Mittwoch, 16. Juli 2014

Neuzugänge

  • Joan Aiken, Schattengäste
  • Alain-Fournier, Der große Meaulnes 
  • Peter Benchley, Das Riff
  • Wilkie Collins, Gruselgeschichten 
  • Erckmann-Chatrian, Madame Therese
  • Louise Erdrich, Liebeszauber
  • Carl Freedman (Hg.), Conversations with Samuel R. Delany 
  • David Gemmell, Der silberne Bogen. Ein Troja-Roman
  • Ders., Der Donnerschild. Ein Troja-Roman
  • Ders./Stella Gemmell, Königssturz. Ein Troja-Roman
  • Johannes Hertel (Hg.), Indische Märchen (aus der Reihe Märchen der Weltliteratur von Diederichs)
  • Corinna und Jörg Kastner, Die Steinprinzessin
  • William Kotzwinkle, Ein Bär will nach oben
  • Ira Levin, Rosemaries Baby
  • Theodor Storm, Der Schimmelreiter
  • Hans Traxler, Die Wahrheit über Hänsel und Gretel
  • Max Weisweiler (Hg.), Arabische Märchen (aus der Reihe Märchen der Weltliteratur von Diederichs)
  • Elie Wiesel, Noah oder Ein neuer Anfang. Biblische Portraits

Sonntag, 13. Juli 2014

Bealedoggle

Inhaltswarnung: Sexueller Missbrauch, Homophobie.

Der Fall MZB weist eine bislang wenig beachtete Facette auf, die ich Bealedoggle getauft habe: Es geht darum, dass der rechtsradikale Flügel des US-Fandoms die Missbrauchsvorwürfe gegen Bradley instrumentalisiert. Federführend ist dabei Theo Beale alias Vox Day. Der ist bekanntlich im vergangenen Jahr recht schmählich bei SFWA, der Vereinigung der SFF-Autor_innen in den USA, rausgeflogen. Nun sieht er offenbar die Gelegenheit zur Rache gekommen. SFWA scheint für Beale schon seit längerem ein rotes Tuch zu sein. 2012 veröffentlichte er einen Artikel in Black Gate, in dem er mit großer Geste ankündigte, bald mit Beweisen über massive Korruption in der Schriftsteller_innenvereinigung an die Öffentlichkeit zu treten. Die Beweise kamen natürlich nie, und Beales Artikel erregte allgemeine Heiterkeit. Auch jetzt wittert Beale wieder eine ungeheure Verschwörung in den Reihen der Organisation, deren aktive Mitgliederzahl sich gerade mal im dreistelligen Bereich bewegt. Er schreibt im Akkord Blogposts, in denen er SFWA beschuldigt, eine Tarnorganisation für einen Kinderhandelring zu sein (wer sich jetzt fragt, wie man auf so etwas kommen kann, kennt Vox Day noch nicht). Bemerkenswerterweise finden sich unter diesen Blogposts hunderte von zustimmenden Kommentaren, bis hin zu Phantasien darüber, Samuel R. Delany zu erschießen. Das liest sich dann zum Beispiel so:
These pedophile rings tend to run through unaccountable organizations with flimsy stated outcomes but a seemingly decent cover story. I’m not saying they [SFWA] are necessarily a long-time front organization for child trafficking, just that they are doing a lousy job of not looking like they could be.
Einige entwerfen schon konkrete Aktionspläne gegen diese Berufsorganisation, die sich einfach nicht genug Mühe gibt, nicht wie eine »long-time front organization for child trafficking« auszusehen:
There are three or four investigators I could think of to put onto this thing and really blow it wide open, and create a set of research documents that really makes things uncomfortable at the SFWA. Especially if you have the private archives at your disposal.
Nun ja. Beale und seine Fans sind Alu-Hüte, wie sie im Buch stehen. Wären ihnen nicht die Enthüllungen über MZB in den Schoß gefallen, würden sie sich die Zeit mit Anti-Impf-Propaganda und Diskussionen über kreationistische ›Wissenschaft‹ vertreiben. Man könnte das als besonders bizarren Auswuchs des an Absonderlichkeiten wahrlich nicht armen ideologischen Treibhauses abtun, in dem Beale und Konsorten leben, ginge es dabei nicht auch um einen der bedeutendsten Intellektuellen des SFF-Felds: Samuel R. Delany. Der Stein des Anstoßes ist ein Zitat von Delany, das der englischen Wikipedia-Artikel über die Pädosexuellen-Organisation NAMBLA folgendermaßen wiedergibt:
In extended interviews about his novel Hogg in 2004 he stated he supported a group like NAMBLA because “abuse is fostered by the secrecy itself and lack of social policing”. He expounded that “for thousands of years, relations we assume are abusive by definition (child marriages, slavery, child labor, etc.) were the social and legal norm, institutional and ubiquitous [..] behavior that we [today] find wholly unacceptable—flogging slaves, wife beating, and child beating (in the family, in the school, and at the factory)—was recommended by experts and clergymen as the most efficient and least disruptive way to maintain [social] order. All of these institutions changed, nevertheless, only when they were no longer economically feasible or beneficial to the greater society.
Zeichensetzung, Auslassungen etc. habe ich unverändert von Wikipedia übernommen. Das Zitat steht seit September 2010 in dieser Form im Artikel. Für Beale und einige andere reichte das aus, um Delany mit Breens und Bradleys sexuellen Übergriffen zu assoziieren. Grund genug, sich Delanys Verhältnis zu NAMBLA einmal genauer anzusehen. Zunächst ist festzustellen, dass an seiner Unterstützung für NAMBLA wenig Zweifel bestehen kann. In einem Gespräch mit Will Shetterly äußert er sich ausführlich dazu. Es scheint, als seien Delanys Ansichten über sexuelle Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen und Kindesmissbrauch vor allem von zwei Ausgangspunkten geprägt:
  1. Delany glaubt, dass konsensuelle sexuelle Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen grundsätzlich möglich sind.
  2. Er glaubt, dass es in jedem Fall besser ist, wenn sexuelle Beziehungen (egal welcher Art) legal und öffentlich ausgelebt, weil auf diese Weise eine Sozialkontrolle möglich sei, die Gewalt und Missbrauch effektiver verhindern könne, als die Illegalisierung bestimmter Beziehungsformen (in diesem Fall: zwischen Kindern und Erwachsenen) dies tut. Insbesondere betont er seine Ansicht, dass gegenwärtige Sexualstrafrechtsnormen Kindern eher schadeten als sie zu schützen.
So weit ich sehen kann, sind Delanys Positionierungen in diesem Gespräch kein Versuch, seine früheren Statements zu NAMBLA zu verharmlosen oder zu relativieren. Seine früheren, vor den gegenwärtigen Enthüllungen über Marion Zimmer Bradley getätigten Äußerungen stammen (mit Ausnahme des Wiki-Zitats) aus den neunziger Jahren. Sie stehen nicht im Widerspruch zu dem, was Delany jetzt sagt: Er habe in den Neunzigern die Publikationen von NAMBLA über eine Mailingliste kennengelernt, diese Schriften sehr geschätzt, aber seither nichts mehr von der Gruppe gehört. Shetterly hat das Interview auf seinem Blog veröffentlicht: »a conversation with Samuel R. Delany about NAMBLA, sexuality, and consent« (Inhaltswarnung für diesen Link: Auf Shetterlys Blog werden rassistische Ausdrücke verwendet).

NAMBLA präsentiert auf der organisationseigenen Website ein Zitat Delanys:
I read the NAMBLA [Bulletin] fairly regularly and I think it is one of the most intelligent discussions of sexuality I’ve ever found. I think before you start judging what NAMBLA is about, expose yourself to it and see what it is really about. What the issues they are really talking about, and deal with what’s really there rather than this demonized notion of guys running about trying to screw little boys. I would have been so much happier as an adolescent if NAMBLA had been around when I was 9, 10, 11, 12, 13.
Kursivierungen, Ergänzungen etc. habe ich unverändert übernommen (verlinken will ich die Seite nicht). Allem Anschein nach handelt es sich um die Transkription einer mündlichen Aussage. Auffälligerweise ist das Akronym NAMBLA im Zitat nur bei der ersten Erwähnung kursiviert und damit eindeutig auf das Bulletin und nicht auf die Organisation insgesamt bezogen. Bei den weiteren Erwähnungen fehlt die Kursivierung, so dass der Eindruck entsteht, Delany spreche von der Organisation. Ich halte das für unwahrscheinlich. Der zweite Satz beginnt mit »I think before you start judging what NAMBLA is about ...«. Der dritte ist ein Neuansatz, der sich klar auf den zweiten Satz bezieht: »What the issues they are really talking about ...«. Das bedeutet, mit »NAMBLA« im zweiten Satz sind »the issues« gemeint, also die Ausgaben des Bulletins, und nicht die Organisation. Unklar ist, ob der letzte Satz auf die Gruppe oder auf ihre Publikationen referiert. Möglicherweise beides. NAMBLA gibt an, die Aussage stamme aus dem Jahr 1994. Delany bestätigt das im Interview mit Shetterly.

In seinen Publikationen äußert Delany sich an mindestens zwei Stellen wohlwollend über die Gruppe. Da ist zunächst eine beiläufige Bemerkung in Shorter Views (1999), und zwar in einem Zusammenhang, in dem es um Michel Foucaults monumentales Spätwerk Sexualität und Wahrheit geht:
It was a work that promised insights, if not inspiration, for feminists, for gay activists, and even for much harassed groups like NAMBLA (the North American Man-Boy-Love Association).*
Die zweite Stelle ist die von Wikipedia zitierte, die aus Conversations with Samuel R. Delany (2009) stammt. Sie stammt aus einem Interview von 2004. Liest man sie im Zusammenhang, wird deutlich, dass Wikipedia die Stoßrichtung von Delanys Argumentation verfehlt.** Ich gebe das Zitat hier in voller Länge, ohne inhaltliche Auslassungen wieder, wobei ich die von Wikipedia ausgelassenen Stellen fette (Kursivierungen im Original):
It may seem paradoxical [...] that generally speaking I think sexual relations between children and adults are likely to go wrong and that most of them are likely to be, start off as, or quickly become, abusive, that I also support a group like NAMBLA—which I do. But that’s because I feel one of the largest factors in the abuse is fostered by the secrecy itself and lack of social policing of the relationships. A little history helps:
For thousands of years, relations that today we assume are abusive by definition (child marriages, slavery, child labor, etc.) were the social and legal norm. They were institutional and ubiquitous. As well, behavior that we would find wholly unacceptable—flogging for slaves, wife beating in marriage, and child beating (in the family, in the school, and at the factory)—was regularly recommended by experts and clergymen as the most efficient and least disruptive way to maintain order and the necessary disciplined hierarchy for these institutions to function efficiently. More lenient ways were to be avoided, ran the general wisdom, because, while they might be attractive in the short run (as novels and melodramas welcomed more and more social types into the circle of compassion), in the long run they produced only further troubles.***
Es folgt ein längerer Bericht Delanys über die Erziehungsmethoden seines Großvaters, der als Sklave geboren wurde. Der letzte von Wikipedia zitierte Satz kommt erst danach:
All of these institutions changed, nevertheless, only when they were no longer economically feasible or beneficial to the greater society.†
Das ist jedoch nicht, worauf Delany eigentlich hinaus will. Seine Argumentation, die er mit einem Beispiel aus seiner Familiengeschichte untermauert, zielt eher darauf, dass Beziehungspraktiken weniger traumatisierend wirken, wenn sie Gegenstand eines öffentlichen Diskurses und dadurch sozial eingebettet sind. Delanys Großvater bestrafte seine Kinder, indem er sie mit Ruten schlug. Diese Prügel seien körperlich schmerzhaft, aber nicht psychisch traumatisierend gewesen, schließt Delany aus den Erzählungen seines Vaters (und der Geschwister seines Vaters). Als diskursiv eingebundene Praxis – »recommended by experts and clergymen« – seien sie sozialer Kontrolle unterworfen gewesen. Viel angsteinflößender sei es für die Kinder des Großvaters gewesen, wenn dieser einen spontanen Wutausbruch bekam – was aber anscheinend nur ein einziges Mal passierte. Damit will Delany sich selbstverständlich nicht für die Prügelstrafe aussprechen. Was er meint (oder besser: was er meiner Interpretation nach meint), lässt sich vielleicht durch einen Vergleich mit Initiationsriten erhellen. Diese sind oft mit Schmerzen und Isolation verbunden, lösen aber in der Regel keine lebenslangen Traumata aus, sondern stärken im Gegenteil das Gefühl der Zugehörigkeit: »Kulturelle Elemente wie Riten können gar nicht traumatisieren. Die Kultur führt solche Riten nämlich nicht gewaltsam – und das heißt für mich immer: sprachlos – durch, sondern doch in einem Diskurs, der ihre Bedeutung einbettet.«†† Sexuelle Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen, glaubt Delany, ließen sich in ähnlicher Weise – und damit (relativ) gewaltfrei – gestalten. Was im Fall kultureller Riten weitgehend zutrifft, gilt allerdings sehr viel weniger für asymmetrische, von einem Machtgefälle geprägte soziale Beziehungen wie die zwischen Vätern und ihren Kindern. Das Machtgefälle lässt sich durch diskursive Einbettung mildern, aber nicht abschaffen. Und ließe sich das extreme Machtgefälle, das in sexuellen Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen herrscht, überhaupt so weit mildern, dass es in irgendeiner Weise erträglich wäre? Wohl kaum.

Ein solches Vorhaben wäre auch abhängig davon, ob die Gesellschaft in der Lage ist, Diskurse zur Verfügung zu stellen, die die soziale Einbettung und Reglementierung ermöglichen. Beispiele, wie das aussehen könnte, sind immer schnell zur Hand: Das Modell der altgriechischen Päderastie ist bei der Pädophilenbewegung, die Organisationen wie NAMBLA hervorgebracht hat, besonders beliebt. Daran zeigt sich aber auch schon, dass solche Beispiele Augenwischerei sind. Päderastie, wie sie in der Antike zwischen Lehrern und Schülern herrschte, kennen wir aus dem Geschichtsunterricht. Es fehlt jeglicher Bezug zur Gegenwart. Die Vorstellung, dieses Modell könnte wieder zu einer gelebten gesellschaftlichen Realität werden, ist ziemlich grotesk. Weiter wird oft darauf hingewiesen, dass Beziehungen mit großem Altersunterschied (hier: zwischen sehr jungen Frauen und älteren Männern) noch im 19. Jahrhundert weit verbreitet gewesen seien: Sophie von Kühn und Novalis, Virginia Clemm und Edgar Allan Poe. Allerdings waren diese Beziehungen gerade nicht der Normalfall, bzw. sie waren nicht, was sich oft unter ihnen vorgestellt wird. Sophie von Kühn und Novalis verlobten sich, als sie dreizehn und er zweiundzwanzig war. Sie heirateten allerdings nie, weil Sophie nur zwei Jahre später erkrankte und starb. Virginia Clemm und Poe heirateten, als sie dreizehn und er siebenundzwanzig war. Bei der Eheschließung gaben sie für Virginia ein Alter von einundzwanzig Jahren an, wofür sie eine eidesstattliche Versicherung vorlegten. Sex hatten sie wahrscheinlich erst nach Virginias sechzehntem Geburtstag.

Historische Beispiele sagen nichts aus, wenn sie keinen Bezug zur Gegenwart aufweisen. Umgekehrt geht das Beispiel der beiden berühmten Paare völlig am Problem vorbei, weil beide Paare heute in Deutschland ganz legal eine Beziehung führen könnten, sofern Sophie von Kühn und Virginia Clemm nur ein Jahr älter wären. Vergleichbare Regelungen des Schutzalters (je nach Land 13–15 Jahre) gibt es in den meisten europäischen Staaten. Vierzehnjährige gelten nach heutigen Maßstäben nicht als Kinder und sind es auch ihrer gesellschaftlichen Position nach nicht. Anders ist es in den USA, wo teilweise absurde Bestimmungen zum Schutzalter existieren, die auf eine Kriminalisierung jugendlicher Sexualität hinauslaufen und damit Jugendlichen die sexuelle Selbstbestimmung verweigern. Auf diesen Missstand weist Delany im Interview mit Shetterly hin. Sein Engagement für NAMBLA mag das erklären, richtig wird es dadurch aber nicht. Ich halte es bestenfalls für naiv, anzunehmen, pädophilen Lobbygruppen wie NAMBLA gehe es ernsthaft um das Wohl von Kindern und Jugendlichen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen: Delany hat sich in mindestens drei Fällen über NAMBLA geäußert, zweimal wohlwollend über die Organisation selbst und einmal recht begeistert über die Publikationen der Gruppe. Die letztere Äußerung erweckt den Eindruck, als sei sie mit Hilfe von typographischen Tricks so zurechtgebogen worden, dass sie sich wie eine Lobrede auf die Organisation selbst liest. Delany steht NAMBLA unstrittig positiv gegenüber, aber drei Erwähnungen sind angesichts seines umfangreichen Werks nicht viel. Es hat nicht den Anschein, als sei Delany ständig mit NAMBLA beschäftigt; ein hauptamtlicher Propagandist für die Gruppierung ist er definitiv nicht. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass eine genauere Untersuchung von Delanys Veröffentlichungen und Interview-Aussagen eine nennenswerte Anzahl weiterer Erwähnungen NAMBLAs zu Tage fördert. Das wäre aber wahrscheinlich schon längst geschehen, wenn es solche Stellen gäbe. Alles in allem sehe ich keinen Grund, Delanys Stellungnahme in dem Interview mit Shetterly anzuzweifeln: dass er NAMBLA in den neunziger Jahren über die Publikationen der Gruppe kennengelernt hat, diese eine Zeit lang regelmäßig gelesen hat, sich aber seit ca. zwanzig Jahren nicht mehr mit ihr beschäftigt.

Ende 2013 verlieh SFWA Delany den Damon Knight Memorial Grand Master Award für sein Lebenswerk. Zusammen mit den jüngsten Enthüllungen über Marion Zimmer Bradley war das für Theo Beale ein willkommener Anlass, SFWA als »organization that celebrates child molesters and champions of child molestation« zu zeichnen, in der Delany die Rolle eines Gurus einnehme. Andere, wie das rechtskonservative Gemeinschaftsblog Mad Genius Club, stoßen ins gleiche Horn, indem sie Homosexualität mit Pädophilie in Verbindung bringen. Mittlerweile haben Beale und seine Fans begonnen, Namens- und Adresskarteien zu durchforsten, in denen wegen Kindesmissbrauchs Vorbestrafte aufgeführt sind, und gleichen sie mit dem SFWA-Mitgliederverzeichnis ab. Wie so oft, wenn es um sexualisierte Gewalt gegen Kinder geht, ist mancherseits mehr moral panic als Interesse an Aufklärung und Prävention zu verspüren. Besonders übel ist, dass die moral panic in diesem Fall auch noch eine spezifisch homophobe Komponente aufweist.

Jedoch offenbart diese bizarre Nebenentwicklung einer an sich sehr ernsten Angelegenheit mehr über Beale als über die, die er bekämpft. Genauer gesagt: Sie offenbart etwas über die Intelligenz von Beale und seiner Clique. Beale war nach eigenen Angaben vierzehn Jahre lang Mitglied von SFWA. Er kandidierte sogar für das Präsident_innenamt der Organisation, die ihm und seinen Fans zufolge so etwas wie die Dutroux-Bande des Fandoms ist. Nun ja. Man erlebt nicht alle Tage, wie jemand sich ins eigene Knie schießt und triumphierend verkündet, einen Volltreffer gelandet zu haben.

* Samuel R. Delany, Shorter Views: Queer Thoughts & the Politics of the Paraliterary, Wesleyan University Press 1999, S. 173. Das Werk, von dem Delany sich Einsichten versprach, ist natürlich das erwähnte von Foucault.
** Den Hinweis, dass es sich lohnen könnte, das Zitat aus dem Wikipedia-Artikel zu überprüfen, verdanke ich James A. Sullivan.
*** Carl Freedman (Hg.), Conversations with Samuel R. Delany, University Press of Mississippi 2009, S. 143.
† A.a.O., S. 144.
†† Jan Assmann im Gespräch mit Hannes Stein, Ist eine »Spiegel«-Titelgeschichte massiv antisemitisch? In: Die Welt, 13. Januar 2007.

Donnerstag, 10. Juli 2014

Die Seltsamen

Barbara Kirchner und Dietmar Dath erwähnen in Der Implex – und sie erwähnen darin vieles, denn es handelt sich um ein überaus geschwätziges Werk – jene romantisch gestimmten Seelen, für die
das Gründungsverbrechen der kapitalistischen, der modernen, der bürgerlichen Welt nicht die ursprüngliche Akkumulation [war], nicht die Enteignung der Kleinproduzenten, das Ansaugen andernfalls Chancenloser vom Land in die Fabriken, die Kinder- und Frauenarbeit, die Schuldgefängnisse, die einkalkulierten Arbeitsunfälle, die entrechtete neue Arbeit in den schmutzigen, gefährlichen, giftigen hohen Hallen der Industrie, sondern die Vertreibung der Feen.*
Man kann das weberianisch verstehen: Ohne Feen ist die Welt entzaubert, und die Aufgabe der Phantastik ist es folgerichtig, sie (zumindest partiell) wiederzuverzaubern. Diese Auffassung verkennt aber, dass die von den Romantiker_innen beklagte Vertreibung der Feen eine trickreiche Behauptung war. Wer sich die neuzeitliche Literatur vor 1700 ansieht, wird bemerken, dass sie weitgehend feenfrei war. Berühmte Ausnahmen (wie Shakespeare) gab es natürlich, aber in der Regel wurden Feen nur geduldet, wenn sie für Zwecke der Satire oder der moralischen Erbauung eingebunden werden konnten. Wenn die Romantik vom Verschwinden der Feen sprach, prangerte sie etwas an, was nie stattgefunden hat, und erreichte damit auf listige Weise, dass die Feen sich in der Literatur nach Belieben tummeln konnten. Aus dem im direkten Vergleich recht bescheidenen Feenreich der Folklore ist mit dem Anbruch der kapitalistischen Moderne ein Multiversum literarischer Feenreiche geworden. Darin sind Magie, Teufelsbeschwörungen, Elementargeister, wandelnde Tote und verzauberte Tiere omnipräsent, was zuvor niemand für möglich gehalten hätte (und was auch heute viele nicht für möglich halten wollen). Im Unheimlichen steckt das Heim, wie Freud bemerkte. Die magischen Wesen, die unsere Literatur bevölkern, sind in der modernen Welt ganz zuhause. Sie sind uns unheimlich und vertraut zugleich, weil sie ein vertrautes Charakteristikum unserer unheimlichen Gesellschaft sind.

Unabdingbare Voraussetzung dieser Entwicklung ist der technische Fortschritt, der allein es ermöglicht, dass wir die Feen in den letzten 200 Jahren nicht nur auf illustrierten Buchseiten, sondern auch auf Fotografien, auf der Kinoleinwand und in dreidimensionalen Pixelwelten gesehen haben. Walter Benjamin zitiert den Jubel des französischen Regisseurs Abel Gance, der seinen ersten Film 1911 drehte: »Alle Legenden, alle Mythologien und alle Mythen [...] warten auf ihre belichtete Auferstehung, und die Heroen drängen sich an den Pforten«. Benjamin bemerkt, dass Gance damit »ohne es wohl zu meinen, zu einer umfassenden Liquidation eingeladen« hat.** Beide hatten recht. Es gibt zwei homerische Epen – und es gibt hunderte Sandalenfilme, in denen pseudo-homerische Monstren und Heroen gegeinander antreten. Die technische Reproduzierbarkeit bewirkt das Verschwinden des Seltenen, Einzigartigen. So ist es auch mit den Feen: Sie sind heute keine flüchtigen Wesen mehr, sondern Reservearmee im Motivrepertoire der Kulturindustrie.

Stefan Bachmanns Debütroman stellt dieses Verhältnis auf den Kopf. In Die Seltsamen öffnet sich irgendwann (wohl zu Beginn des 19. Jahrhunderts) in der Stadt Bath ein magisches Portal, durch das die Feen in die Welt der Menschen strömen. Ein verlustreicher Krieg endet mit der Niederlage der Elfen, die in Slums gesteckt und zu niederen Arbeiten herangezogen werden. Fortan leben sie als Bürger_innen zweiter Klasse im britischen Königreich. Davon ausgenommen sind nur die aristokratischen Sídhe, denen sogar Kabinettsposten offenstehen. Die Menschen haben die Feen unterjocht, doch es gibt ein unberechenbares Element: Die Feen verfügen über Magie, die Menschen nicht, »und so stellten Professoren und Ärzte und alle großen Gelehrten ihre Fähigkeiten in den Dienst von Handwerk und Industrie«, um der Magie auf technologischem Wege Herr zu werden. Die Entfaltung der Produktivkräfte wird vorangetrieben, um den Fallstricken des Übernatürlichen zu entkommen. Eisen, Dampf und Federwerke sind das beste Mittel gegen Magie. Während Steampunk sich oft wenig mit seiner paradoxen Voraussetzung – einem viktorianischen Zeitalter auf dem technischen Stand des späten 20. Jahrhunderts – befasst, liefert Die Seltsamen eine ebenso aberwitzige wie plausible Erklärung für dieses Szenario.

Während in der wirklichen Welt also der Aufstieg des Kapitalismus für eine Invasion von Feen sorgte, bewirkt bei Bachmann die Invasion der Feen eine beschleunigte Industrialisierung. Ich muss gestehen, dass mir diese Idee Spaß bereitet. Durch sie lässt sich in einem fiktiven 19. das reale 21. Jahrhundet spiegeln. Konsequenterweise verhalten sich Bachmanns Figuren auch nicht wie Menschen des viktorianischen Zeitalters, sondern mehr oder weniger wie wir Heutigen. Das Viktorianische ist nur Fassade. Ich vermute, dass das eher aus Versehen passiert ist – wie in einem historischen Setting spielende Romane ja meistens mit hochgradig anachronistischen Charakteren aufwarten. Doch ist Die Seltsamen in seinen Zeitangaben ausgesprochen vage. Es wird weder verraten, wann genau das Feenportal sich geöffnet hat, noch der Zeitraum der Haupthandlung. Vielleicht ist in letzterem das 20. Jahrhundert schon längst angebrochen?

Zur Haupthandlung also. Sie folgt dem Parlamentsabgeordneten Arthur Jelliby (der viel zu bequem ist, um an seiner politischen Karriere zu arbeiten) und Barthy Kettle (ein Junge, der mit seiner Mutter und seiner Schwester Hettie in einem Feenslum lebt). Barthy ist ein ›Seltsamer‹, d.h. eines seiner Elternteile ist eine Fee, das andere ein Mensch. Die Seltsamen werden von Menschen wie Feen gehasst und gefürchtet, und zwar so sehr, dass sie sich kaum auf die Straße trauen können. Als ob das nicht schlimm genug wäre, treibt in Barthys Slum auch noch eine sinistre Gestalt ihr Unwesen und entführt Seltsame – darunter auch die kleine Hettie. Man merkt, worauf es hinausläuft: Barthy und Mr. Jelliby treffen aufeinander, bilden ein ungleiches Duo und versuchen die mysteriösen Entführungen aufzuklären.

Diskriminierung, Slumleben und misshandelte Kinder: Das klingt nach gewichtigem Material. Ist es bei Bachmann aber nicht, der im Grunde nur eine leichtfüßige Geschichte mit einfach gestrickten Charakteren erzählt. Am Vorbild Dickens interessiert ihn die Atmosphäre, nicht die Sozialkritik. Wo er heikle Themen berührt, dringt er kaum tiefer in sie ein. Da ist zum Beispiel die Ablehnung der Seltsamen durch den Rest der Gesellschaft. Ihre Ausgrenzung ist so absolut, dass keinerlei Erklärung für sie möglich scheint. Was Bachmann sich dabei gedacht haben mag, bleibt unklar. Dabei hätte er gerade mit der uneindeutigen Zugehörigkeit der Seltsamen thematisch Interessantes machen können. In einer in Nationalstaaten gegliederten Welt wie der unseren herrscht eine Zugehörigkeitsordnung, die auf Eindeutigkeit abzielt: Jeder Mensch muss einem nationalen Kollektiv angehören. Das gilt insbesondere in Deutschland. Gemäß dem biodeutschen Alltagsbewusstsein sind hierzulande lebende Menschen mit familiären Wurzeln in der Türkei keine Deutschen, sondern Türken. Irritiert wird dieses Bewusstsein, das nur ein »Wir« und ein »Nicht-Wir« zu erkennen vermag, insbesondere durch Menschen mit hybriden Zugehörigkeiten: Kinder, die teils biodeutscher, teils migrantischer Herkunft sind. Kinder aus migrantischen Familien, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Paul Mecheril schreibt dazu:
Von dem Idealtyp fragloser natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit weichen hybride Identitäten in einer signifikanten Weise ab. Hybride Zugehörigkeit irritiert, weil ihr Verhältnis zum Zugehörigkeitskontext uneindeutig bleibt. Diese Irritation wird in dem Augenblick zu einer Bedrohung der nationalstaatlichen Ordnung, wenn die Hoffnung auf Umwandlung der irritierenden Elemente in einschätzbare Ja- oder Nein-Partikel, Wir- oder Nicht-Wir-Teile aufgegeben werden muss und offenkundig ist, dass die un(zu)gehörige, den hybriden Erscheinungen eingeschriebene Allianz von Nähe und Ferne [nicht] zugunsten einer Entscheidung im Rahmen des binären Wir-NichtWir-Schemas aufgelöst werden kann. [...] Diese Uneinfügbarkeit irritiert nicht nur, sie bedroht, weil sie die Fraglichkeit des natio-ethno-kulturellen Ordnungssystems anzeigt und verkörpert. [...] Der Mehrfachstatus hybrider Anderer [...] wird von einer auf die Einwertigkeit sozialer Zugehörigkeit angewiesenen Ordnung hervorgebracht und von dieser Ordnung zugleich nicht anerkannt, weil Mehrfachzugehörigkeit das Ordnungsprinzip bedroht.***
Solche Überlegungen hätten einen Ansatz geboten, die Diskriminierung der Seltsamen zu einem relevanten Aussage zu machen, die auch im Romansetting mehr Sinn ergeben hätte. Leider Fehlanzeige. Bachmann versäumt es, dort Identitätskritik zu üben, wo er selber die Voraussetzungen dafür liefert.

Und was soll diese Rezension (mit viel Theorie-Checkerei und wenig sonst) nun sagen? Eben das: Die Seltsamen ist ein Buch, dass sich besser zum Betrachtungsgegenstand für akademische Cultural Studies als zum Schmökern eignet. Vielleicht lag das ja sogar in der Absicht des Autors, »einem besserwisserisch dreinblickenden Bildungsbürger-Wunderkind«, wie die Zeitschrift Eselsohr ätzte. Aber das ist bereits ein Zuviel an snarkiness für ein eigentlich recht harmloses Büchlein, zu dem mir nichts weiter einfallen will. Ach doch – wer hofft, dass dies ein in sich abgeschlossener Roman sei, wird enttäuscht werden. Die Fortsetzung soll im Herbst erscheinen.

Die Seltsamen (367 Seiten) ist 2014 bei Diogenes erschienen. Die Übersetzung besorgte Hannes Riffel.

* Dietmar Dath/Barbara Kirchner, Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee, Berlin 2012, S. 344.
** Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 2003, S. 14.
*** Paul Mecheril, Politik der Unreinheit. Ein Essay über Hybridität, Wien ²2009, S. 21. 

Mittwoch, 9. Juli 2014

MZB-Update

Triggerwarnung: Kindesmissbrauch, sexualisierte Gewalt.

Im Fall Marion Zimmer Bradley gibt es einige Neuigkeiten und klärende Hinweise sowie eine (wie ich finde) kontroverse Angelegenheit, der ich mich in einem weiteren Blogpost widmen will.

Da ist zunächst Deborah J. Ross, eine Autorin aus dem Kreis um MZB, die heute die Darkover-Reihe fortführt. Als die Nachricht von den Missbrauchsvorwürfen gegen Bradley einschlug, verschickte sie einen Tweet, den ich bereits in meinem ersten Blogpost zum Thema zitiert habe: »Only half the story is being told. Please be careful about believing sensationalist rumors online.« Vor zwei Wochen hat Ross sich nun dafür entschuldigt: »I was wrong about the story, and I was wrong to say what I did. I am deeply sorry for the pain I caused.« Das verstehe ich als Eingeständnis, dass das, was Ross in ihrem Tweet geschrieben hatte, schlicht falsch war.* Trotzdem hätte mich interessiert, was genau sie eigentlich meinte, als sie sagte, nur die Hälfte der Geschichte werde erzählt. Aber sei’s drum, vielleicht handelte es sich einfach nur um eine abwehrende Floskel.

In meinem ersten Post schrieb ich:
In den siebziger Jahren gründete MZB die Künstler_innenkommune Greyhaven. Sie sammelt eine Gruppe von Autor_innen um sich, mit denen sie in quasi-familiärer Weise zusammenlebte. Darunter sind Paul Edwin Zimmer (MZBs Bruder), Diana L. Paxson (die nach MZBs Tod den Avalon-Zyklus fortsetzte) und Elisabeth Waters (MZBs langjährige Lebensgefährtin und Sekretärin, die heute ihren Nachlass verwaltet).
Dabei habe ich mich von dem deutschsprachigen Wikipedia-Artikel über MZB leiten lassen, in dem es heißt: »Mit ihren Schwägerinnen Diana L. Paxson und Tracy Blackstone und ihrem Bruder Paul Edwin Zimmer wohnte sie in dem Schriftstellerhaushalt Greyhaven, später bis zu ihrem Tod in ihrem Haus Greenwalls, beides in Berkeley (Kalifornien).« Paxson hat nun darauf hingewiesen, dass diese Angabe nicht ganz zutrifft:
In 1971 I and my family bought a large house in Berkeley which we called Greyhaven. In addition to me, my husband and our son, the family included Marion’s mother and Marion’s younger brother and his wife and daughter. Since my husband had been unofficially adopted into the Zimmer family, I thought of Marion as my sister-in-law.
In 1973 Marion’s family moved into a house about a mile away which they called Greenwalls. Marion and her family never lived at Greyhaven. They did come here regularly for holidays and Sunday afternoon tea. The confusion between the two households arose because in 1983 Marion edited an anthology featuring stories by many of the people who used to come to discuss their writing around the tea table, and called it Greyhaven, since that was where the discussions took place.
Über ihr Verhältnis zu Bradleys und Walter Breens Kindern schreibt Paxson:
After living elsewhere for a number of years, both of Marion’s younger children have now returned to the Bay Area. Moira’s brother is currently living with us at Greyhaven. Moira herself lives in the area, joins us for family parties, and leaves her youngest son here for play-dates with his cousins. We at Greyhaven have done our best to provide a loving and supportive family. Moira has given me permission to quote the following:
“I would like to clarify for the sake of those who read the anthology Greyhaven that although our large, extended family often COLLECTED at Greyhaven in the Berkeley Hills, my mother’s house has always been called “Greenwalls.” … My brother and I often stayed at Greyhaven after school in the early grades, because it was a short walk from school, but we did not live there. The concept of Greyhaven as an extended family/writer’s colony exists to this day, as we meet for afternoon tea on Sundays as the decades roll past. Please do not assign any responsibility for my mother or father’s bad actions to those who lived at Greyhaven: if Diana had known what my mother or father was doing, it is likely she would have been on the phone with the police even faster than I was.”
Gut zu wissen, dass Moira Greyland und ihr Bruder in ihrer Kindheit wenigstens zeitweilig einen sicheren Ort hatten. Gut auch, dass mit Paxson wenigstens eine Person aus MZBs innerem Kreis nicht in den Chor der Anfeindungen und der Schuldabwehr einstimmt, wie sie bereits seit der Veröffentlichung von Bradleys und Elisabeth Waters’ eidesstattlichen Aussagen durch Stephen Goldin zu hören sind. Gewusst haben will Paxson aber auch nichts.

Der Marion Zimmer Bradley Literary Works Trust, der MZBs Nachlass verwaltet, hat sich mittlerweile zu Wort gemeldet. Und weiß natürlich ebenfalls von nichts. Gegenüber dem Guardian** sagte der Literaturagent Russell Galen, der den Trust vertritt:
Marion is deceased and we are not able to ask her about her side of the story, nor do we have any personal knowledge of the events that are being described. All we can say is that during the decades in which we worked with her, we found Marion to be a great friend and enormously kind person. She was much loved by many friends, especially in the literary community where she supported the careers of many writers at considerable personal expense. That’s just a statement of fact based on personal knowledge, and is not meant to be a response to these allegations ...
Das lasse ich mal kommentarlos so stehen. Gollancz, einer von MZBs Verlagen, kündigt an:
Allegations about Marion Zimmer Bradley have surfaced in the last couple of weeks, including a statement from her daughter, Moira Greyland, that she was sexually abused by her mother. Ms Bradley died in 1999 and therefore cannot answer these charges, nor are we in a position to comment on them; we are also mindful of the dangers of drawing a link between any writer’s personal life and their work. Further, we are aware that royalties from the sales of her work are mainly distributed between a range of charities, including Save the Children. We have considered carefully what response, if any, we – as publishers of her digital backlist – should make in this situation. We have decided that we will henceforth donate our income from sales of her Gateway e-books to Save the Children. We will be making no further comment on the matter.
* Oft genug bestehen Entschuldigungen von Personen des öffentlichen Lebens ja aus hirnerweichenden Formulierungen wie »Ich entschuldige mich, aber ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe«.
** Leider verschweigt der Guardian-Artikel, dass es vor allem Stephen Goldins, Deirdre Saoirsa Moens und Natalie Luhrs’ Bemühungen waren, durch die der ganze Fall überhaupt publik wurde.

Dienstag, 8. Juli 2014

Lest alte Fantasy: Der Zauberlehrling

Anfang 2012, wenige Monate nach dem Auffliegen des NSU, schrieb Fritz J. Raddatz einen Artikel für die Literarische Welt, in dem er den ›tiefen Staat‹ der Deutschen anprangert, den es in der Weimarer Republik gab und heute in der Berliner Republik gibt:
Es ist der Hass, den Heinrich Heine zeitlebens erfuhr; es ist der Hass, mit dem blutrünstige Offiziere Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordeten, den Publizisten Maximilian Harden halbtot schlugen; es ist der Hass, mit dem von Rittergutsbesitzern finanzierte Horden mordend durchs Land zogen, von einer Justiz unbehelligt die kriminelle Vereinigung »Organisation Consul« gründen und betreiben konnten; es ist eben jener Hass, mit dem anno 2011 Mordbuben – wieder von staatlichen Organen unbehelligt, geduldet, wenn nicht gar unterstützt – sich »Zwickauer Zelle« nennen durften, Brettspiele bastelnd, auf denen Juden ins KZ geschickt werden ...
Was Raddatz umtreibt, ist die Frage nach der Rolle der Intellektuellen in diesem mörderischen deutschen Schlamassel. Was haben sie dem faschistischen Hass entgegenzusetzen? Zornig bezeichnet Raddatz es als »Geschichtsklitterer-Quark«, wenn behauptet wird (wie Klaus Harpprecht und Golo Mann es getan haben), dass die demokratische Intelligenz der Weimarer Republik versagt habe. Und er holt zu einem Gegenschlag aus, dessen Stoßrichtung an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: Es seien allein die marxistischen Intellektuellen gewesen, die dem Aufstieg des Nazismus verwirrt oder sprachlos entgegen gesehen hätten. Walter Benjamins »Fehlurteile [würden] ein Glossar füllen«, und Bert Brecht habe sich in dieser Zeit, in der so viel auf dem Spiel stand, lediglich dafür interessiert, Texte von Hegel, Marx und Lenin zu diskutieren. Der Gruppe der »Ballonmützen-Wüteriche«, der »Rot-Front-Kämpfer in verschwitzter Arbeiterbluse« stellt Raddatz als leuchtendes Beispiel die bürgerlichen Linken gegenüber. Diese allein hätten früh ihre Stimme erhoben und unermüdlich vor dem kommenden Unheil gewarnt. Kästner, Tucholsky & Co. sind in Raddatz’ Augen die vorbildlichen engagierten Intellektuellen, deren Stimmen man »analytisch, warnend, manchmal gar prophetisch hören sollte«.

Es ist kein Zufall, dass er sich in diesem Zusammenhang ablehnend über Benjamin auslässt. Denn es sind ja gerade die von Raddatz so gelobten linksliberalen, bürgerlichen Autor_innen, (deren künstlerische Strömung um 1930 herum die Neue Sachlichkeit darstellte), denen Benjamin »linke Melancholie« attestierte. Ihr literarischer Aktivismus habe »mehr von Blähungen als vom Umsturz«, höhnte Benjamin in einer Kästner-Rezension. Nun finde ich durchaus, dass Benjamins Kritik der Neuen Sachlichkeit zu pauschal ausgefallen ist. Ossietzky und andere taten alles in ihrer Macht stehende, und sie bezahlten dafür mit Isolation, Verfolgung und oft auch mit ihrem Leben. Aber es ist leider nur allzu wahr, dass die linksliberalen Intellektuellen sich gegen Ende der Weimarer Zeit in einer Art Schockstarre befanden und teilweise wie hypnotisiert waren von dem Grauen, das auf sie zu kam. Niemand hat ihr Dilemma passender in Worte gefasst als Erich Kästner, als er über Tucholsky schrieb, er habe »mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten« wollen.

Raddatz hat recht, wenn er Parallelen zwischen den rechten Todesschwadronen der 20er Jahre und dem NSU sieht. Er hat zehnmal recht, wenn er die Behauptung, die Weimarer Republik sei an ihren Intellektuellen zugrunde gegangen, als Geschichtsklitterei bezeichnet. Die bürgerliche Demokratie in Deutschland wurde durch reaktionäre Eliten und eine auf dem rechten Auge blinde Justiz zerstört, die schon 1930 den Parlamentarismus ausgehebelt und durch ein autoritäres, antidemokratisches Präsidialregime ersetzt hatten, so dass im Grunde die Nazis bereits herrschten, bevor sie die Macht übernommen hatten. Keine noch so engagierten Intellektuellen mit Schreibmaschinen hätten sie aufhalten können. Die Nazis an der Machtübernahme zu hindern, dazu hätte es nicht weniger, sondern mehr Ballonmützen-Wüteriche, mehr Rotfront gebraucht – solche allerdings, die sich nicht unrettbar in stalinistische Intrigen, erschütternd falsche Faschismusanalysen oder sozialdemokratische Halbherzigkeiten verstrickt hätten. Und solche gab es nicht, weshalb auch niemand die Katastrophe aufhielt.

Erich Kästner war einer der wenigen neusachlichen Schriftsteller, die nicht fliehen mussten oder den Tod im KZ erlitten. Er blieb während der Naziherrschaft in Deutschland, als »Kulturbolschewist« geschmäht und mit Publikationsverbot belegt. Er gehörte definitiv nicht zu denen (die »Ofenhocker des Unglücks«, wie Thomas Mann sie nannte), die ihr apolitisches Duckmäusertum nach ’45 mit dem Euphemismus der Inneren Emigration belegten und laut darüber jammerten, dass die Emigrant_innen es doch viel einfacher gehabt hätten als die im Lande Gebliebenen. Repressionen bekam Kästner in Form von Bücherverbrennung und Gestapo-Verhör leibhaftig zu spüren. Und doch kann man sagen, dass er zwischen ’33 und ’45 ganz im Sinne des NS-Machtapparats funktionierte. Er schrieb viel, veröffentlichte regelmäßig unter Pseudonym und lieferte Drehbücher für die Ufa-Blockbuster, die während des Krieges für Heile-Welt-Stimmung im zunehmend verzweifelten Herrenmenschenreich sorgen sollten.*

Es fällt manchmal schwer, sich vorzustellen, welche Lebensformen unter der deutschen Diktatur möglich waren. Was war Kästner – Verfemter oder Angepasster? Sicher scheint mir zu sein, dass er in einer Art eisiger, lebensfeindlicher Einsamkeit existierte. 1940 schrieb er zwei »Briefe an mich selber«, wobei er betonte, dass es sich nicht um eine literarische Fiktion handelte, sondern tatsächlich um versiegelte, frankierte und abgeschickte Briefe, die der Autor an sich selber schickte. Darin fragt sich Kästner, wie es kommen konnte, dass er sich selber fremd geworden sei. Seine Antwortversuche klingen eher beschwörend als überzeugt. Vollends unheimlich wird es im Fragment »Die Doppelgänger«, das mit einem Suizidversuch des Protagonisten Karl beginnt. Der wird in letzter Minute vom Selbstmord abgehalten, und zwar durch einen Engel, der Karl den Auftrag erteilt, sich auf die Suche nach seinem Doppelgänger zu machen (da bricht das Fragment auch schon ab). Neben der Einsamkeit scheint das Doppelgängermotiv in Kästners Versuchen, während der NS-Zeit Prosa für Erwachsene zu schreiben, beherrschend gewesen zu sein. Briefe, »Die Doppelgänger« und der unvollendete Roman Der Zauberlehrling erschienen 1969 bei Atrium in einem Band. So weit ich weiß, war es Kästners letzte Buchveröffentlichung, die noch zu seinen Lebzeiten erfolgte.

Der Zauberlehrling spielt hauptsächlich im verschneiten Davos, in dem allerdings kein Welttheater im Sanatorium mehr gespielt wird, sondern eher ein phantastisch-komisches Verwirrspiel. In einem von Wintersport, Tourismus und Parties geprägten Ort treffen ein Scharlatan, ein entthronter Gott, eine junge Schriftstellerin und verschiedene enttäuschte Liebende aufeinander. Im Mittelpunkt steht der junge Kunstgelehrte Mintzlaff, der auf dem Weg nach Davos auf einen Reisenden trifft, der über die Fähigkeit des Gedankenlesens und andere mysteriöse Kräfte verfügt. Baron Lamotte, wie der Fremde sich vorstellt, geht mit Mintzlaff einen Pakt ein: Er wird Mintzlaff erst in Ruhe lassen, wenn er seinen, des Barons, wahren Namen herausfindet. Lamotte (den wahren Namen verrate ich hier natürlich nicht) ist also eine Mischung aus Mephisto und Rumpelstilzchen – und doch keins von beiden. Eines jedenfalls stellt er unmissverständlich klar: »Kommen Sie mir jedoch nicht mit der Gattung ›Übermensch‹! Ich bin kein Mensch, kein Un- und kein Übermensch. Behalten Sie das tunlichst im Auge!«

Auch Mintzlaff ist kein faustischer Tatmensch. Er ist sich seiner selbst zutiefst unsicher und leidet eher passiv, statt die Initiative zu ergreifen. Der Pakt mit dem Baron schreckt ihn aus seiner falschen Ruhe auf. Lamotte blickt ihm in die verstörte Seele:
»Sie haben die letzten zehn Jahre Ihres bisherigen Lebens sorgfältig darauf verwendet, Ihr wahres Wesen zugrunde zu richten.« Die Stimme des Barons klang ernst. »Ihre Energie ist bewundernswert. Sie wollten sich erziehen. Und Sie haben sich erzogen! Sie waren einmal ein empfindsamer Mensch und konnten lieben. Wenn anderen Leid widerfuhr, litten Sie mit ihnen. Sie halfen, ob man sie gerufen hatte oder nicht. Sie hatten keine Angst, sich selber zu verlieren. Damals hatten Sie noch Gefühl im Leibe und spürten, daß man nicht ärmer wird, wenn man sich verschenkt.«
Der so gar nicht faustische Pakt mit Lamotte ist genau das, was der in seiner Menschlichkeit beschädigte Mintzlaff braucht. In diesem Pakt geht es nicht darum, die Seele aufs Spiel zu setzen. Mintzlaff hat seine Seele bereits verloren, und nun erhält er die Chance, sie zurückzugewinnen. Ob Kästner in seinem Leben jemals eine solche Chance sah?

Der Zauberlehrling hätte der Roman der Inneren Emigration werden können, wie Fabian der Roman der späten Weimarer Republik war. Es erscheint mir durchaus angemessen, dass Kästner dazu die Form der phantastischen Erzählung wählte, wie er für Fabian die Form des realistischen Stadtromans wählte. Was sich zwischen ’33 und ’45 in Deutschland ereignete, übersteigt die Ausdrucksmöglichkeiten des formalen Realismus.** Vielleicht musste Kästner damit scheitern, wie zuvor die Neue Sachlichkeit in ihrer Verteidigung der bürgerlichen Republik gescheitert war. Dennoch: Es gilt, den phantastischen Erzähler Kästner wiederzuentdecken.

P.S.: Ich will in Zukunft noch mehr »Lest alte Fantasy!«-Posts schreiben. Meist wird es um Werke gehen, die herkömmlicherweise nicht als Fantasy bezeichnet werden – weil sie zu alt oder zu hochliterarisch sind. Aber von solchen Skrupeln werde ich mich natürlich nicht beeinflussen lassen.

* Unter anderem arbeitete er am Drehbuch von Münchhausen (1943) mit, dem ultimativen deutschen Fantasyfilm der NS-Ära.
** Auch Ernst Jünger, selber Faschist, stellte die NS-Zeit in der Form eines phantastischen Romans dar: Auf den Marmorklippen (1939).

Freitag, 4. Juli 2014

Tolkienwulf

Seamus Heaney’s poetic translation or rendering of Beowulf has garnered the nickname Heaneywulf; but I will immediately concede that J. R. R. Tolkien probably did not infuse equally much original invention into his prose translation to merit the analogue Tolkienwulf. (Whether this would or will stand for his own fragmentary poetic translation remains somewhat unclear – that translation is not included in the present edition, without comment on reasons for its exclusion.)

To my knowledge, Beowulf: A Translation and Commentary has not made a big splash (yet?), one month after its publication. Which is perfectly understandable: It is a dense matter, necessitating close reading, and is most properly evaluated by Anglo-Saxonists. To be clear: I am not yet through with it, and this is not a full review. But I can give an idea of what this edition has to offer.

The book includes a complete prose translation of Beowulf, commentary on its first half drawn from lecture notes, Tolkien’s ‘reconstruction’ (titled Sellic Spell) of the fairy-story he assumes to underlie Beowulf, and a (in relation very much shorter) adaptation of the matter of Beowulf into a ballad.

To address a plausible concern: Can this edition be enjoyed without prior knowledge of Beowulf and Old English? Well, I very much guess so. All passages not in Present-Day English are provided with a translation. The commentary actually is quite accessible, and allows to really dig into the background of the poem. It clarifies the connections behind the text both in major and minor matters.
A prose translation of Beowulf has the obvious (at least, potential) advantage of being more readable – and it is! The non-truncated presentation of a flowing text, mostly even in quite ordinary syntax, can be followed. Furthermore, according to the Tolkiens, Old English poetry was syntactically quite close to prose, which is then adequately reflected in this translation. Nevertheless, the text is still deeply rhythmic.
Another remarkable feature is how this edition demonstrates and reflects on the variety of poetic styles which were Tolkien’s trade. I have remarked before on Tolkien’s description and mastery of the different characteristics of Old English and Norse poetry; here, it is again superbly elucidated and exemplified.
As ever, the editor [Christopher Tolkien] lets glimpses of his personality shine through. At 90 years of age, this becomes rather touching: he clearly recalls his father singing the ballad to him “when I was seven or eight years old” (p. 416) — “my first acquaintance with Beowulf and the golden hall of Heorot” (p. xiii). I could go on and on about the unique symbiosis of Tolkien sen. and jun.!
The book design of this edition fits well enough with the informal series of epic poetry editions (Sigurd & Gudrún, The Fall of Arthur). Basing the cover and interior artwork on Tolkien’s own drawings adds unique charm, and the blue cover and burgundy endpapers combine into a goergeous flair of luxury. A major quibble with the typography is that line references to the original poem and to the translation are disambiguated by font size; hence, the commentary is littered with incongruous-looking digits.

Obviously, in this scholarly work one does not encounter Tolkien’s tendency of appropriating legendary matter into his legendarium. But true to form, Sellic Spell exhibits Tolkien’s tendency to creatively fill the gaps in our understanding of ancient lore. As has been pointed out before, he brought nearly as much poetic intuition as scholarly erudition into his work. Or, to state it in a manner more compromising to the science of philology: With poetic intuition, he brought unique visions out of his scholarly work.

I wonder, though: who’s the audience of this peculiar book?

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.