfer. Der Widerspruch zwischen sanftem, hilfsbereiten Opfer und wildem Menschenfresser ist nur ein scheinbarer, wenn man zur Kenntnis nimmt, wie sehr die Tarzansche Zivilisationskritik auf dem Grundsatz beruht, dass die »Unzivilisierten« eben beides sind: unverfälscht gut und unverfälscht schlecht. Was ihnen fehlt, sind lediglich die Feinheiten der Zivilisation.

Daraus folgt, dass Tarzans Zivilisationskritik keineswegs mit einer Ablehnung des Kolonialismus einhergeht. Sie ist im Grunde genommen nicht einmal eine generelle Ablehnung der Zivilisation, denn dass sie das Gute zu verfeinern vermag, wird der Zivilisation hoch angerechnet: Ausdrücklich wird vermerkt, dass Tarzan von der Zivilisation gelernt hat, sich Frauen gegenüber als ritterlicher Beschützer aufzuspielen, und ähnliches lässt sich wohl von den Aufwallungen patriotischer Gefühle sagen, die Tarzan angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen britischen und deutschen Truppen in Ostafrika überkommen. Gegenüber den gewöhnlichen Zivilisierten verfügt Tarzan jedoch über zwei entscheidende Vorzüge: Er hat die dekadente, verfeinerte Bösartigkeit der Zivilisation durchschaut und zurückgewiesen, und er beherrscht das »Gesetz des Dschungels«.

Die Bedeutung von letzterem wird insbesondere in The Return of Tarzan und The Son of Tarzan deutlich. In ersterem Roman trifft Tarzan auf das Volk der Waziri, dem er in seinem Kampf gegen arabische Sklavenhändler und Elfenbeinjäger beisteht. Er erweist sich dabei als hervorragender Krieger, so dass die Waziri ihn – gemäß dem »Gesetz des Dschungels« – als ihren Häuptling anerkennen. Auf ganz ähnliche Weise, einfach indem er sich als der Stärkere und mithin Würdige erweist, unterwirft sich Tarzan nicht nur verschiedene Stämme von Mangani-Affen, sondern in The Beasts of Tarzan auch einen Leoparden und in Tarzan the Untamed einen Löwen (der bezeichnenderweise einer fiktiven Löwenrasse mit schwarzem Fell angehört). In The Son of Tarzan haben Tarzan und Jane sich auf einer weitläufigen Farm in Ostafrika angesiedelt, wo er als unangefochtener Souverän über die Waziri herrscht. Sein Wort hat geradezu rechtsetzendes Gewicht, so dass Sklavenhändler und Elfenbeinjäger um Tarzans Gebiet einen weiten Bogen machen. Der weiße Krieger, der nach dem »Gesetz des Dschungels« die Herrschaft über seine Bewohner_innen erlangt hat, ist zum Kolonialherren en miniature geworden – und zwar ein Kolonialherr, den das Verdikt über die Zivilisation nicht trifft, denn er verkörpert zwar die »gute« Seite der Zivilisation, seine Autorität über die »Unzivilisierten« rührt aber (anders als die Anmaßungen der dem »Bösen« der Zivilisation verfallenen Küstenstädte und arabischen Sklavenhändler) aus der Souveränität, mit der er sich den Dschungel nach dessen eigenen Regeln unterwirft. Welches größere Recht könnte man für sich in Anspruch nehmen, wenn man sich berufen fühlt, die »Unzivilisierten« zu regieren, als das Recht des Dschungels selbst? Man bemerke außerdem, dass Tarzan es erst als Besitzer ausgedehnter Ländereien und Herrscher der Waziri schafft, den inneren Konflikt zu überwinden, in den ihn seine Anhänglichkeit an das »Gute« der Zivilisation einerseits und seine Bewunderung für das simple und brutale »Gesetz des Dschungels« andererseits gestürzt hat.

Hat Tarzan sich solchermaßen der Herrschaft als würdig erwiesen, was macht dann seine Untertanen würdig, von ihm beherrscht zu werden? Beherrscht werden muss, könnte man sagen, wer sich nicht selbst zu helfen vermag. Eine Bevölkerung unterwirft man, indem man argumentiert, sie sei ansonsten einer Bedrohung von außen schutzlos ausgeliefert. Im kolonialen Diskurs war diese Bedrohung das Gespenst der arabischen Sklavenhändler, die angeblich die wehrlosen Schwarzen zu Tausenden in die Knechtschaft verschleppten. Die Wirkung dieses Phantasmas, das weithin der historischen Grundlage entbehrt, war im 19. Jahrhundert enorm. In ganz Europa bildeten sich humanitäre Vereine, die den »kolonialen Gedanken« unterstützten und zur Bekämpfung der arabischen Sklavenhändler Spenden sammelten.†† Die mit ans Absurde grenzender Festigkeit vertretene Vorstellung, man müsse aus humanitären Gründen einen ganzen Kontinent unterwerfen, ist ebenso skurril wie erschreckend, aber die Omnipräsenz der arabischen Sklavenhändler in den Tarzan-Romanen erklärt sich nur zu gut aus diesem kolonialen Ideologem.

Auch die spezifischen Charakteristika von Tarzans Untertanen, den Waziri, sind keineswegs eine Pulp-Erfindung, sondern weisen direkt in die koloniale Ideologie zurück. In The Return of Tarzan heißt es über die Waziri:
Beim Tanz der Krieger im Feuerschein wurde Tarzan wieder von ihrem schönen Körperbau und den regelmäßigen Gesichtszügen beeindruckt – die für die Eingeborenen der Westküste typischen flachen Nasen und dicken Lippen fehlten völlig. Die Männer sahen intelligent und stolz aus, das Äußere der Frauen war oftmals sehr einnehmend.†††
Die schmalen Lippen und markanten Nasen der Waziri stammen aus der Hamitentheorie, mit der bis ins 20. Jahrhundert hinein die Existenz staatlicher Strukturen im subsaharischen Afrika begründet wurde. Da gemäß der herrschenden Meinung die afrikanische Urbevölkerung nicht in der Lage gewesen sein durfte, solche Strukturen herauszubilden, schrieb man diese einer eingewanderten »hamitischen Rasse« zu, der die sogenannten negroiden »Rasse«-Merkmale (flache Nasen, dicke Lippen) fehlten, und die – solchermaßen biologistisch herausgehoben – zu höheren Kulturleistungen in der Lage gewesen sein sollte. Um die Theorie von der Existenz einer hamitischen Rasse zu stützen, erfand man sogar eine eigene hamitische Sprachfamilie. Der Schluss liegt nahe, dass die Waziri sich durch ihren höheren biologischen Status als Untertanen qualifizieren, während die sonstigen in den Geschichten vorkommenden Schwarzen ausschließlich als hilfsbedürftige Opfer (sofern sie von äußeren Mächten verfolgt werden) oder als Feinde (sofern sie Kannibalen sind) auftreten.

Das koloniale Trauma, also der historische Kolonialismus, glänzt in den Tarzan-Romanen durch Abwesenheit. Ersetzt wird es durch einen kolonialen Traum, mit Tarzan als idealem Kolonialherrn und den Waziri als idealen Kolonisierten, die gemeinsam und in klarer hierarchischer Ordnung gegen ideale Feinde antreten.

* Die Menschenaffen, die Tarzan großziehen. Es handelt sich um eine fiktive Spezies mit eigener Sprache und politischer Organisation, die keineswegs gleichzusetzen ist mit Schimpansen (wie Greystoke: The Legend of Tarzan es in künstlerischer Freiheit darstellt) oder Gorillas (wie es die Disney-Fassung tut).
** Ich glaube, ich muss nicht erklären, warum ich an dieser Stelle die maskuline Form verwende.
*** Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Frankfurt 1961, § 20.
† Die Angst vor dem Hybriden, die zugleich zu einem guten Teil Faszination ist und bis heute umgeht, nahm bis ins 18. Jahrhundert hinein bizarrerweise die Form der Befürchtung an, die menschliche Gattung könne sich mit Tieren kreuzen und dadurch ihre Überlegenheit verlieren. Vgl. dazu Léon Poliakov, Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Hamburg 1993, S. 174ff. Burroughs’ Atlantiden scheinen ein später Nachhall dieser lüsternen Angstphantasie zu sein.
†† Vgl. dazu Adam Hochschild, Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines fast vergessenen Menschheitsverbrechens, Stuttgart 2000.
††† Edgar Rice Burroughs, Tarzans Rückkehr, Leipzig 1994, S. 147.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.